Zehn Jahre nach dem Niedergang des Kommunismus weisen die jüdischen Gemeinschaften in den Ostblockstaaten, welche die Freiheit und die Unabhängigkeit wieder erlangt haben, eine Gemeinsamkeit auf: die Mitglieder, die ausreisen wollten, sind ausgewandert, sobald dies möglich war. Diejenigen, die immer noch dort wohnen, versuchen ein jüdisches Leben und Gemeindestrukturen zu errichten, die ihnen eine freie Entfaltung ihrer jüdischen Identität ermöglichen.
Die Geschichte der jüdischen Präsenz in Estland reicht fast ins 16. Jh. zurück, und auch hier haben die Juden, wie in allen baltischen Staaten, unter dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus gelitten. Doch im Gegensatz zu Litauen und zu Lettland besitzt die jüdische Gemeinschaft von Estland keine orthodoxe Tradition und stand immer zwischen dem traditionellen und dem liberalen Judentum.
Unter sowjetischer Besatzung wurde keine einzige Form des jüdischen Lebens toleriert, nur eine kleine Synagoge durfte bestehen bleiben, die in einem alten, von den Behörden zur Verfügung gestellten Gebäude untergebracht war. Dies ist der Hauptgrund dafür, weshalb die in Estland lebenden Juden ihre jüdische Identität verloren haben, sie vergassen ihre Sprache, ihre Kultur und ihre Geschichte. Der letzte estnische Rabbiner, Aba Gomer s.A., wurde 1941 von den Nazis ermordet, so dass seither das Land ganz ohne Rabbi auskommen musste. Mit dem Aufkommen von Glasnost und Perestroïka machte sich allmählich und schüchtern wieder jüdisches Leben bemerkbar.
Dies alles gehört nun zwar einer schmerzlichen Vergangenheit an, die Gegenwart schlägt glücklicherweise eine ganz andere und viel positivere Richtung ein. Vor anderthalb Jahren liess sich nämlich ein 25-jähriger, sympathischer und vor allem sehr dynamischer junger Mann in Tallinn nieder, der Grossrabbiner SHMUEL E. KOT, Anhänger der Lubawitscher Bewegung. Wir haben ihn gefragt, mit welcher Einstellung er seiner neuen Aufgabe nachkommt, die zur Zeit noch recht schwer aussieht. Wie immer sieht es eine Gemeinde, deren Verantwortliche es gewöhnt sind, nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, nicht gern, wenn ein Rabbiner eintrifft. Im Allgemeinen führt dies zu Schwierigkeiten, Einschränkungen, ja sogar zu Änderungen der bequemen alten Gewohnheiten. Grossrabbiner Kot wurde ja nicht von der lokalen Gemeinde eingestellt, seine Arbeit wird von amerikanischen und israelischen Spendern finanziert, von den Familien Rohr und Levaïew. Er hat aber Gemeindeverantwortliche angetroffen, die letztendlich begriffen haben, dass seine Anwesenheit und Tätigkeit eine grosse Chance für ihr Fortbestehen darstellen und die ihn daher mit viel Sinn für Offenheit und Zusammenarbeit empfangen haben.
Sie haben sich vor ca. zwei Jahren mit Ihrer jungen Frau in Tallinn niedergelassen. Was haben Sie als Erstes unternommen und welche Gedanken beherrschen Ihre Arbeit?
Vor einer Antwort möchte ich an dieser Stelle der Leitung der Gemeinde ein grosses Lob aussprechen: sie haben mich nicht nur herzlich empfangen, sie helfen mir auch sehr bei meiner Tätigkeit.
Bei meiner Ankunft gab es nur eine winzige Synagoge in einem alten Gebäude, das zum Teil ein Opfer der Flammen geworden war und stark nach Verbranntem roch. Das Judentum ist aber zu schön, um in diesem Rahmen gefeiert zu werden. Da ich den Zugang zu unseren verschiedenen Treffen möglichst angenehm gestalten und für alle zugänglich machen wollte, bat ich die Gemeinde um Hilfe, die sich bereit erklärte, den zweiten Stock im Gemeindehaus zu räumen und mir einen Saal zur Verfügung zu stellen, um dort eine neue Synagoge einzurichten. Am 21. Dezember 2000, am ersten Abend von Chanukkah, haben wir die Einweihung unter dem Beisein des estnischen Premierministers gefeiert. Gegenwärtig strebe ich das Ziel an, möglichst viele Menschen am Gemeinschaftsleben zu beteiligen. Ich bin mir der Situation durchaus bewusst. Ich weiss, dass zahlreiche Dinge der jüdischen Gesetzgebung und sogar den Traditionen nicht entsprechen, wie z.B. schon nur die Tatsache, dass die Schule an Feiertagen nicht geschlossen ist, doch ich kann und will die Welt nicht auf den Kopf stellen. Man muss sich klar machen, dass ich nur "mit den Fingerspitzen" akzeptiert wurde und dass meine Anwesenheit beunruhigt. Eigentlich beschränkt sich mein Tun darauf, jedem die Gelegenheit zur Teilnahme an Aktivitäten zu geben, die ihm ein echtes jüdisches Leben ermöglichen. Dahin führt nur ein einziger Weg: man muss über ein Mindestmass an Wissen verfügen. Es ist leicht, das Judentum abzulehnen, wenn man es nicht kennt. Wenn man aber einmal weiss, worum es geht, dann ist jeder frei, sich nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden. Genau das biete ich an, und so wird auch meine Arbeit wahrgenommen und akzeptiert. Heute wissen alle, dass meine Tür jederzeit offen steht, ich habe Russisch gelernt und nehme Unterricht in Estnisch. Es ist sehr wichtig, sich in dieser Sprache unterhalten zu können, denn obwohl ein grosser Teil der jüdischen Gemeinschaft russischer Abstammung ist, haben die Sowjets negative Erinnerungen hinterlassen. Die Tatsache, Estnisch zu lernen stellt eine symbolische Tat der Anerkennung dar in Bezug auf die Unabhängigkeit des Landes. Zu Beginn kamen nur einige ältere Menschen in die Synagoge, weil sie sich an ihre Jugend erinnerten. Heute zählen wir am Schabbat jeweils zwischen 40 und 50 Personen, und an den Feiertagen liegt die Zahl deutlich höher; am vergangenen Rosch Haschanah z.B. besuchten 250 Leute die Synagoge, und Ende Mai haben wir mehrere Bar- und Bnot-Mitzwoth gefeiert. Ich veranstalte auch Abendessen am Schabbat, Kiddusch-Lunchs usw. Da die meisten, die an unseren Gottesdiensten teilnehmen, natürlich kein Hebräisch lesen können, habe ich eine kleine Broschüre in Lautschrift und mit Übersetzungen herausgegeben, damit jeder dem Gottesdienst folgen kann ohne sich ausgeschlossen zu fühlen. Ausserdem profitieren wir wegen der grossen russischsprachigen Gemeinschaft, die zu uns gehört, von allen in Russland publizierten Werken, insbesondere von den Büchern der Organisation SHAMIR (siehe SHALOM Nr. 8) von Professor Hermann Branover, der eine aussergewöhnliche Zahl von jüdischen und frommen Büchern veröffentlicht.
An Pessach habe ich ein Seder in einem grossen Saal organisiert, an dem 650 Menschen teilnahmen. An Purim habe ich eine estnische Theatertruppe gebeten, uns die Geschichte vom Purim-Wunder vorzuspielen. Ich kündigte den Abend in der lokalen Presse auf Russisch und Estnisch an und es sind ca. 850 Personen zu uns gestossen. Unsere grösste Feier fand jedoch am 24. Oktober 2001 statt. An diesem Tag haben wir unseren neuen Sefer Torah eingeweiht. Es war eine sehr würdige Feier, an der unter anderen der israelische Botschafter, der Präsident Estlands, der Premierminister, verschiedene Minister, der Parlamentsvorsitzende, Abgeordnete, einige Grossrabbiner und Rabbiner aus verschiedenen Republiken der ehemaligen UdSSR, der deutsche Botschafter, der Erzbischof und natürlich alle unsere Honoratioren der Gemeinde anwesend waren. Es war ein erhabener Moment.
Glauben Sie, dass jeder Jude in Estland heute dank Ihrer Tätigkeit weiss, dass es eine Anlaufstelle für alles gibt, was mit Themen rund um das jüdische Leben zu tun hat?
Selbstverständlich, und bei mir treffen übrigens Anliegen ein, die von der einfachen Frage nach einem jüdischen Datum des Yahrzeit (Tag der Erinnerung an den Tod eines nahen Verwandten) bis zu komplizierteren Fragen betreffend das Judentum im Allgemeinen oder zum Privatleben eines Juden reichen. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn Menschen, die eine gemischte Ehe eingegangen sind und deren Kinder daher nicht jüdisch sind, ihre Situation regeln möchten. Andere wollen ganz einfach Kurse besuchen, um die Traditionen und ihre Bedeutung kennen zu lernen.
Treffen Anfragen in Bezug auf Konvertierungen ein, und wenn ja, führen Sie diese auch durch?
Bis heute ist mir ein einziger Fall bekannt. Es handelte sich um einen jungen Mann von rund zwanzig Jahren, der in der Gemeinde aktiv war und dessen Mutter keine Jüdin ist. Er kam kürzlich zu mir um mir mitzuteilen, er wolle zum jüdischen Glauben übertreten. Ich gab ihm ein Buch über das Judentum und die Bedingungen für die Konvertierung zu lesen und riet ihm, sich diesen Schritt vorher gut zu überlegen und mich im Verlauf seiner Überlegungen regelmässig zu Gesprächen aufzusuchen. Er fühlt sich als Jude. Wenn er darüber hinaus ein Jude werden will, der gemäss den Vorschriften der Halachah (Gesetzgebung) akzeptiert wird, ist dies seine Entscheidung und ich werde ihm dabei beistehen. Denn sonst wird er sich weiterhin als Jude fühlen ohne es je ganz zu sein. Wir werden gute Freunde bleiben. Ich führe Konvertierungen allerdings nicht persönlich durch. Ich kann die betreffende Person darauf vorbereiten und sie dann in eines der grossen europäischen Zentren schicken, wo dies auf Grund meiner Empfehlung geschehen kann.
Etwas ganz Konkretes: sind Sie in der Chewrah Kadischah (Bestattungsgesellschaft) aktiv?
Alles rund um die Trauer wird noch nicht hundertprozentig gemäss den strengen Vorschriften durchgeführt, insbesondere was die Waschung der Toten angeht (Taharah). Ich versuche eine Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen in die Wege zu leiten, damit sich Einiges ändert, doch im Moment stehen wir erst am Anfang unserer Gespräche. Ich kann von Fall zu Fall und je nach Wunsch der Familie eine traditionelle Taharah durchführen. Die eigentlichen Beerdigungen werden hingegen streng nach traditionellen Regeln vollzogen.
Wie sehen Ihre Beziehungen zur Schule aus und welche Tätigkeiten bieten Sie allgemein im Bildungsbereich an?
Die Schule ist eine staatliche Institution, die allen offen steht. Die jungen Leute, die sie besuchen, werden in alle jüdischen Sitten und Gebräuche eingeführt und erhalten einige Stunden Unterricht in Hebräisch. Meine Frau lehrt dort Hebräisch und jüdische Fächer in enger Zusammenarbeit mit den beiden Lehrer, die vom israelischen Erziehungsministerium entsandt wurden. Auch ich unterrichte an der Schule, vor allem die Jugendlichen, die ihre Bar- oder Bat-Mitzwah vorbereiten. Es ist eine sehr komplexe Situation, da die meisten Kinder ganz einfach nicht jüdisch sind und die Eltern sie in diese Schule schicken, weil sie klein ist und es keine Gewalt gibt. Natürlich entscheide nicht ich darüber, wer es nun ist und wer nicht. Ich arbeite mit allen und die Entscheidungen werden auf natürliche Weise gefällt. Die Kinder lernen aber Hebräisch auf recht effiziente Art. Daneben habe ich für all jene, die es wünschen oder die die jüdische Schule nicht besuchen, eine Reihe von Kursen am Sonntag ins Leben gerufen, in denen ich die Grundlagen des Judentums vermittle. Auf breiterer Ebene habe ich im vergangenen Jahr ein Ferienlager für Teenager organisiert. Als ich ankündigte, es werde kein gemischtes Lager sein, sondern getrennt nach Knaben und Mädchen, löste dies zunächst allgemeine Heiterkeit aus. Merkwürdigerweise trafen aber zahlreiche Anmeldungen ein und alle haben herrliche Ferien verbracht. Meine erzieherische Tätigkeit bezieht sich auch auf zwei weitere Teile der Gesellschaft. Einmal pro Woche, am Freitagabend vor dem Gottesdienst, versammle ich die Studenten, um mit ihnen über das Judentum zu sprechen und den Schabbat gemeinsam zu beginnen. Andererseits erinnern sich, wie ich bereits erwähnte, die älteren Leute noch an das Judentum, während die Jugend es erst entdeckt. Zwischen beiden Altersgruppen liegt eine ganze Generation, die Menschen zwischen 30 und 55, die eine sowjetische Erziehung erhalten haben, in der das Judentum keinen Platz besass. Einmal wöchentlich veranstalte ich für diese Gruppe eine Reihe von Kursen und Vorträgen. Dabei werden sowohl rein technische Fragen, wie den Aufbau des Gebets und seine Bedeutung oder die Zusammensetzung einer Schachtel für Tefillin (Gebetsriemen), als auch philosophische Themen behandelt.
Wie müssen Sie vorgehen, um koschere Lebensmittel zu bekommen?
Dieses Problem betrifft nur sehr wenige Leute. Ich besitze zwar eine Ausbildung als Shochet (ritueller Metzger), doch gegenwärtig ist es nicht möglich, eine rituelle Schlachtung nur für zwei Hühner zu organisieren. Fleisch und Geflügel stammen aus Riga oder Helsinki, ausserdem fliegen wir eine Reihe von Lebensmitteln aus Israel und Frankreich ein. In einem Nebenzimmer der Synagoge habe ich einen Saal mit einer streng koscheren Küche eingerichtet, denn leider kann ich mich nicht an die Schulküche wenden, da diese noch nicht koscher ist. Wir haben unsere neue Küche anlässlich des Besuchs der israelischen Delegation am Eurovision-Wettbewerb eingeweiht, darunter insbesondere der Star Sarit Haddad, mit der wir ein paar wunderbare Momente verbrachten. Dazu muss auch betont werden, dass ich auf allen Ebenen direkt mit den anderen Rabbinern der Region zusammenarbeite, seien sie nun in Riga, Vilna, Helsinki oder St. Petersburg. Für die Beschneidungen lassen wir einen spezialisierten Arzt aus Israel oder einen Mohel aus Moskau kommen.
Wie wir sehen, ist die Begeisterung des Grossrabbiners Kot ebenso gross wie seine Liebenswürdigkeit und sein ausgeprägter Sinn für Eigeninitiative. Er weiss sehr wohl, dass er einfach erfolgreich sein muss, denn die Herausforderung, mit der er kämpft, besteht im Grunde aus der Schaffung und dem Aufbau eines echten jüdischen Lebens, dank dem diese Gemeinschaft wieder zuversichtlich in die Zukunft blicken kann. Mit bescheidenen Mitteln gelingt es, viele Dinge zu unternehmen und sich vor allem von jenen helfen zu lassen, die von seiner Ankunft nicht sonderlich angetan waren.
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