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Inhaltsangabe Bulgarien Frühling 2001 - Pessach 5761

Editorial - Frühling 2001
    • Editorial

Pessach 5761
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Politik
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Judäa – Samaria – Gaza
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Bulgarien
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Tiefe Wurzeln

Von Roland S. Süssmann
Zu einem Zeitpunkt, da das jüdische Leben in Bulgarien wieder aufzuleben scheint, sind wir einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit begegnet, die zwar in Bulgarien geboren ist, das Land aber 1941 verliess und nach Palästina auswanderte, das damals britisches Mandat war; hier spielte sie eine entscheidende Rolle, zunächst im Untergrund, dann bei der Gründung und in der neueren Geschichte des jungen jüdischen Staates. Es handelt sich um SCHULAMIT SCHAMIR, die Ehefrau des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Yitzchak Schamir.

Ihr Leben lang haben Sie dafür gekämpft, dass die Rechte der Juden respektiert und eingehalten werden, zuerst allein und später an der Seite von Yitzchak Schamir. Als Sie noch in Bulgarien lebten, gehörten Sie dem Betar an. Ihre Emigration nach Israel stellte schon ein recht mutiges Unterfangen dar. Woraus schöpfen Sie diesen inneren jüdischen Stolz, den Sie an den Tag legten?

Um ehrlich zu sein, hatte ich einen phantastischen Grossvater. Er besass viel Talent und wurde von allen respektiert, als Architekt hatte er insbesondere den Bahnhof von Sofia entworfen, vor allem aber war er ein zutiefst und echt jüdischer Mensch. Er war zwar nicht sehr fromm, hielt aber den Schabbat und die Festtage ein und liebte die hebräische Sprache. So wurden alle Familienfeste gemäss dem jüdischen Kalender gefeiert. Was mich jedoch tief geprägt hat, war seine geradezu mit Händen zu greifende Beziehung zu den Figuren aus der Bibel, deren direkte Nachfahren wir – so erklärte er uns – in unserer Zeit seien. Er sprach mit so grosser Bewunderung vom jüdischen, vom auserwählten Volk, dass ich mich in meiner kindlichen Phantasie und Vorstellung mal für die eine, mal für die andere herausragende Frauengestalt der Bibel und des jüdischen Volkes hielt. Zu Hause sprachen wir Ladino, und er beschloss, ich sollte eine jüdische Schule besuchen, zuerst den Kindergarten und dann die Primarschule. Da es kein jüdisches Gymnasium gab, schloss ich meine Schulbildung in einer bulgarischen Schule ab. Schon als junges Mädchen war ich der Jugendbewegung Betar beigetreten. Damals spielte sich in Bulgarien der wichtigste Teil der jüdischen Jugendaktivitäten, was den Sport betraf, um den Maccabi ab, ausserdem existierten zwei ideologische jüdische Bewegungen, der Haschomer Hatzaïr und der Betar. Im Rahmen meiner Tätigkeit innerhalb der Bewegung wurde ich mit der Zeit Gruppenleiterin. Alle unsere Unternehmungen hatten nur ein Ziel: die jungen Juden von der Emigration nach Eretz Israel zu überzeugen. Mit 17 Jahren, also 1940, beschloss ich, Bulgarien zu verlassen und nach Palästina zu ziehen. Meine Eltern waren strikt dagegen, ich musste mich folglich allein um einen Pass kümmern und die notwendigen Schritte unternehmen. Schliesslich erlaubten sie mir, 1941 auszureisen, wobei sie erst 1948 mit der ganzen Familie nachkamen. Ich hatte die Unterstützung und den Segen von meinem geliebten Grossvater erhalten und konnte auf die Hilfe seiner Tochter zählen, die meine Tante und die Schwester meines Vaters war und mich bis zum Bahnhof begleitete. Doch da der Zweite Weltkrieg wütete, hatten die Briten die Grenze nach Israel für jüdische Immigranten bereits gesperrt, so dass ich mein Ziel nur auf eine Weise verwirklichen konnte: ich musste illegal einreisen.
Im Hinblick auf mein stark entwickeltes Nationalgefühl möchte ich einen wichtigen Faktor betonen. Die Bulgaren besitzen einen angeborenen Sinn für Patriotismus, der sich durch die 500-jährige Okkupation durch die Türken(1396-1878) natürlich noch vertieft hat. In der Schule mussten wir nicht nur die gesamte bulgarische Literatur lernen, sondern auch die Namen sämtlicher Helden des bulgarischen Widerstands und die Werke ihrer Dichter, die wir fehlerlos mussten aufsagen können. Ich bin überzeugt, dass wir Juden diese Gefühle auf unsere Heimat Israel übertragen haben. Es ist eine Tatsache, dass diese patriotische Inspiration an dem Tag in die Tat umgesetzt wurde, als fast alle Juden Bulgariens ihre Geschäfte geschlossen und sich in Israel niedergelassen haben. Daher wage ich ohne zu zögern zu behaupten, dass wir unser patriotisches Gefühl als Juden in gewisser Weise den Bulgaren verdanken und dass wir ihnen dafür dankbar sein müssen. Sie haben dieses Gefühl für Bulgarien entwickelt, wir für unser Land und unser Volk. Wenn man die bulgarische Immigration in Israel betrachtet, stellt man fest, dass fast niemand nach seiner Niederlassung hier wieder ausgereist ist.

Sie haben folglich in sehr jungen Jahren beschlossen, Ihr Leben in die Hand zu nehmen. Wie wurde Ihre Entscheidung, abgesehen vom Widerstand in der Familie, von Ihrem direkten Umfeld aufgenommen, z.B. von Ihren nichtjüdischen Freundinnen?

Ihre Haltung ist meiner Ansicht nach typisch für das Verhalten des bulgarischen Volkes gegenüber den Juden. Die Bulgaren sind, wie Sie wissen, einfache Leute, denen antisemitische Gefühle fremd sind. Der Metropolite Stefan, das Oberhaupt der orthodoxen Kirche in Sofia und Anführer beim Kampf gegen die Deportation der Juden, beherbergte den Grossrabbiner sogar in seiner Wohnung, da er davon ausging, dieser sei in Gefahr. Zu meiner Zeit war die Schule sehr streng und jede unentschuldigte Abwesenheit wurde mit dem sofortigen Verweis von der Schule bestraft. Als ich meine Reise vorbereitete, fehlte ich oft im Unterricht, doch meine Freundinnen fanden immer irgendwelche Entschuldigungen für mich. Als ich schliesslich abreiste, hielt das Schiff kurz in Istanbul und ich habe den Aufenthalt genutzt, um eine Postkarte an meine ehemaligen Klassenkameradinnen zu schicken; sie brachten sie in die Schule und zeigten sie meiner früheren Klassenlehrerin, die keine Jüdin war und folgende Worte sagte: «Eure Kameradin Sara Levy hat ihre Pflicht gegenüber ihrem Volk erfüllt und ist nach Palästina gereist.»

Wie verliefen Ihre Reise und Ihre erste Zeit in Israel?

Ich fuhr mit dem Zug bis in die Hafenstadt Warna am Schwarzen Meer, wo ich einen Monat lang auf ein Schiff gewartet habe. Es war schwierig an Bord zu kommen, ich hatte kein Geld und die Plätze für die Jugendlichen aus den beiden Jugendbewegungen waren beschränkt. Zusammen mit einem Freund standen wir als letzte auf dem Quai, wir kratzten unser verbleibendes Geld zusammen um zu sehen, ob wir uns die Rückkehr nach Sofia leisten könnten, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte: Sara Levy. Ich war verrückt vor Freude, dass ich fahren konnte, aber ich hatte natürlich keinen blassen Schimmer von der Tortur, die mich erwartete. Unser Schiff war ursprünglich für den Viehtransport eingerichtet worden. Wir schliefen demnach in den Ställen, die zu diesem Zweck in Strohlager verwandelt worden waren. Mit der Hygiene stand es besonders schlimm. Unser Schiff schwankte so stark, dass immer gleich viele Menschen links und rechts auf der Brücke stehen mussten, wenn die Passagiere ab und zu etwas Luft schnappen durften. Die Reise dauerte einen Monat und während dieser Zeit ernährten wir uns von hartem Brot und Tee.
Mehr als einmal drohten wir unterzugehen. Schliesslich trafen wir in Haifa ein, wo das Schiff beschlagnahmt und wir verhaftet wurden. Ich kam in ein Lager namens Mezra im Norden des Landes, in dem zahlreiche Widerstandskämpfer gefangen gehalten wurden.
Irgendwie hatten die Leute von Lechi (Kämpfer für die Freiheit Israels) erfahren, dass sich im Lager ein Mitglied des Betar befand, und sehr schnell nahmen sie Kontakt zu mir auf. Ich war während fast 15 Monaten in Haft, und als ich endlich in Tel Aviv ankam, besass ich keinen Rappen und wurde von einer Tante untergebracht. Ich begann in einer Fabrik zu arbeiten und trat sehr schnell in den Lechi ein, wo mein Deckname Schulamit war, Vornamen denn ich später behalten habe. Ich wurde sofort für den Kampf um die Befreiung Israels ernsthaft aktiv. In diesem Rahmen sollte ich den Mann treffen, den ich später heiraten würde, Yitzchak Schamir.

Wann sind Sie zum ersten Mal nach Bulgarien zurückgekehrt?

Ich hatte von Anfang an das Verlangen, dieses Land zu besuchen, doch meine Lebensumstände und die Tatsache, dass mein Mann Politiker und Minister war, machten die Sache auch nicht einfacher. 1986, also noch unter kommunistischer Herrschaft, schickte der Präsident der jüdischen Gemeinschaft mir eine offizielle Einladung. Die Gemeinde war eigentlich als Antrieb für einen Besuch benutzt worden, der, wie ich erst vor Ort feststellte, im Grunde vom Staat organisiert worden war. Ich wurde mit allen Ehren empfangen, im Fernsehen interviewt usw. Der Aussenminister empfing mich sehr herzlich… inoffiziell. Im Verlauf meiner Gespräche mit ihm merkte ich, dass er mir eigentlich eine Botschaft der Öffnung für Israel anvertraute, die ich an meinen Mann weiterleiten sollte.
Ein Jahr später kehrte ich für ein Gespräch über die Emigration der bulgarischen Juden zwischen 1948 und 49 zurück. Es waren Delegierte aus aller Welt anwesend und ich persönlich leitete die israelische Delegation, die auch Mitglieder unseres Aussenministeriums umfasste. Ich wurde mit grossem Respekt behandelt und wieder war ich eingeladen worden, weil Bulgarien seine Beziehungen zu Israel zu verbessern wünschte. Der Staatschef, Todor Jivkov, der das Land von 1971-1989 regierte, kam unserer Delegation entgegen und begrüsste jeden einzelnen persönlich, alles natürlich unter dem wachsamen Auge der Fernsehkameras der Partei. Heute sieht natürlich alles ganz anders aus und ich freue mich immer wieder über eine Reise dorthin. Als Tel Aviv und Sofia zu Partnerstädten wurden, fuhr ich wieder, diesmal mit dem Bürgermeister von Tel Aviv, nach Sofia , um an der Zeremonie zur formellen Konkretisierung dieser Freundschaft teilzunehmen. 1990, als mein Mann Ministerpräsident war, unternahmen wir eine offizielle Reise nach Bulgarien, wo man uns einen königlichen Empfang bereitete.

Glauben Sie, dass die jüdische Gemeinschaft in Bulgarien eine Zukunft hat?

Es besteht kein Zweifel, dass die soziale und finanzielle Situation der heute in Bulgarien lebenden Juden – von denen viele schon älter sind - sich dank der Unterstützung des American Jewish Joint Distribution Committee deutlich verbessert hat. Wenn ich jedoch richtig verstanden habe, planen die jungen Leute, die ins Gemeinschaftszentrum kommen und die Gesellschaft ihrer Glaubensbrüder suchen, vielmehr eine endgültige Niederlassung in Israel. Daher habe ich eher den Eindruck, dass die Zukunft dieser Gemeinschaft etwas fraglich ist.

Wie erklären Sie sich zum Schluss, dass die aus Bulgarien stammenden Juden gefühlsmässig noch stark mit diesem Land verbunden sind, obwohl sie es vor vielen Jahren verlassen haben?

In der bulgarischen Sprache gibt es zwei Ausdrücke für «Heimat». Der eine bezeichnet den Geburtsort und der andere einen kollektiven, kulturellen und historischen Bezug, der die Menschen derselben Herkunft miteinander verbindet. Während eines Interviews am bulgarischen Fernsehen habe ich gesagt, dass im Hinblick auf die bulgarischen Juden beide Definitionen gültig sind. Einerseits lieben sie das Land, in dem sie geboren sind, mit dem sie herzlich verbunden bleiben und für das sie aus zwei konkreten Gründen Dankbarkeit empfinden: wegen seiner Haltung während des Kriegs und wegen der Tatsache, dass alle jene unter ihnen, die es wünschten, dank einer Entscheidung des Ratspräsidenten der Republik Bulgarien, Giorgiu Dimitrov, von 1948-49 ungehindert nach Israel ausreisen konnten. Andererseits lieben sie Israel, denn es verkörpert auf konkrete Weise ihre Wurzeln, kurz, ihr wahres «Heim».
Ich möchte dieses Zeugnis in Bezug auf eine Seite bulgarisch-israelischer Geschichte nicht abschliessen, ohne zu betonen, dass das bulgarische Volk und Menschen wie der Metropolit Stefan, der Vizepräsident des Parlaments Dimiter Peshev (der seine mutigen Taten mit dem definitiven Ende seiner Karriere bezahlte) und König Boris III. durch die Rettung der 50'000 bulgarischen Juden der ganzen Welt ein Beispiel dafür gegeben haben, dass auch ein kleines Land, ein kleines Volk, Grosses vollbringen kann. Ich bin überzeugt dass, wenn andere Nationen genauso gehandelt hätten, die Ermordung von sechs Millionen Juden nicht so systematisch hätte durchgeführt werden können.


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