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Inhaltsangabe Bulgarien Frühling 2001 - Pessach 5761

Editorial - Frühling 2001
    • Editorial

Pessach 5761
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Politik
    • Die Einheit - Wozu?

Interview
    • Merkwürdiger Krieg

Judäa – Samaria – Gaza
    • Das Leben geht weiter…

Bulgarien
    • Jerusalem und Sofia
    • Frischer Wind für die Juden in Bulgarien
    • Tiefe Wurzeln
    • Jude – Bulgare - Abgeordneter
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Junge Spitzenpolitiker
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Ethik und Judentum
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Frischer Wind für die Juden in Bulgarien

Von Roland S. Süssmann
Im Verlauf der vergangenen Jahre habe ich eine ganze Reihe von jüdischen Spitzenpolitikern und Gemeindeverantwortlichen auf den fünf Kontinenten interviewt. Bei keinem von ihnen hing im Büro sowohl die Fahne des Landes, in dem er lebt, als auch die israelische Flagge. Ganz anders bei Dr. EMIL KALO, Präsident der Organisation der Juden in Bulgarien, «OJB-SHALOM» (Organization of the Jews in Bulgaria), in der heute sämtliche neunzehn jüdischen Gemeinschaften des Landes zusammengefasst sind; insgesamt sind es ungefähr 8000 Mitglieder, obwohl die offiziellen Statistiken die Existenz von nur 3500 Juden bestätigen. Da er jedem seiner – oft nichtjüdischen - Gesprächspartner deutlich zu verstehen geben will, dass sich die jüdische Gemeinde Bulgariens sehr stark mit Israel identifiziert, schmücken zwei Fahnen das Präsidentenbüro von Kalo, die grün-weiss-rote Bulgariens und die weiss-blaue Israels.
Dr. Kalo selbst entspricht genau dem Bild des Bulgaren, wie man ihn sich üblicherweise vorstellt und der mit Joghurt und Feta-Käse aus Schafsmilch grossgezogen wurde: er ist ein stattlicher, kräftiger Mann mit einer Stentorstimme und ansteckendem, offenem Lachen, der eine schwarze, beissend riechende Zigarette nach der anderen raucht. Seine Worte verraten den Mann, der mit beiden Beinen auf der Erde steht und sich keinen Illusionen hingibt, jedoch noch voller Hoffnungen ist und dessen Denken von einem Willen zur Tat und zur Effizienz beherrscht wird. Als erfolgreicher Geschäftsmann widmet er seine gesamte Freizeit (und einen grossen Teil seiner Arbeitsstunden) der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Wohlergehen seiner Gemeinde, für die er sich mit Leib und Seele einsetzt und auf die er sehr stolz ist.

Könnten Sie uns, bevor Sie uns vom jüdischen Leben zu Beginn des neuen Jahrtausends in Bulgarien berichten, in wenigen Worten sagen, wie die Beziehungen zwischen Bulgaren und Juden im Verlauf der Geschichte aussahen?

Das entscheidende Ereignis ist die Rettung sämtlicher jüdischer Gemeinden Bulgariens während der Schoah, dies entspricht 50’000 Personen. Wir sind die einzige jüdische Gemeinschaft Europas, die nach Beendigung der Schoah zahlreicher war als davor. Doch bevor ich darauf eingehe, muss ich Ihnen einen kurzen historischen Abriss geben.
Die jüdische Gemeinschaft Bulgariens ist eine der ältesten Europas, und die Beziehungen zwischen der bulgarischen Bevölkerung und den Juden waren immer ausgezeichnet. Der römische Kaiser Caligula, der von 37 bis 41 vor unserer Zeitrechnung regierte, erwähnte bereits die Präsenz von Juden in dieser Region. Nach der Gründung des allerersten bulgarischen Staates im Jahr 681 entstanden hier mehrere kleine Gemeinden. Interessanterweise war Bulgarien in gewissem Sinne zu jeder Zeit ein Zufluchtsort für die Juden und bot ihnen Asyl. Erinnern wir uns doch daran, dass viele Juden während der Verfolgungen in Byzanz unter Kaiser Leon III. nach Bulgarien flüchteten. Dies war 1376 wiederum der Fall, als die Juden auf der Flucht vor den Kreuzrittern hier Zuflucht fanden, nachdem sie aus Ungarn vertrieben worden waren, sowie auch 1470, als sie Bayern verlassen mussten. Zur Zeit der spanischen Inquisition liessen sich zahlreiche sephardische Juden in Tessaloniki und im Balkan nieder. Die bereits hier lebenden Juden integrierten sich damals in diese neue und bedeutende Gemeinschaft und es sind die Nachkommen dieser Einwanderer, die heute den grössten Teil der jüdischen Gemeinde Bulgariens bilden. Gegen Mitte des 16. Jahrhunderts gab es in Sofia drei jüdische Gemeinden: die Romaniot, die Sephardim und die Aschkenasim, doch nur einen Rabbiner für alle drei Gruppen. Während der Zeit, da Bulgarien Teil des osmanischen Reiches war und unter türkischer Herrschaft stand, spielten die Juden die Rolle der Vermittler zwischen den «Besatzern und den Besetzten». Da sie weder Moslems noch Christen waren, konnten sie diese Vermittlungsfunktion ausüben, die sich im Grunde als eine Form des Schutzes für die bulgarische Bevölkerung angesichts der Türken herausstellte. Diese Tatsache verbesserte nicht nur das Verhältnis zwischen der bulgarischen und jüdischen Bevölkerung, sondern liess auch eine Art Dankbarkeit der lokalen Bevölkerung gegenüber den Juden entstehen. Ein weiteres wichtiges Element im politischen Kontext Bulgariens ist die Rolle der Kirche. Während in den slawischen Ländern im Osten (Russland, Weissrussland, Ukraine usw.) und im Westen (Polen, Tschechien, Slowakei usw.) die Beziehungen zwischen Kirche und Juden schon immer von Antisemitismus geprägt waren, war dies in den sogenannten südlichen slawischen Ländern wie z.B. Bulgarien nie der Fall, da es hier keine Tradition der Intoleranz gibt. Alle diese Elemente haben dazu beigetragen, dass der Antisemitismus bei der bulgarischen Bevölkerung nie auf wirklich fruchtbaren Boden fiel und dass folglich hier fast keine Pogrome durchgeführt wurden. Obwohl unsere Gemeinschaft nur eine winzige Minderheit darstellte, trug sie in grossem Ausmass und mit aussergewöhnlichen Persönlichkeiten auf allgemeiner und kultureller Ebene zum Aufschwung von Bulgarien bei: zu ihnen gehören der Nobelpreisträger für Literatur Elias Canetti, der Komponist Pancho Bladigerov, die Maler Boris Schatz und Jules Pascin sowie zahlreiche herausragende Figuren unter den europäischen Intellektuellen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch heute ist unsere Gemeinschaft in der Politik, Kultur und Wissenschaft sehr gut vertreten, auch gehören ihr viele hervorragende Ärzte und Anwälte an.

Die jüdische Gemeinschaft Bulgariens wurde gerettet und kein einziger bulgarischer Jude ist während der Schoah deportiert worden, ungeachtet der Tatsache, dass König Boris III. 1941 bewusst den Dreimächtepakt unterzeichnete. Zur gleichen Zeit wurden die Juden aus Thrakien und Mazedonien nach Treblinka deportiert und dort umgebracht. Wie erklären Sie sich diesen aussergewöhnlichen Umstand?

Zunächst möchte ich betonen, dass diese Epoche heute akribisch untersucht wird. Die Archive, Fakten und Widersprüche wurden genau unter die Lupe genommen, denn in Bezug auf diese Ereignisse ist das letzte Wort noch nicht gefallen. Dennoch muss hier die wichtige Tatsache bekräftigt und wiederholt werden, dass die 50’000 bulgarischen Juden gerettet wurden. Dies bedeutet nicht, dass die Situation einfach war. Sobald Boris III. auf die Seite der Achsenmächte getreten war, arbeitete Deutschland einen Plan aus, der die Vernichtung der gesamten jüdischen Gemeinschaft Bulgariens vorsah. Die faschistischen und judenfeindlichen Gesetze wurden durchgesetzt. Das Programm für die Deportationen war darauf ausgerichtet, dass zunächst die Juden der Peripherie verhaftet würden, danach diejenigen im Zentrum und in der Hauptstadt des Landes. Dank der aktiven Zusammenarbeit der bulgarischen Behörden, der Verwaltung und der Polizei, wurden 11’343 Juden aus Thrakien und Mazedonien am 11. März 1943 deportiert! In diesem Moment wurden sich die Bulgaren, die Bevölkerung und die Kirche der Ereignisse bewusst, lehnten sich dagegen auf und unternahmen alles Mögliche, um die Deportation und die Ermordung der Juden aus ihrem Land zu verhindern. Dennoch kam es zu Verhaftungen von Juden, die jüdischen Bewohner Sofias wurden in Städte und Dörfer umgesiedelt, von wo aus sie leichter deportiert werden konnten. So wurden z.B. in Plovdiv die Juden in der städtischen Schule zusammengetrieben, die zu diesem Anlass in ein Lager umfunktioniert worden war. Die Züge mit Waggons für den Viehtransport warteten bereits im Bahnhof, bereit für die Fahrt in die Konzentrationslager. Der orthodoxe Bischof der Stadt drohte sich auf die Schienen zu legen, wenn die Deportation tatsächlich stattfinde, und dank dieser Warnung konnten die Juden wieder nach Hause kehren. Die faschistischen und judenfeindlichen Gesetze fanden jedoch strenge Anwendung. Die Juden durften nicht mehr arbeiten, ihr Immobilienbesitz wurde verstaatlicht und es gab zahlreiche Einschränkungen. Das Tragen des gelben Sterns war obligatorisch, doch seltsamerweise handelte es sich dabei um einen kleinen Stern von nur ca. 3 x 3 cm im Gegensatz zu den viel grösseren, die in anderen besetzten Ländern getragen werden mussten. In weiser Voraussicht übertrugen zahlreiche Juden, von denen viele im Kleinhandel tätig waren, ihre Geschäfte bulgarischen Freunden, damit sie nicht verloren gingen. In allen Fällen wurden diese Unternehmungen nach Kriegsende den ursprünglichen Besitzern zurückerstattet. Die Rettung der Juden Bulgariens sollte nicht unterschätzt werden, es gab viele Vorstösse im Parlament, durch den Klerus und in der Bevölkerung sowie zahlreiche dramatische Schicksalswenden, die letztendlich doch zu einem glücklichen Ende führten.

Wurden die Besitztümer der Gemeinschaft ebenfalls zurückerstattet?

Bulgarien hat als eines der ersten Länder ab 1989 ein Gesetz betreffend die Rückerstattung des jüdischen Besitzes verabschiedet. Auf der Grundlage dieses Textes haben wir 90% unserer Immobilien im ganzen Land zurück erlangt. Zwei bedeutende Grundstücke im Zentrum von Sofia wurden uns bisher jedoch verweigert, obwohl das Hohe Gericht sich in dieser Angelegenheit zu unseren Gunsten ausgesprochen hat. Bestimmte wirtschaftliche Interessen haben bewirkt, dass wir diese Besitztümer bis heute nicht zurückerhalten konnten.

Ein altes Sprichwort sagt, dass «ein Unglück selten allein» kommt. Nach dem Nationalsozialismus hat Ihr Land den Kommunismus durchgemacht. Wie sah die Situation der Juden unter sowjetischem Regime aus?

Auch in diesem Fall erwies sich die Situation in Bulgarien als einzigartig. Als 1948 der Staat Israel gegründet wurde, erlaubten die an der Macht befindlichen Kommunisten jedem Juden die Ausreise nach Israel, falls er dies wünsche. Ungefähr 90% der Juden haben diese Chance genutzt, so dass über 40’000 Menschen Bulgarien verlassen haben. Die verbleibenden 10% waren überzeugte Kommunisten. Man darf nicht vergessen, dass die kommunistische Partei sich damals, als Boris III. sich mit den Achsenmächten zusammenschloss und die judenfeindlichen Gesetze hier eingeführt wurden, sich als einzige öffentlich dagegen auflehnte und sie bekämpfte. Die Juden, die zu jener Zeit der Partei beitraten, sind ihr immer noch dankbar und halten ihr die Treue, deswegen haben sie das Land 1948 nicht verlassen. Einige von ihnen sind durch und durch Kommunisten. Man muss sich aber immer vor Augen halten, dass wir es eigentlich ihnen verdanken, dass es noch heute eine jüdische Gemeinschaft in Bulgarien gibt.

Sie haben soeben «heute» gesagt. Wie sieht das jüdische Leben in Bulgarien in der Gegenwart aus?

Toleranz und Weltlichkeit liegen in der Mentalität der Bulgaren. Sogar die orthodoxe Kirche ist keine Institution, in der die Frömmigkeit die Priorität darstellt. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Sofia zahlreiche wunderschöne Kirchen besitzt sowie eine der schönsten Synagogen Europas. Wir Juden sind ihnen darin ähnlich; wir sind sehr glücklich und stolz darauf, Juden zu sein, doch wir sind auch keine sehr fromme Gemeinde, wenn auch eine traditionalistische. Wir begraben beispielsweise unsere Toten ohne «Tahara» (rituelle Waschung des Toten) und unser gegenwärtiger Rabbiner Kachlon lebt in Israel und reist nur ein paar Tage pro Monat hierher, was meines Erachtens bei weitem ausreichend ist. Für die Betreuung des religiösen Lebens im Alltag haben wir einen jungen Mann namens Isaac Samuila ausgebildet, einen bulgarischen Juden, den wir in eine Jeschiwah nach Israel geschickt haben. Dort hat er eine solide jüdische Ausbildung und Erziehung erhalten. Unter Aufsicht des Rabbiners führt Isaac Samuila auch die «Schechitah» durch, die rituelle Schächtung der Tiere, damit das Altersheim und die Ferienlager mit koscherem Fleisch versorgt werden.
Man muss sich klar machen, dass das jüdische Leben während der kommunistischen Periode, d.h. während fast 45 Jahren, hier fast völlig erloschen war, auch wenn unsere vor 75 Jahren gegründete Dachorganisation «OJB-SHALOM» weiterbestand... auf dem Papier. Seit dem Fall der Berliner Mauer haben wir beschlossen, den Verantwortlichen unserer Gemeinschaft unseren Dank auszudrücken und eine neue aktive und dynamische Form des jüdischen Lebens in Bulgarien einzuführen. Aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen Lage mussten wir Prioritäten setzen, wir mussten der älteren Generation ein anständiges Alter garantieren und gleichzeitig eine Reihe von jüdischen Aktivitäten für die Jugend anbieten. Im Verlauf der ersten acht Jahre haben wir unsere Anstrengungen daher auf diese beiden Gruppen unserer Gemeinschaft konzentriert und haben die Generation «dazwischen» etwas vernachlässigt. Ab Januar 1990 bemühten wir uns jedoch um die allmähliche Einführung von Strukturen im Bereich der Sozialhilfe, der Erziehung (schulischer und informeller Art), des kulturellen und religiösen jüdischen Lebens, wobei wir dazu eng mit den lokalen jüdischen Organisationen B’nai Brith, Wizo, Maccabi, dem zionistischen Verband usw. zusammengearbeitet haben.

Wie steht es in Bulgarien um den Antisemitismus?

Dieses Land kennt keine antisemitische Tradition, es existieren jedoch einige Gruppierungen, die sich zwar offen zum Antisemitismus bekennen, uns im Moment aber nicht ernsthaft beunruhigen.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinde ?

Sie sprechen da eine grundlegende Sorge an, die auch Gegenstand einer umfassenden Diskussion innerhalb der Gemeinde ist. Zu diesem Thema veranstalte ich jeden Mittwochabend ein Gespräch, an das ich Menschen aller Ausrichtungen und jeder Altersklasse einlade, damit sie sich zu diesen wesentlichen Fragen äussern: Welche Art von Gemeinde verkörpern wir? Welche Art von Gemeinde möchten wir sein? Welches sind unsere Aufgaben und Ziele? Die eigentliche Grundlage unserer Existenz als Gemeinschaft kommt in folgender Frage zum Ausdruck: «Bereiten wir die Mitglieder unserer Gemeinde auf die Emigration nach Israel vor oder sichern wir den Juden in Bulgarien ein normales und aktives jüdisches Leben?». Fast einstimmig gelangten wir im Verlauf unserer Gespräche zum Ergebnis, dass unser Ziel aus dem zweiten Teil der Frage besteht und keinesfalls den ersten Teil anstrebt. Wir pflegen zwar ständigen und engen Kontakt zu Israel, müssen jedoch alles daran setzen, damit die uns übertragene Aufgabe, die auch aus der Errichtung solider Fundamente besteht um zukünftigen Generationen ein jüdisches Leben zu gewährleisten, entschlossen und erfolgreich erfüllt wird. Es geht nicht nur darum, die jüdische Identität unserer Jugend zu verstärken, was wir natürlich auch tun, sondern auch darum, ihr das Verlangen und die Mittel zu geben, weiterhin als Juden in diesem Land zu leben. Zur Verwirklichung dieser Ziele und mit dieser Einstellung arbeite ich mit meinem ausgezeichneten Team zusammen, was uns durch die Unterstützung des «American Jewish Distribution Committee» ermöglicht wird, der 70% unseres Budgets finanziert.


DIE JÜDISCHE ERZIEHUNG
Die jüdische Ausbildung ist in zwei Abschnitte unterteilt: es gibt einerseits den Kindergarten (3-7 Jahre) und die jüdische Primarschule (7-13 Jahre), andererseits die sogenannte informelle Erziehung.
Der Hebräischunterricht begann in Sofia im Jahr 1992 mit einem fakultativen Kurs im Rahmen einer städtischen Grundschule, die von 400 Schülern besucht wurde, von denen 60 Schüler Juden oder jüdischer Abstammung waren. Nachdem diese Schule sieben Jahre später dank der Qualität ihres Unterrichts das prestigereichste Institut von Sofia geworden war, erhielt sie durch einen Beschluss des Erziehungsministeriums den Status einer «staatlichen Schule», was in Bulgarien einem Qualitätslabel entspricht. Dadurch war es der Schule möglich, das Erlernen von Fremdsprachen bereits in frühestem Alter einzuführen, so dass Hebräisch offiziell zur zweiten Fremdsprache nach Englisch wurde. Heute zählt dieses Institut mit dem Beinamen «hebräisch» ungefähr 750 Schüler, von denen ein Drittel jüdischer Abstammung sind, und die hebräische Sprache ist für alle obligatorisch. Man kann sich natürlich fragen, weshalb die Eltern von 500 nichtjüdischen bulgarischen Kindern das Bedürfnis empfinden, ihre Kinder Hebräisch lernen zu lassen. Vielleicht weil es sich um die beste Schule in Sofia handelt? Die Verfechter dieser Initiative gehen davon aus, dass man auf diese Weise den Antisemitismus wirksam bekämpfen kann, der oft durch Unwissenheit und Unkenntnis des anderen entsteht. Die Schule trägt den Namen des bulgarischen Dichters Dimcho Ldebeliov, sie erhält finanzielle Unterstützung von der «Ronald S. Lauder Foundation» und vom «American Jewish Joint Distribution Commitee». In ganz Osteuropa bieten die Schulen der Organisation Lauder die gleiche Form von Hebräischunterricht an, Ziel dieses Vorgehens ist es nämlich, dass alle Kinder jüdischer Abstammung aus den Ländern der GUS in Ferienlagern zusammentreffen und in einer einzigen gemeinsamen Sprache, auf Hebräisch, miteinander kommunizieren können. Interessanterweise erhalten die Kinder im Rahmen der Schule keinen eigentlichen Unterricht in jüdischen Fächern. Dieser wird in die Hebräischkurse integriert, in denen die Grundbegriffe in Bezug auf die jüdischen Festtage und die religiösen Traditionen erarbeitet werden. An jedem Freitagnachmittag besuchen die Schüler jüdischer Abstammung einen informellen Kurs über das Judentum, in dem sie mit Hilfe von Spielen, Liedern und Tänzen mit den Grundlagen des Geistes von Schabbat und des jüdischen Lebenszyklus (von der Beschneidung bis zum Tod) vertraut gemacht werden. Einmal pro Monat begeben sie sich am Freitagnachmittag in das Gemeinschaftszentrum, wo sie den Schabbat für ihre Eltern vorbereiten. Um 18.30 Uhr nehmen alle betroffenen Familien gemeinsam an einem Schabbatmahl teil, das von der Gemeinde offeriert wird. Es ist bemerkenswert, dass bestimmte Eltern, die keine jüdische Erziehung erhalten haben, sich allmählich dank den Aktivitäten ihrer Kinder einer gewissen Form der Frömmigkeit annähern. Es kommt nicht selten vor, dass sie beschliessen, das Schabbatmahl, das sie im Gemeindezentrum miterlebt haben, auch zu Hause durchzuführen.
Parallel zur Schule gibt es auch einen Talmud Torah, der vor ca. zehn Jahren gegründet wurde, in dem an jedem Sonntag Kurse in Fächern des Judentums gegeben werden; daran nehmen ungefähr 60 Jugendliche zwischen 10 und 13 Jahren teil. Die Schüler der allerersten Kurse fungieren heute als Lehrer und Betreuer. Der Nachwuchs soll dank einem Programm namens «Hadracha College» gesichert werden, in dessen Rahmen 16 junge bulgarische Juden zwischen 15 und 18 Jahren ausgebildet werden. Sie schliessen ihre Ausbildung mit einem Seminar ab, das im Sommer 2001 abgehalten wird.
Darüber hinaus sind zwei Jugendbewegungen, die allen Jugendlichen über 13 Jahren offenstehen, in Bulgarien sehr aktiv, es handelt sich um «Haschomer Hatzaïr» und «Bnai Brith Youth Mouvement». Obwohl beide Organisationen über ihre eigenen Programme und Animateure verfügen, geniessen sie die finanzielle und logistische Unterstützung des AJJDC. Den jungen Erwachsenen hingegen, die über 18 Jahre alt sind, werden vom Gemeindezentrum verschiedene kulturelle, weiterbildende und unterhaltsame Aktivitäten sowie ein Klub in der Art eines Cybercafés angeboten, der täglich ab 15.00 Uhr geöffnet ist. Ziel dieses Freizeitangebots ist es natürlich, die Eheschliessungen zwischen Juden zu fördern.
Weil sie ein Mindestmass an jüdischer Erziehung fördern wollen, besuchen die Betreuer des Gemeindezentrums von Sofia regelmässig die anderen Städte des Landes, wo sie ebenfalls Schabbatmahle organisieren. Dieses «gemeinsamer Schabbat» genannte Programm umfasst ein Schabbat-Treffen pro Vierteljahr in Sofia, an dem Kinder aus dem ganzen Land zusammentreffen. Ausserdem wird in Warna an jedem Freitagabend ein kleines Schabbatessen veranstaltet.
Neben den Veranstaltungen, die für Kinder bestimmt sind, bietet die Gemeinschaft von Sofia eine ganze Reihe von jüdischen und judaistischen Aktivitäten für Studenten und Erwachsene an. Diese finden unter der Leitung von Stefan Oscar statt, dem Berater für die Entwicklung des Gemeindelebens für Bulgarien und Abgeordneter des «American Jewish Joint Distribution Committee».
Alle sogenannten informellen didaktischen Veranstaltungen gehen mit Ferienlagern, verlängerten Wochenenden und Seminaren einher, die rege besucht werden und bei allen Teilnehmern grossen Anklang finden. Die pädagogische Infrastruktur ist ultramodern, verfügt über die neuesten technischen Hilfsmittel und ist mit Multimedia und Video ausgestattet. Selbstverständlich finden alle Bemühungen in Abstimmung und ständiger Zusammenarbeit mit Israel und allen anderen Gemeindezentren Europas statt.


Die soziale Tätigkeit
Wie in allen osteuropäischen Ländern macht die soziale Unterstützung von älteren Menschen den grössten Budgetposten der Gemeinden aus. In Bulgarien wird diese Zuwendung fast gänzlich vom AJJDC getragen und vor Ort von Robert Djerassi in die Tat umgesetzt. Neben einer bescheidenen materiellen Unterstützung, die für jeden jüdischen Rentner, der darauf angewiesen ist, aus einem Zusatz zur Pension besteht, organisiert Robert Djerassi tägliche Aktivitäten, damit die Senioren ihrer Einsamkeit entkommen können. So wurde im Rahmen der Gemeinderäumlichkeiten in Sofia ein Zentrum für tägliche Veranstaltungen geschaffen. Täglich treffen gegen 10.00 Uhr morgens rund hundert Menschen ein, um nach Wunsch vom sozialen oder kulturellen Angebot zu profitieren. Gegen Mittag wird ihnen eine warme Mahlzeit serviert, an der in der Regel zusätzlich ca. sechzig Personen teilnehmen, die anschliessend mit den anderen gemeinsam Kaffee trinken, schwatzen und Freunde treffen. Im Zentrum befindet sich überdies eine recht gut ausgestattete Arztpraxis für diejenigen, die nicht ein Spital oder ein Gesundheitsamt aufsuchen möchten. Einer der wichtigsten Gründe dafür, dass so viele Menschen vom Tageszentrum Gebrauch machen, liegt aber darin, dass die Heizkosten enorm hoch sind. Die alten Leute konnten zwar unter dem kommunistischen Regime eigene Wohnungen erwerben, doch ihre Rente liegt in vielen Fällen weit unter dem Betrag, den sie für die Heizung zahlen müssten und der bei rund 150 Lew (ca. US$.60.-) für eine Wohnung mit 60 m2 liegt, während eine durchschnittliche Rente rund 65 Lew (US$.20.-) beträgt. Folglich lassen die Rentner die Heizung nur in der Küche laufen. Das Tageszentrum hingegen ist behaglich geheizt. Ein ähnliches Problem tritt im Sommer auf, wenn es in den Wohnungen drückend heiss wird. Da das Zentrum über eine Klimaanlage verfügt, verbringen viele alte Menschen auch die Sommertage an diesem Ort.
Die Organisation lässt nicht nur im Gemeindezentrum warme Mahlzeiten servieren, sondern besitzt auch einen Hauslieferdienst für Mahlzeiten, den täglich ungefähr fünfzig alleinstehende Menschen in Anspruch nehmen. Die auf diese Weise ausgelieferten Mahlzeiten werden in einer separaten Küche des Zentrums zubereitet. Bei Bedarf haben die Leute, die allein leben und nicht mehr ausgehen können, die Möglichkeit, eine Haushaltshilfe beizuziehen. Der AJJDC organisiert auch Ausflüge, Ferienlager und sogar internationale Begegnungen für seine betagten Schützlinge. Es existiert auch ein Ladino-Klub, der sich für das Überleben und die Förderung dieser Sprache einsetzt, und anlässlich der regelmässig veranstalteten internationalen Treffen tauschen Gäste aus Griechenland, der Türkei und anderen Ländern ihr Wissen aus. Und schliesslich verfügt die Gemeinschaft über ein modernes Altersheim, in dem heute 30 Menschen leben.
Denkt man an Tagesstätten für ältere Menschen, stellt man sich oft einen Ort voller Traurigkeit und Elend vor. Im Zentrum von Sofia ist uns jedoch aufgefallen, dass uns fast nur lächelnde Gesichter begegnet sind: die Männer und Frauen freuten sich, an den verschiedenen abwechslungsreichen Aktivitäten teilzunehmen. Für viele Menschen verkörpert ein Besuch im Zentrum einen festlichen Anlass, ein Ereignis, auf jeden Fall eine willkommene Gelegenheit, sich hübsch anzuziehen.


DIE JÜDISCHE PRESSE
In der Gemeinschaft wird zweimal monatlich das Magazin «Hebreïski Vesti» (jüdische Nachrichten) herausgegeben; die Leitung liegt bei Mihaylina Pavlova und ihr steht ein kleines festangestelltes Journalistenteam zur Seite sowie ein grosses Netz von freiwilligen Korrespondenten im ganzen In- und Ausland. Die Zeitung wurde während des kommunistischen Regimes gegründet, die erste Nummer erschien am 1. November 1933. Zu Beginn hatte sich die Publikation eine klar umrissene politische Aufgabe gestellt, seit einigen Jahren verzichtet sie jedoch ganz auf politische Stellungnahmen. Obwohl Hebreïski Vesti sich gegenüber dem Land, der bulgarischen Nation und Regierung in jeder Hinsicht loyal verhält, befassen sich die Artikel ausschliesslich mit dem Gemeindeleben und informieren ausführlich über israelische Kultur und israelische Anliegen. In diesem Bereich widerspiegelt die Redaktion der Zeitung die Position der jüdischen Gemeinde gegenüber Israel und gibt ihre unerschütterliche Unterstützung für den hebräischen Staat zum Ausdruck. Die Informationen über Israel werden ohne jegliche politische Stellungnahme im Hinblick auf die Probleme vermittelt, welche die Region erschüttern. Eine ganze Seite ist religiösen Themen gewidmet und regelmässig wird eine Analyse der Parascha veröffentlicht, die in der Regel aus der Feder von Isaac Samuila, dem vielseitigen Stellvertreter des Rabbiners, stammt. Auf Initiative des Chefredakteurs wurde eine neue Rubrik eingeführt, in der alte Menschen über die Sitten und Gebräuche der Vergangenheit in Bezug auf Familientraditionen, Essens- und Kleidungsgewohnheiten interviewt werden. Die Zeitung erscheint mit einer Auflage von 2000 Exemplaren und wird sowohl in Bulgarien als auch an bulgarische Abonnenten in Israel und in den USA verteilt.


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