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Inhaltsangabe Bulgarien Frühling 2001 - Pessach 5761

Editorial - Frühling 2001
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Pessach 5761
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Jerusalem und Sofia

Von Roland S. Süssmann
Stellen Sie sich folgende Szene vor: Plovdiv, am 10. März 1943. In diesem bulgarischen Städtchen am Ufer der berühmten Maritza verlassen eine jüdische Mutter, ihr Söhnchen und dessen grosse Schwester ihr Heim mit einem kleinen Koffer in der Hand und begeben sich zu einem Durchgangslager, während der Zug, der sie nach Treblinka in einen sicheren Tod bringen soll, bereits in den Bahnhof eingefahren ist. Sofia, im November 2000: ein hochgewachsener Herr von würdigem, elegantem und zurückhaltendem Gebahren, dem man inneren Stolz anmerkt, hat Tränen in den Augen, als er dem Präsidenten von Bulgarien sein Beglaubigungsschreiben als Botschafter des jüdischen Staates überreicht, nachdem er soeben eine bulgarische Ehrengarde abgeschritten ist. Für S.E. EMANUEL ZISMAN, den vierten Botschafter Israels in Sofia seit 1990 – den kleinen Jungen von Plovdiv -, hat sich der Kreis geschlossen!

Könnten Sie uns, bevor wir auf die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Israel und Bulgarien eingehen, einen kurzen historischen Abriss über das Verhältnis geben, das seit der Gründung des jüdischen Staates zwischen den beiden Ländern herrschte?

Zwischen Juli 1948 und Juli 1949 gestattete es der Premierminister des kommunistischen Regimes, Giorgiu Dimitrov, jedem Juden, der nach Israel auswandern wollte, das Land zu verlassen. In diesem Jahr emigrierte die grosse Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft Bulgariens. So traf meine Familie am 25. Februar 1949 in Israel ein. Damit die Tragweite und die Bedeutung dieser politischen Entscheidung verständlich wird, möchte ich an den Kontext erinnern, in dem sie getroffen wurde. Das zionistische Ideal war schon immer tief im Geist und in der Mentalität der bulgarischen Juden verankert, so dass in dem Moment, als sie aktiv am Aufbau des jungen jüdischen Staates teilnehmen konnten, ihre Abreise im Rahmen der Aliyah nichts anderes darstellte als die Verwirklichung eines alten Traums. Dazu kommt die Tatsache, dass die meisten von ihnen nicht unter dem sowjetischen Regime leben wollten, das den Juden wirklich nicht gut gesinnt war. Es muss an dieser Stelle also nachdrücklich betont werden, wie unerwartet und in gewisser Weise unlogisch die Öffnung der bulgarischen Grenzen zugunsten der Aliyah erschien. Der israelische Staat hatte seine Unabhängigkeit nämlich am 15. Mai 1948 erlangt und Bulgarien war eines der ersten Länder, das den jungen jüdischen Staat anerkannte. Es stimmt, dass die UdSSR Israel zwar als erste die offizielle Anerkennung zusicherten, doch die Beziehungen zwischen dem Sowjetblock und Israel verschlechterten sich sehr bald danach. Die Sowjetunion hatte gehofft, Israel würde sich im Ost-West-Konfikt neutral verhalten, doch sehr rasch stellte es sich auf die Seite der westlichen Länder. Da beschloss die UdSSR, die arabischen Staaten zu unterstützen. In dieser Situation gestattete das bulgarische Regime seinen Juden die Ausreise nach Israel. Diese Entscheidung widersprach demnach in jeder Hinsicht der damaligen globalen Lage. Der grösste Teil der bulgarischen Auswanderer waren Kommunisten, Beamte, Rentner und Personen, die innerhalb der bulgarischen Arbeitspartei oft sehr hohe Posten bekleideten. Die jungen Leute wurden in den meisten Fällen sofort in die Armee aufgenommen und nahmen nur wenige Tage nach ihrer Ankunft in Israel am Unabhängigkeitskrieg statt. So wurden während der berühmten Schlacht von Latrun zahlreiche bulgarische Juden verletzt und getötet. Indem sie Bulgarien verliessen um sich in Israel niederzulassen, wurden sie folglich zu aktiven Mitstreitern, welche die politischen Entscheidungen und Allianzen der UdSSR bekämpften. Trotz dieser Umstände erlaubte ihnen Dimitrov das Land zu verlassen.

Diese Epoche kann nicht erwähnt werden, ohne von der Integration der bulgarischen Juden in Israel zu sprechen.

Ja, obwohl sich viele von ihnen zu Beginn in Jerusalem niederliessen, zog die grosse Mehrheit schliesslich nach Jaffa, um dem Zentrum für Handel und Industrie nahe zu sein. Es lebten so viele von ihnen in diesem Viertel von Tel Aviv, dass in bestimmten Strassen alle Schilder auf Bulgarisch verfasst waren; es gab sogar eine Tageszeitung, «Israelski Far», die auf Bulgarisch erschien. Da Jerusalem geteilt war und daher eine Beamten- und Religionsstadt zu werden versprach, fern von der Geschäftswelt, glaubten die bulgarischen Juden nicht, dort am erhofften wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben zu können. Gleichzeitig wies ein bezeichnendes Phänomen auf das intellektuelle Niveau der bulgarischen Aliyah hin: von den ersten Studienabschlüssen an der hebräischen Universität von Jerusalem wurden 50% von Studenten bulgarischer Herkunft erlangt.
Zwischen 1948 und 1967 pflegten Bulgarien und Israel offizielle diplomatische und praktische Beziehungen, die der Norm entsprachen. 1967, nach dem Sechstagekrieg, wurden diese Beziehungen, auch gewisse informelle Kontakte, offiziell unterbrochen. Bulgarien gehörte nun zu den Ländern mit den striktesten kommunistischen Regimes, darüber hinaus stalinistischer Prägung. Dennoch konnten die bulgarischen Juden, die israelische Staatsbürger geworden waren, sich ab und zu nach Bulgarien begeben, so wie sogar einige bulgarische Juden Israel besuchen durften.

Diese Situation hat sich nach dem Fall der Berliner Mauer bestimmt geändert. Wie haben sich die Beziehungen seither entwickelt?

Die tiefgreifende Veränderung fand 1990 statt, und seit zehn Jahren pflegen wir nicht mehr nur diplomatische Beziehungen, sondern weisen gar ein besonders enges Verhältnis auf. Dies hat auch mit der inneren Entwicklung Bulgariens zu tun, das sich im Verlauf von zehn Jahren von einem rückständigen stalinistischen Regime in einen modernen und weltoffenen Staat verwandelt hat. Ohne mich in die inneren Angelegenheiten Bulgariens einmischen zu wollen, glaube ich sagen zu können, dass die Tatsache, dass sich die demokratische Partei an der Macht befindet und dass die Kommunisten (die Partei nennt sich heute «sozialistisch») die Wahlen verloren haben und jetzt seit dreieinhalb Jahren in der Opposition sind, in der Entwicklung der Beziehungen zwischen unseren zwei Ländern sicher eine positive Rolle gespielt hat. Interessanterweise beginnen sowohl der Präsident als auch der Premierminister bei jeder unserer Begegnungen die Unterhaltung mit den Worten: «Unsere Beziehungen sind traditionell freundschaftlicher Art, weil historische Gründe unsere beiden Staaten miteinander verbinden. Auch wenn die Situation im Nahen Osten sich in eine Richtung entwickeln sollte, die wir missbilligen, wird unsere Freundschaft immer bestehen bleiben.»

Diese «historische» Freundschaft der Bulgaren gegenüber den Juden haben Sie persönlich während des Zweiten Weltkriegs erfahren. Können Sie uns kurz von diesem Abschnitt Ihres Lebens berichten, einem praktischen Beispiel für die Ereignisse, die sich während der Schoah hier ereignet haben?

Sie wissen, dass Bulgarien für die Deportation von 11’343 Juden verantwortlich ist, die in den Gebieten Thrakien und Mazedonien lebten. Gleichzeitig hatte König Boris III. einen Vertrag mit Deutschland unterzeichnet, in dem er sich verpflichtete, ihnen zunächst 20'000 Juden auszuliefern. Die 49'000 Juden, die bulgarische Staatsbürger waren, wurden jedoch gerettet, trotz der Anwendung der judenfeindlichen Gesetze, der Quälereien und Beraubungen, unter denen die Juden von Sofia leiden mussten. Sie waren nämlich gezwungen worden, alles aufzugeben und sich in diverse Übergangslager in der bulgarischen Provinz zu begeben. Ungeachtet dieser Vorfälle haben die Juden Bulgariens eine auf der Welt und in der gesamten Geschichte der Schoah einzigartige Situation erlebt. Diese Rettung wurde ermöglicht, weil 43 Abgeordnete und insbesondere der Vizesprecher des Parlaments Dimiter Peshev, das Oberhaupt der orthodoxen Kirche von Sofia, der Metropolit Stefan, Schriftsteller, Anwälte und das Volk in ganz Bulgarien gegen die Deportation der Juden demonstriert und protestiert haben. Schliesslich änderte der König aufgrund dieser Einwände seinen Beschluss und die Deportationen wurden annulliert. Ich persönlich erinnere mich daran, dass man meine Mutter, meine Schwester und ich an unserem Wohnort Polvdiv am 10. März 1943 um 4 Uhr morgens verhaftete. Wir wurden ohne Wasser und ohne Nahrung in die Räumlichkeiten der Schule überführt. Von dort aus sahen wir die Demonstrationen und Proteste, und am Abend durften wir als freie Menschen wieder nach Hause gehen. Die Gefahr einer Deportation war damit aber noch nicht endgültig gebannt und so lebten wir zwischen dem 10. März 1943 und dem 9 September 1944, als die Rote Armee in Bulgarien einmarschierte, in ständiger Besorgnis. Ab dem denkwürdigen Tag, als die sowjetischen Streitkräfte in Bulgarien eintrafen, wussten wir, dass die Gefahr vorüber war.

Wenden wir uns wieder den Beziehungen zu, die heute zwischen Jerusalem und Sofia bestehen. Können Sie uns mit wenigen Worten sagen, in welchen Bereichen der Austausch stattfindet und wie die kulturellen, wissenschaftlichen, kommerziellen und anderen Beziehungen aussehen?

Auf kultureller Ebene findet zwar ein gewisser Austausch statt, doch meines Erachtens bleibt noch viel zu tun. Ganz anders sieht es beim Handel aus, denn die Wechselbeziehungen sind recht bedeutend. Im Bereich Tourismus beispielsweise steht Israel nach Russland an zweiter Stelle in Bezug auf die Besucher aus dem Ausland. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Zahlen um 86% angestiegen. Es werden auch immer mehr israelische Investitionen in Bulgarien getätigt, wobei die grösste von Gad Zeevi stammt, der die lokale Fluggesellschaft Balkan aufkaufte. Bulgarien verfügt ausserdem über reiche Bodenschätze, insbesondere über Mineralien, die nach Israel exportiert werden können. Bulgarien befindet sich, wie ich bereits sagte, in vollem Aufschwung, die gesamte Landwirtschaft und seine berühmte Militärindustrie werden von Grund auf restrukturiert, und in diesen Bereichen kann sich Israel natürlich eine interessante Position sichern; bereits heute ist es in den unterschiedlichsten Domänen anzutreffen. Der Umfang der Armee wird allmählich reduziert und verlangt nach einer umfassenden Modernisierung. Israel bietet auch in diesem Bereich seine Unterstützung an. Der kommerzielle Austausch findet demnach in beide Richtungen statt, er ist zwar noch nicht sehr bedeutend, entwickelt sich aber stetig weiter.

Wie gross ist der Einfluss der arabischen Lobby in Bulgarien?

Während 23 Jahren, von 1967 bis 1990, übten die Araber einen sehr starken Einfluss auf dieses Land aus. Die Palästinenser waren derart mächtig, dass die bulgarische Regierung Arafat, der Fatah und anderen arabischen Terroristenorganisationen nicht nur das Aufenthaltsrecht, sondern auch das Recht verliehen haben, Trainings- und Vorbereitungslager für Terrorakte gegen Israel hier durchzuführen. Glücklicherweise ist dies heute nicht mehr der Fall und alle diese Einrichtungen wurden aufgehoben. Bulgarien wies jedoch sehr bedeutende wirtschaftliche und kommerzielle Beziehungen mit den arabischen Ländern auf, und einige von ihnen, vor allem der Irak, Syrien und Libyen, stehen heute noch tief in seiner Schuld. Obwohl die bulgarische Regierung ihre Politik im Nahen Osten als ausgeglichen bezeichnet, müssen diese Elemente berücksichtigt werden. Ausserdem besitzt die Vertretung der PLO den Status einer Botschaft, auch wenn sie einen nicht existierenden Staat vertritt.

Welches ist Ihrer Meinung nach der wichtigste Punkt im Rahmen Ihrer Tätigkeit, der entwickelt werden müsste?

Die wirtschaftlichen, touristischen und kulturellen Beziehungen. Im Verlauf der letzten zehn Jahre haben sich 500 bulgarische Wissenschaftler zu beruflichen Zwecken in Israel aufgehalten, 150 von ihnen im Jahr 2000. Dieser Aspekt hätte es verdient, noch ausgebaut zu werden, denke ich.

Glauben Sie, dass es Ihre Pflicht ist, die Aliyah zu fördern?

Ich glaube, mir obliegen zwei Pflichten. Einerseits habe ich selbstverständlich die Aliyah zu unterstützen, andererseits aktiv mit der jüdischen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um die jüdische Identität zu verstärken, sowohl in den Bereichen jüdisches Wissen, Information und schulische Bildung. Ich setze alles daran, um die Beziehungen zwischen dieser Gemeinschaft, zu der ich ein ausgezeichnetes Verhältnis habe, und den Institutionen in Israel weiterzuentwickeln.

Könnten Sie abschliessend umreissen, welche tiefliegenden Motive für die hervorragenden Beziehungen zwischen den beiden Nationen verantwortlich sind?

Ich möchte betonen, dass es vier wichtige Gründe dafür gibt, dass das bulgarische und das israelische Volk diese ganz besondere, aussergewöhnliche und tiefe Beziehung haben. Da ist zunächst die seit über zweitausend Jahren existierende traditionelle Toleranz des bulgarischen Volkes und die Tatsache, dass schon vor dem Jahr 1492 Juden hier lebten. Dann muss man sich daran erinnern, dass die Juden während «den 500 Jahren der Sklaverei», wie sie die Bulgaren nennen, d.h. während den Jahren unter türkischer Herrschaft, zwar ihre Eigenart bewahrt haben, jedoch an der Seite der Bulgaren für die Unabhängigkeit kämpften. Ich glaube, dass es diese zwei Elemente waren - Toleranz und gemeinsamer Kampf -, die dem bulgarischen Volk die Kraft und den Heldenmut gaben, Hitler NEIN zu sagen und die Deportation der jüdischen Mitbürger zu verhindern. Der dritte Grund liegt natürlich in der 1948 den Juden gestatteten Ausreise, um sich in Israel niederzulassen.
Der vierte Grund besteht aus einer Hoffnung: mögen die Erklärungen des Staatspräsidenten und des Premierministers, nämlich dass «uns ihre feste Freundschaft unabhängig von der Entwicklung im Nahen Osten sicher ist», im Falle einer Krise Wirklichkeit werden.

Glauben Sie nicht, dass es einen fünften Grund gibt, der heute vielleicht gar an die erste Stelle zu setzen wäre: die Tatsache, dass der israelische Botschafter, Emanuel Zisman… aus Plovdiv stammt?

In dieser Behauptung liegt bestimmt ein Körnchen Wahrheit…


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