News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Kunst und Kultur Herbst 2002 - Tischri 5763

Editorial - September 2002
    • Editorial

Rosch haschanah 5763
    • Neues Leben - Neue Hoffnung

Politik
    • Veränderung erwartet

Interview
    • Strenge und Pragmatismus
    • Demokratie und Scharia

Strategie
    • Die richtige Wahl

Medizin
    • Hingabe - Initiative - Erneuerung

Reportage
    • Leben retten!
    • Vorsicht und Vorbeugung

Judäa-Samaria-Gaza
    • Har Chevron

Wirtschaft
    • Kata

Estland
    • Jerusalem und Tallinn
    • Einzigartiges Schicksal
    • Esti Pea Rabi
    • Stalins Kreis
    • Kampf und Ungerechtigkeit
    • Vergangenheit und Gerechtigkeit!

Finnland
    • Jerusalem und Helsinki
    • Helsingin juutalainen seurakunta
    • Dilemma und Loyalität
    • Das Schicksal der jüdischen Kriegsgefangenen

Kunst und Kultur
    • Das persische Herz

Ethik und Judentum
    • Pflicht zur Solidarität

Artikel per E-mail senden...
Das persische Herz

Von von Pierre Abensur *
Im Musée d'art et d'histoire du Judaïsme von Paris findet bis zum 15. September 2002 eine faszinierende Ausstellung mit Fotos von Juden aus dem Iran statt. Die jüdische Gemeinschaft des Irans lebt seit rund 2'500 Jahren in diesem Land und ringt sich deshalb nur schwer zum Exil durch, auch wenn die unsichere Lage sie belastet. Die iranischen Juden sind stolz auf ihre Herkunft und berufen sich daher nachdrücklich auf ihre Wurzeln auf persischem Boden.
Der Reporter berichtet: "Es sind die Leute aus Isfahan, die an jedem Samstagmorgen die halbe Stadt zu Fuss durchqueren, um nach Jamborey, in das ehemalige jüdische Ghetto, zu gehen, und dort Schabbat in alten Familiensynagogen zu begehen, die zwar zerfallen, aber in ihrer Bescheidenheit immer noch schön sind. Es ist dieser Mann, der in einer Hand die iranische Fahne und in der anderen eine Iris hält, die Blume, die das Land symbolisiert, und dabei mit zerknirschter Miene vor dem Mausoleum von Ayatollah Khomeini posiert, umgeben von den Porträts des verstorbenen Imam, während dreizehn seiner Glaubensbrüder der Spionage angeklagt werden und die Todesstrafe fürchten müssen. Es ist auch dieser Direktor eines Erholungsheims, der in makellosem Französisch versichert, dass der Iran eine grosse Nation mit einer vielversprechenden Zukunft - auch für die Juden - bleibe, da das Land "seine kulturelle Wiedergeburt" noch nicht erlebt habe."
Im September 1999 ist die jüdische Gemeinde des Irans immer noch erschüttert von der Tatsache, dass im Juni dreizehn Juden verhaftet wurden, denen man Spionage vorwirft. Die Todesstrafe, die der Justizminister, ein Hardliner des Regimes, mehrmals angesprochen hat, wirft die Frage nach der Zukunft der 25'000 Menschen auf, deren Vorfahren seit zweieinhalb Jahrtausenden in diesem Land leben. Der Empfang durch die Verantwortlichen der Gemeinde fällt eher kühl aus, ihr Präsident ist nicht begeistert angesichts des Rummels um diese Angelegenheit. Er ist der Ansicht, dass die im Ausland lancierten Aktionen die Regierung veranlassen werden, ihre Position zu verhärten, um ihre Souveränität zu bekräftigen, was sich negativ auf das Schicksal der Gefangenen auswirken kann.
An Rosch Haschanah ist die Synagoge Yussef Abad bis auf den letzten Platz besetzt. Das islamische Regime hat die Gemeinde wieder um diese Kultstätten zusammengeschweisst, da sie wichtige Treffpunkte darstellen. Das unaufhörliche Stimmengewirr während des Gottesdienstes ist übrigens ein sicheres Zeichen für das Bedürfnis der Gläubigen miteinander zu kommunizieren. Dr. Elyassi, jüdischer Abgeordneter im iranischen Parlament, wünscht seinen Glaubensbrüdern ein gutes neues Jahr, doch seine Worte werden nur mit magerem Applaus bedacht. "Er muss schlecht über Israel und die USA reden, wo wir doch alle Geschwister oder Kinder dort haben", flüstert ein Anwesender, der die Notwendigkeit eines jüdischen Vertreters in der Politik hinterfragt, der dermassen von der Macht abhängig ist.
Die Feier wird im Haus einer Familie von Händlern im Norden Teherans fortgesetzt. Der Fernseher (Satellitenschüssel sei Dank) ist auf einen israelischen Sender eingestellt, auf dem eine Show ausgestrahlt wird. Die Mutter spricht in ängstlichem Ton von den Bassidschis (islamische Bürgermiliz) und schaltet auf ein iranisches Programm um. Die Beziehung zwischen der ältesten Tochter und ihrem Mann scheint gespannt zu sein. Das Paar möchte auswandern, kann sich aber nicht über die Destination einigen. Sie möchte zu ihrem Bruder in die Vereinigten Staaten ziehen, er zu seinen Schwestern, die in Israel leben. "Sie war dabei abzureisen, als er sie anflehte, ihn zu heiraten...", erzählt der Vater missbilligend. Er gibt auch zu, dass viele weitere wichtige Entscheidungen zu ungelegener Zeit gefällt wurden. Er erinnert sich: "Es war 1978, ich hatte soeben mein Geschäft zu einem guten Preis verkauft und wir wollten nach Israel auswandern. In diesen letzten Wochen vor unserer Abreise weinte meine Frau jeden Tag, sie schwor, der Iran sei unser Land und wir würden anderswo unglücklich werden. Ich gab nach und steckte mein Geld in ein Geschäft im Norden der Stadt, doch einige Wochen später brach die Revolution aus... Heute könnte ich meinen Laden nicht einmal für einen Drittel der Summe verkaufen, die ich bezahlt habe (300'000 Dollar)."
Zwei Tage später herrscht einen Abend lang Feststimmung. Im Hochzeitssaal spielen sich in der Garderobe bei den Frauen aufsehenerregende Metamorphosen ab, sie legen den Tschador ab und erscheinen plötzlich in wenig islamischen Abendkleidern. Drinnen tanzen die Gäste zu beliebten iranischen Songs und zu Technomusik in ohrenbetäubender Lautstärke. Nasser traut seinen Augen nicht. "Anlässlich meiner eigenen Hochzeit im Jahr 1988 hatte ich zu Hause eine kleine Einladung mit meiner Familie und einigen Freunden organisiert. Die Musik ertönte nur gedämpft und kein Mensch dachte ans Tanzen. Und trotzdem standen um elf Uhr plötzlich Bassidschis bei mir vor der Tür und brachten mich auf den Polizeiposten, wo ich die ganze Nacht verbrachte. Zu diesem Zeitpunkt haben wir beschlossen das Land zu verlassen". Nasser lebt heute in Kalifornien und ist geschäftlich recht erfolgreich, doch der Iran fehlt ihm und er schliesst die Möglichkeit nicht aus, eines Tages hierher zurückzukehren, falls das Land zu einer echten Demokratie wird.
Im ehemaligen jüdischen Viertel im Süden der Stadt gehört das Spital Doktor Sappir noch der Gemeinde, doch die meisten Patienten und Angestellten sind Moslems. Seit mehreren Jahrzehnten haben die Juden diesen alten und heruntergekommenen Stadtteil verlassen und sind in neuere und weniger verschmutzte Quartiere im Norden gezogen. Zu den noch praktizierenden jüdischen Ärzten gehört auch Dr. Mohaber, Chirurg und General der iranischen Armee im Ruhestand. Als sich seine Karriere in den 1970er Jahren zwischen Israel und den Vereinigten Staaten entwickelte, bot man ihm an, sich dem Chirurgenteam anzuschliessen, das den Schah von Iran in Wien operieren sollte. Einige Jahre später wurde er anlässlich eines Familienbesuchs von der Kaiserin in den Palast gerufen, die ihn fragte, ob er die Leitung des neuen Militärspitals übernehmen wolle. Trotz der Revolution übt er seine Funktion immer noch aus; im Krieg gegen den Irak hat er über 1'200 Operationen durchgeführt und ist bis heute der einzige Jude unter den höheren Offizier der islamischen Republik Iran.
In der Synagoge Ketter David in Isfahan werde ich dem Vater des jungen Mannes vorgestellt, der in Shiraz im Gefängnis sitzt; er berichtet Folgendes: "Die Soldaten drangen um drei Uhr früh in unsere Wohnung ein. Nachdem sie das gesamte Haus durchsucht hatten, haben sie Navi mitgenommen und versichert, er sei im Laufe des Morgens wieder zurück. Seither schliesst meine Frau kein Auge mehr."
In Shiraz möchte mir der Chef der Ministerialabteilung für islamische Führung die umfassende Mitarbeit seines Dienstes zusichern, indem er mir einige Fremdenführer zur Verfügung stellt, die mir bei meinen Nachforschungen helfen sollen. Da ich mich dieser lästigen Begleitung nicht entledigen konnte, beschloss ich meinen Aufenthalt zu verkürzen.
Meine Rückkehr nach Teheran fällt auf die Woche, in welcher der hundertjährige Geburtstag von Ayatollah Khomeini gefeiert wird. Nach dem Empfang mehrerer Regierungschefs aus dem Ausland widmet Präsident Khatami den letzten Tag der Feierlichkeiten den religiösen Minderheiten. Um dem Land ihre Treue auszudrücken, haben die Juden im ganzen Land Busse gemietet und sind zahlreich im Mausoleum Khomeini eingetroffen. Eine Frau macht sich den Augenblick der Stille vor den ersten Reden zunutze; sie steht vor der ganzen Menschenmenge auf und richtet eine lange Klage an den Präsidenten, nur unterbrochen von ihren Schluchzern. Da sie die Anwesenheit eines ausländischen Journalisten ahnt, endet sie mit einem Satz auf Englisch, in dem von ihrem gefangenen Sohn die Rede ist.
Bei meiner zweiten Reise 2002 sollte ich erfahren, dass sie eigentlich die Mutter eines der "Verschwundenen von Zaedan" ist. 1994-95 sind elf Juden, die das Land auf illegale Weise über die pakistanische Grenze zu verlassen versuchten, seither mit Hab und Gut verschwunden. Seit mehreren Jahren ist diese Frau ohne Nachricht, doch eines Tages erhielt sie einen Anruf einer gut informierten Person, die ihr bestätigte, ihr Sohn schmachte in einem iranischen Kerker.
"Alle unsere Bemühungen zur Aufdeckung dieser Affäre sind erfolglos geblieben", erzählt der neue jüdische Abgeordnete. Im Jahr 2000 von der jüdischen Gemeinschaft mit einer grossen Stimmenmehrheit gewählt, besitzt Maurice Motamed immer noch den Ruf eines effizienten Mannes, trotz seines geringen Handlungsspielraums. "Letztes Jahr haben wir zusammen mit den christlichen und zoroastrischen Abgeordneten im Parlament ein Gesetz betreffend die Verteilung von Subventionen an die religiösen Minderheiten verabschieden lassen. Leider wurde die Verordnung vom Revolutionsrat nicht ratifiziert, doch dieses Jahr versuchen wir es ein zweites Mal", bekräftigt er. In Bezug auf die Frage der Emigration schätzt der Abgeordnete die Zahl der Juden, die den Iran in den vergangenen drei Jahren verlassen haben, auf ca. 4'000, und gibt zu, dass sich diese Entwicklung weiterhin verstärkt. 90% der befragten jungen Leute sagen, dass sie das Land verlassen wollen, sobald es ihnen möglich ist. Die Eltern sind zwischen dem Trennungsschmerz bei einer Abreise und ihren eigenen Schwierigkeiten in der Fremde hin- und hergerissen. Auch die Wahl einer Destination bleibt schwierig. Angesichts der Situation im Nahen Osten wollen sich nur noch wenige in Israel niederlassen, und seit den Anschlägen vom 11. September stellen die USA keine Immigrationsvisa mehr für Männer aus, die unter 50 Jahre alt sind. Mehrere hundert iranische Juden warten seit Monaten in Wien.
Die Juden sind sich über eine Sache einig: die gegenwärtigen Ereignisse haben keine antisemitische Welle in der iranischen Bevölkerung ausgelöst. Das Phänomen lässt sich dadurch erklären, dass die Iraner sehr wohl zwischen Israelis und Juden unterscheiden können, sowie durch ein nicht ausgeprägtes Gefühl der Solidarität mit den Arabern, die als Erbfeinde der Perser angesehen werden.

* Pierre Abensur ist Fotoreporter. Seine Bilder werden in Europa und in den USA veröffentlicht. Die ausgestellten Fotos sind das Ergebnis mehrerer Reisen von Pierre Abensur in der jüdischen Gemeinde im Iran, die sich heute hauptsächlich in den Städten Teheran, Shiraz, Isfahan und Kemansha befindet. Bei der Ausführung dieser Arbeit wurde Pierre Abensur von der Europäischen Vereinigung für die jüdische Kultur unterstützt.

Musée d'art et d'histoire du Judaïsme
71 rue du Temple
75003 Paris
Tel. 00331 53 01 86 60
Öffnungszeiten
Von Montag bis Freitag: 11.00-18.00 Uhr
Sonntag: 10.00-18.00 Uhr

Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004