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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Frühling 2001 - Pessach 5761

Editorial - Frühling 2001
    • Editorial

Pessach 5761
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Politik
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Judäa – Samaria – Gaza
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Ethik und Judentum
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Kopf oder Zahl ?

Von Rabbiner Shabtaï Rappoport *
Nach seiner Matura studierte K. zwei Jahre lang an einer Jeschiwah (Institut für Talmudlehre). Er ist heute 20 Jahre alt und seine Familie ist der Ansicht, es sei nun an der Zeit, dass K. sich für einen Beruf entscheidet und an die Universität geht. Da K. intelligent und fleissig ist, würde ihn jede Fakultät problemlos aufnehmen. Seine Familie hat ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er frei wählen kann und dass sie ihn in jedem Fall unterstützen wird.
Während den Jahren an der Jeschiwah hat K. gelernt, dass sein soziales Verantwortungsgefühl über egoistischen Überlegungen stehen muss, und es scheint ihm daher völlig natürlich, jetzt seinen Kindertraum zu verwirklichen: er wird die notwendigen Kenntnisse und das Wissen erwerben, um Menschen zu heilen und Arzt zu werden. Andererseits möchte K. ein wenig Freizeit behalten, um die Torah zu studieren und sich der Familie zu widmen, die er zu gründen beabsichtigt. Dieser Wunsch scheint jedoch kaum vereinbar zu sein mit dem langjährigen Studium und den harten Arbeitstagen, die für die Ausbildung zum Arzt unerlässlich sind. Diese Flexibilität zugunsten der Torah und seiner zukünftigen Familie ist nur möglich, wenn K. einen anderen Weg einschlägt, der bei seinen Freunden sehr beliebt ist, nämlich das Studium der Informatik. K. hat eine Begabung für Computer und weiss, dass es ihm keineswegs schwer fallen wird, sein Studium erfolgreich abzuschliessen und dann Karriere zu machen. Er ist folglich hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch sich auf sozialer Ebene zu engagieren und seinem Willen einen Teil seines Lebens für Torah und Familie frei zu machen. K. sucht Rat bei seinen früheren Rabbinern und Lehrern, bei seinen Freunden und Angehörigen. Alle sagen ihm, es gebe keine logische Lösung für sein Dilemma. Einer seiner Freunde schlägt ihm angesichts seiner Verzweiflung im Spass vor, das Los entscheiden zu lassen. Diesen Gedanken findet er mit der Zeit immer verführerischer, es scheint ihm eine Möglichkeit zu sein, sich an G'tt zu wenden, um eine göttliche Lösung für sein von Menschen unlösbares Problem zu finden. Er fragt sich aber, ob das Los einen akzeptablen Ausweg darstellt oder eines frommen Juden unwürdig ist.
Rabbi Yair Bachrach, eine berühmte Halacha-Koryphäe aus dem 17. Jh., beschreibt (Chavot Yair resp. 61) eine Lotterie, die während des Purim-Festes stattfand: der Preis bestand aus einer vergoldeten Schale und zwölf seiner Schüler nahmen daran teil. Man bereitete zwei Serien mit je zwölf Losen vor. Die erste Serie enthielt die zwölf Namen der Teilnehmer, in der zweiten Serie gab es elf weisse Zettel und ein Los, auf dem «Mazel-tov» stand. Jede Serie wurde in eine separate Schachtel gelegt und ein Kind sollte aus beiden Schachteln gleichzeitig je ein Los ziehen; Sieger war derjenige, dessen Name gleichzeitig mit dem Zettel «Mazel-tov» gezogen würde. Dieser tauchte bei der sechsten Ziehung auf, doch in diesem Moment bemerkte man, dass in der Schachtel mit den Namen nur elf Zettel gelegen hatten, weil man einen davon irrtümlicherweise vergessen hatte: die betreffende Person hatte folglich nicht die geringste Aussicht auf den Gewinn. Es folgte eine Diskussion, weil die Verlierer eine neue Ziehung verlangten, da die erste ungerecht gewesen sei. Der Gewinner brachte vor, dass die zehn Teilnehmer, deren Zettel in der Schachtel gelegen hatten, durch das Fehlen des zwölften Zettels nichts eingebüsst hatten, ganz im Gegenteil, ihre Gewinnchance sei gar von eins zu zwölf auf eins zu elf gestiegen. Der einzige, der eine neue Ziehung verlangen dürfe, sagte der Gewinner, sei demnach derjenige, dessen Namen man vergessen habe. Da der Sieger ihm eine Entschädigung angeboten hatte, erklärte sich der Betroffene einverstanden, auf diese Forderung zu verzichten. Folglich, argumentierte der Gewinner, seien die Grundsätze für eine gerechte Lotterie – gleiche Chancen für jeden Teilnehmer – gewahrt worden und es gebe keinen Grund für eine erneute Ziehung.
Rabbiner Bachrach war, nach eigener Aussage, zunächst etwas verblüfft, ordnete aber schliesslich eine neue Ziehung an, nachdem er im Talmud einen Präzedenzfall (Baba Batra 106 b) gefunden hatte betreffend die Aufteilung eines Erbes durch das Los: «Es wurde bestimmt: [Falls] zwei Brüder [einen Besitz] untereinander aufgeteilt haben und ein [dritter] Bruder aus einem Land jenseits der Meere eintrifft, sagt Raw, dass die Aufteilung annulliert wird (und dass durch eine neue Ziehung eine neue Aufteilung in drei Teile stattfinden muss) und Samuel sagt, dass sie darauf verzichteten [indem sie dem dritten Bruder je einen Drittel ihres jeweiligen Anteils überliessen].» Laut Kommentar von Tossafot bezieht sich der Beschluss von Samuel auf einen Fall, in dem drei Felder verteilt werden mussten. Die beiden ersten Brüder zogen das Los und der eine erhielt das Feld im Osten sowie den östlichen Teil des mittleren Feldes, während der zweite Bruder das Feld im Westen und den westlichen Teil des mittleren Feldes bekam. Als der dritte Bruder erscheint, muss eine neue Ziehung stattfinden, da der Begünstigte ein Recht darauf hat, seinen Anteil durch das Los zugeteilt zu bekommen. Sollte der dritte Bruder nach der zweiten Ziehung das mittlere Feld erhalten, hält Samuel fest, dass die beiden anderen Brüder auf eine zweite Ziehung zur Verteilung der Felder im Osten und Westen verzichten und die ihnen anlässlich der ersten Ziehung zugefallenen Felder behalten. Dieser Entscheid lässt sich durch die Tatsache erklären, dass die beiden Brüder schon zu Beginn eine gerechte Ziehung erfahren haben und nur der dritte Bruder nicht berücksichtigt worden war. Sobald dieser seinen Anteil des Erbes erhalten hat, darf nichts an der ersten Aufteilung zwischen den beiden Brüdern verändert werden.
Raw entscheidet hingegen, dass die erste Ziehung nicht mehr gültig ist, wenn der dritte Bruder eintrifft, und selbst wenn dieser das mittlere Feld erhält, müssen die beiden anderen Felder erneut durch das Los zugeteilt werden (ausser natürlich, wenn sich die beiden Brüder untereinander absprechen, um das anfänglich zugeteilte Feld zu behalten). Die Meinung von Raw wurde als Regel akzeptiert, die in den Erbgesetzen Gültigkeit besitzt (Schulchan Arouch 'Hochen Mischpat 175,2).
Raw geht zweifellos davon aus, sagt Rabbi Bachrach, dass jede durch ein Los gefällte Entscheidung ungültig ist, wenn die Ziehung in irgendeiner Weise nicht korrekt verlaufen ist, auch wenn das Ergebnis an sich vom logischen Standpunkt aus gerecht erscheint. Weshalb ? Weil eine Lotterie nicht nur ein Verfahren ist, in dem jeder Teilnehmer dieselben Chancen besitzt. Eine Ziehung, die ohne jede Verfälschung und streng nach den Regeln durchgeführt wird , besitzt ausserdem göttlichen Wert. So erfolgte beispielsweise die Aufteilung des Landes Israel unter der Herrschaft Josuas durch das Los, so wurde Achan durch das Los erkannt und bestraft (Josua, VII). Aus diesem Grund darf jeder Teilnehmer an einer verfälschten Ziehung behaupten, dass das Ergebnis bei strenger Einhaltung der Regeln für ihn hätte günstiger ausfallen können, weil eine korrekte Ziehung unter dem Auge G'ttes erfolgt.
Zahlreiche Entscheidungsträger haben später die von Rabbi Bachrach zitierten Beispiele, die Aufteilung des Landes Israel und die Bestrafung Achans, angefochten. Sie sagen, die Aufteilung sei mit einer eindeutigen Prophezeiung einher gegangen, welche ihr Gültigkeit verliehen habe, während die Bestrafung im zweiten Fall durch das Eingeständnis der Schuld durch Achan selbst fällig geworden sei. Es heisst nämlich: «Und Josua sprach zu Achan: Mein Sohn, gib dem Herrn, dem G'tt Israels, die Ehre und bekenne es ihm und sage mir, was du getan hast, und verhehle mir nichts. Da antwortete Achan Josua und sprach: Wahrlich, ich habe mich versündigt an dem Herrn, dem G'tt Israels. So habe ich getan» (a.a.O.,19-20). Maimonides hält fest (Gesetze des Obersten Gerichts, 18,6), dass im jüdischen Recht das Eingeständnis der Schuld nicht unter das Strafrecht fällt, dass es aber im Falle von Achan eine Ausnahme gegeben habe. Es ist sein eigenes Geständnis und nicht das Los unter göttlicher Aufsicht, das in diesem Fall entscheidend war.
Zur Klärung des Konflikts zwischen beiden Ansichten müssen wir die Analyse der Verurteilung Achans im Talmud untersuchen (Sanhedrin 43b): «Wenn G'tt zu Josua sagt, Israel hat gesündigt, fragt Josua Ihn 'Herrscher des Universums, wer hat denn gesündigt ?' Darauf antwortete G'tt 'Bin ich ein Informant ? Geh und ziehe das Los'. [Josua] organisiert daraufhin eine Ziehung und das Los fällt auf Achan. Und Achan sagt zu ihm: 'Josua, wirst du mich aufgrund eines einfachen Loses verurteilen ? Du und der Hohepriester Eleazar seid die herausragenden Männer dieser Generation, und doch, wenn ich unter euch das Los ziehen sollte, würde das Los auf einen von euch beiden fallen.' Josua antwortete: 'Ich bitte dich, zweifle nicht [an der Gültigkeit] der Lose, denn das Land Israel muss noch aufgrund solcher Lose aufgeteilt werden, so wie es geschrieben steht: Das Land wird durch das Los aufgeteilt werden. [Folglich] gib deine Schuld zu'.»
Das Los, dank dem Achan entdeckt wurde, besass nichts Aussergewöhnliches oder Prophetisches, da G'tt zu Josua gesagt hatte, er sei kein Informant. G'tt gibt den Menschen Weisheit und Verstand – einen göttlichen Funken, aber nicht die Gabe der Prophezeiung – und sie müssen sich ihrer bedienen um Entscheidungen zu treffen. In seinem Pentateuch-Kommentar (Deut. XIX, 19) erklärt Nachmanides, dass G'tt es nicht zulassen würde, dass integre Richter unschuldiges Blut vergiessen, «das Gericht ist G'ttes» (Deut. I, 17). Ein ehrliches Urteil auf der Grundlage von Weisheit und gesundem Menschenverstand steht unter dem Schutz und der Anleitung G'ttes, auch wenn es das Werk von Menschen ist. Verfügt man nicht über die logischen Elemente, um zu einer Entscheidung zu gelangen, darf das Gericht gar kein Urteil aussprechen und muss sich auf das göttliche Versprechen und die Gebote verlassen: «Den Unschuldigen und den, der im Recht ist, sollst du nicht töten; denn ich lasse den Schuldigen nicht Recht haben» (Ex. XXIII, 7). In diesem Gebot erfahren wir (Maimonides, Buch über die Gebote, Negative Gebote, 290), dass das Gericht kein Urteil aussprechen darf, wenn die Zeugnisse dazu nicht ausreichen; auch wenn auf diese Weise ein Schuldiger dem menschlichen Gesetz entkommt, wird er der göttlichen Gerechtigkeit nicht entkommen.
Was ist jedoch zu tun, wenn die notwendigen logischen Elemente nicht vorhanden sind und unbedingt eine Entscheidung getroffen werden muss, wie im Falle Achans, wo G'tt zu Josua sagte (Josua VII, 12): «Darum kann Israel nicht bestehen vor seinen Feinden, sondern sie müssen ihren Feinden den Rücken kehren; denn sie sind dem Bann verfallen. Ich werde hinfort nicht mit euch sein, wenn ihr nicht das Gebannte aus eurer Mitte tilgt»? In diesem Fall benutzt man das Los, da dieses Instrument unter göttlichem Schutz und seiner Leitung steht. Es kann nicht verwendet werden, um die Wahrheit aufzudecken, denn es gilt nicht als beweiskräftig. Es darf nur eingesetzt werden, um die richtige Entscheidung zu treffen, um zu einem Entschluss zu gelangen. Josua befand sich in einem Dilemma: an wen konnte er sich wenden, um ein Schuldgeständnis betreffend den Diebstahl zu bekommen ? Eine falsche Entscheidung würde die Aussichten darauf vernichten, den Schuldigen zu finden. Da ihm keinerlei logisches Element zur Verfügung stand, aber eine Entscheidung getroffen werden musste, setzte er das Los ein. Dank der göttlichen Aufsicht entpuppte sich dies als gute Wahl, denn Achan gestand seine Schuld und wurde aufgrund seines eigenen Geständnisses bestraft. Daraus folgt, dass die Analyse von Rabbi Bachrach richtig ist: eine gerecht durchgeführte Auslosung steht tatsächlich unter dem Rat G'ttes.
Weil K. sich also in Bezug auf seine Zukunft entscheiden muss und weil er alle Möglichkeiten für eine logische Beschlussfassung ausgeschöpft hat und nicht rein zufällig entscheiden möchte, stellt das Los eine angemessene und verantwortungsbewusste Lösung dar.

* Rabbiner Shabtaï Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@zahav.net.il.


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