Editorial - Frühling 2001
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DAS JÜDISCHE MUSEUM BULGARIENS
Der Grundgedanke, der dem «Jewish Museum of History» - es befindet sich im Gebäude der herrlichen Synagoge von Sofia im 1. Stock – zugrundeliegt, kommt im ersten Satz des am Eingang verteilten Flugblattes wunderbar zum Ausdruck: «Während fast zweitausend Jahren kann die Geschichte des jüdischen Volkes in Bulgarien als eine ganz besondere bezeichnet werden. Die Juden werden bereits im 1. Jahrhundert in der kanonischen christlichen Literatur erwähnt: es werden aus Judäa eingewanderte Gemeinschaften sowie die Existenz von Synagogen in Thrakien und Mazedonien beschrieben, in denen Paulus von Tarsus predigte.» Aufgabe des Museums ist es demnach, die langjährige Präsenz von jüdischem Leben in Bulgarien hervorzuheben, dessen verschiedene Abschnitte in chronologischer Reihenfolge dargestellt werden.
Die ältesten konkreten Überreste sind die Ruinen einer Synagoge von Plovdiv aus dem 3. Jahrhundert. Das Mittelalter ist durch verschiedene Gegenstände vertreten, wobei der wichtigste ein Gemälde ist, das an die 1351 erfolgte Heirat des bulgarischen Königs Iwan Alexander mit der zum Katholizismus übergetretenen Jüdin Sara-Theodora erinnert, die den Herrscher von Turnovo, Ivan Shishman, gebar, den letzten bulgarischen König vor der Eroberung durch die Ottomanen. Das Museum zeigt ebenfalls die entscheidende Rolle, welche die Juden im Kampf um die Unabhängigkeit Bulgariens gespielt haben, und ehrt die zahlreichen Juden, die als freiwillige Soldaten in der grossen Schlacht von Shipka ihr Leben verloren. Ein Teil des Museums befasst sich mit hervorragenden jüdischen Persönlichkeiten Bulgariens, die internationale Bekanntheit erlangten, wie z.B. Elias Canetti und Jules Pascin (mit richtigem Namen Julius Pinkas). Ausserdem wird in einer weiteren wichtigen Abteilung über das jüdische Leben während des Zweiten Weltkriegs in Bulgarien berichtet: die Anwendung der judenfeindlichen Gesetze, die Umsiedlung der Juden von Sofia aufs Land, um im entsprechenden Moment die Deportation zu vereinfachen, die Rettung von 50'000 jüdischen Bürgern Bulgariens und die Deportation von 11’343 Juden aus Thrakien und Mazedonien nach Treblinka und in andere Vernichtungslager.
Nach der grossen Aliyah von 1948 gab es in Bulgarien sozusagen kein jüdisches Leben mehr, alle Kultgegenstände aus den verschiedenen Synagogen und Glaubensstätten des Landes wurden in Sofia zusammengetragen, wo die Juden unter dem kommunistischen Regime dahinvegetierten. Diese umfassende Sammlung wurde in den Räumlichkeiten der Gemeinde gelagert, bis erst im Jahre 1993 das eigentliche Museum entstand. Es handelt sich dabei um das allererste Privatmuseum in Bulgarien.
Das Museum wird regelmässig von Schulklassen besichtigt, für die ein besonderes didaktisches Programm ausgearbeitet wurde. Interessanterweise interessiert sich die bulgarische Bevölkerung sehr für die jüdische Kultur. Seit dem Fall der Berliner Mauer hat sich in Bulgarien eine allgemeine Begeisterung für alles entwickelt, was mit Religion zusammenhängt. Die Schüler der staatlichen Schulen besuchen daher Kirchen, Moscheen und die Synagoge, zu der auch ein Rundgang im Museum gehört. Es ist der einzige Ort, in dem die jungen Leute etwas über die Geschichte der bulgarischen Juden erfahren können und dabei Zugang zu historischen Gegenständen haben, was ihnen oft das Verständnis erleichtert. Das Museum wird von Vladimir Paounovsky geleitet, der uns insbesondere folgendes erklärte: «Jeden Monat empfangen wir ungefähr 200 Besucher, die meisten von ihnen stammen aus Deutschland und Israel. Unser Museum ist noch sehr klein, wir setzen uns aber aktiv für seine Weiterentwicklung ein.»
«ANNUAL»
Dieses intellektuell anspruchsvolle Magazin erscheint seit 1966 einmal jährlich, bis heute sind es 30 Ausgaben. Sein Ziel ist in erster Linie, die Wahrheit zur Geschichte des bulgarischen Judentums bekanntzumachen. Der Chefredakteur Vladimir Paounovsky hat uns anvertraut, diese Bücher würden heute einzigartige Archive darstellen, da sie von der geistigen Entwicklung zeugten, die Bulgarien im allgemeinen und seine jüdische Gemeinschaft im besonderen seit 1966 durchgemacht hätten. Da keine andere Institution religiöser Ausrichtung etwas Ähnliches publiziert hat, sind die alten Ausgaben sehr gesucht und werden regelmässig gelesen. Es kommen die unterschiedlichsten Themen zur Sprache, die sich sowohl mit jüdischen Philosophiedisputen als auch mit neuen Fakten betreffend die Demonstrationen der Parlamentarier im Jahr 1943 befassen können, oder den Beitrag von Boris Schatz zur bulgarisch-jüdischen Kunst, das Schicksal einer jüdischen Familie des 18. Jhs. in der Stadt Vidin oder eine Biographie der jüdischen Pianistin und Pädagogin Nina Aladjem diskutieren, die in Bulgarien in bedeutendem Ausmass zur Entfaltung der klassischen Musik auf hohem Niveau beigetragen hat. Aufgrund der Nachfrage wurde das Magazin, das seit 1990 nur in englischer Sprache herauskam, seit 2000 wieder auf Bulgarisch veröffentlicht.
«BENDICHOS MANOS»
«Gesegnete Hände», so nennt sich eine 1996 gegründete sephardisch-bulgarische Künstlergruppe; sie stellt eine der Tätigkeiten einer übergeordneten Vereinigung für finanzielle Unterstützung mit dem Namen Genossenschaft «Geulah» dar. Letztere hat es sich zum Ziel gesetzt, die Tradition der wirtschaftlichen Beihilfe und der Solidarität unter Juden wieder aufleben zu lassen, wie sie im Rahmen der «Bank Geulah» gültig waren, die zu Beginn des Jahrhunderts in Bulgarien bestand. Diese Organisation ist in vielfacher Hinsicht aktiv. Die «Mitglieder», d.h. die Personen, die ihre Ersparnisse bei der «Geulah» eingelegt haben, geniessen den Schutz ihres Kapitals gegen die Inflation und die Bankenkrisen in Bulgarien. Sie können auch eine finanzielle Unterstützung zu extrem günstigen Bedingungen beantragen, wenn sie ein kleines Unternehmen gründen möchten. Und schliesslich fördert «Geulah» die Heimarbeit von Rentnern oder Arbeitslosen, da sie Darlehen für den Kauf von Material gewährt und die Leute bei der Verwaltung dieser Geschäfte unterstützt (Vertrieb der Ware, Bestellungen, Fakturierung usw.).
Diese Organisation handelt aus zwei Beweggründen: einerseits wegen der finanziellen Tätigkeit ohne Gewinnzweck und andererseits zur Belebung des kulturellen Lebens, denn nach fünfzig Jahren des Vergessens ist es wichtig, die weltlichen Traditionen der hier ansässigen Sepharden wieder aufleben zu lassen, vor allem in den Bereichen Kunsthandwerk mit Keramik, Stickerei, Stricken, Textil- und Schmiedearbeiten. In diesem Sinne werden kleine Werkstätten gegründet und die folkloristischen Gebräuche der Sepharden erforscht. Die älteren Menschen tragen mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen dazu bei, dieses Wissen an die jüngeren Generationen weiterzugeben, vor allem bei der Herstellung jüdischer Kultgegenstände. Dieser Aspekt der Aufgaben von «Geulah» stützt sich auf ein recht weitreichendes Konzept, das auch die Unterweisung der Kinder in diese religiösen Riten und Traditionen umfasst. Die im Rahmen der Bendichos Manos hergestellten Gegenstände, insbesondere die Stickereien, werden mit viel Erfolg in der ganzen Welt sowohl in Israel als auch in den USA verkauft.
EIN STUMMER UND DOCH BEREDTER SCHATZ
Im Laufe meiner zahlreichen Reisen entdecke ich ab und zu kleine, unbekannte, längst vergessene Schätze, die jedoch voller geschichtlicher Bedeutung stecken. Dies war auch in Sofia der Fall, als ich von der «Bibliothek der alten jüdischen Druckerzeugnisse» hörte. Ich bat darum, diesen vielversprechenden Ort besuchen zu dürfen und wurde nicht enttäuscht. Die Werke, die ich betrachten konnte, verkörpern sowohl eine stumme Erinnerung an eine jüdische Gemeinschaft mit einer glorreichen Vergangenheit als auch das beredte Zeugnis einiger Juden, die heute unter schwierigen Umständen versuchen ihre Gemeinde zu neuem Leben auferstehen zu lassen, nachdem sie vom Joch der Kommunisten befreit wurden.
«Das Gedächtnis eines Volkes liegt in seinen Büchern». Diese bekannte Volksweisheit erhält einen ganz neuen Inhalt, wenn man das Privileg besitzt den Schatz an hebräischen Büchern zu sehen, der heute dem bulgarischen Staatsarchiv gehört.
Zu dem Zeitpunkt zwischen 1948 und 1949, als die meisten Juden Bulgariens nach Israel emigrierten, beschlagnahmte das kommunistische Regime einen herrlichen Bestand an alten jüdischen Büchern. Alle diese Bände wurden aus Synagogen, Kultstätten, jüdischen Schulen und Privatsammlungen zusammengetragen. Die Behörden übergaben anschliessend die Sammlung der Akademie der Wissenschaften für jüdische Studien. Als diese Institution ihre Tore schloss, wusste niemand mehr, wo sich diese Bücher alle befanden. Nach einigen Nachforschungen wurden sie in einem Lager in einem kleinen Dorf nahe von Sofia gefunden; sie waren in einem schlechten Zustand, jedoch soweit erhalten, dass man sie zurückholen und katalogisieren konnte. Jack Lunzer aus London, Besitzer der jüdischen Bibliothek Valmadonna (siehe SHALOM Vol. IV), beschloss sich persönlich und finanziell an der Erstellung eines Katalogs (dazu reist seine eigene Bibliothekarin regelmässig von London nach Sofia), an der Identifizierung, der Restaurierung, der Aufbewahrung, der Pflege und der Sicherheit dieser Bücher zu beteiligen. Diese werden alle zusammen in einem speziellen Raum des Staatsarchivs aufbewahrt, das der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, jedoch mit einer Einladung besichtigt werden kann. Der Schatz, der sich dem Auge des Besuchers bietet, lässt diesen sprachlos werden angesichts der Pracht und der Seltenheit der in dieser Sammlung enthaltenen Werke, die überdies die grösste Zahl von Büchern umfasst, die in Ladino gedruckt wurden. Zahlreiche Bände wurden in Westeuropa gedruckt, und zwar in Städten wie Wien, Warschau, Prag und Amsterdam, doch einer der besonderen Aspekte dieser Bibliothek liegt in der Zahl der Bücher, die an Orten wie Thessaloniki, Konstantinopel, Izmir und in Bulgarien entstanden sind. Eine ganze Abteilung enthält ausschliesslich in Italien gedruckte Bücher, wobei das älteste Werk der Sammlung eine mit Kommentaren eines Rabbiners versehene Bibel ist, die 1517 in Italien entstand. Eine weitere Rarität dieses Bestands besteht aus den hebräischen Werken, die im 18. Jh. in Ägypten herausgegeben wurden. Von drei heute bekannten Exemplaren gehören zwei der Bibliothek von Sofia , darunter auch ein in Kalkutta gedrucktes Buch. Dank den Spenden von Jack Lunzer wird dieser jüdische Schatz heute gut gepflegt. Welcher Zukunft blickt diese Sammlung aber entgegen? Gehört sie in Wirklichkeit nicht nach Israel?
DAS ZENTRUM FÜR JÜDISCHE STUDIEN
Während meiner Reise nach Bulgarien erhielt ich den Eindruck, dass die hiesige Gemeinschaft ihre Vergangenheit nicht wieder aufleben lassen möchte, sondern sie vielmehr in der Form eines neu belebten und intensiveren jüdischen Lebens fortsetzen will. Dieser Gedanke wird von der bulgarischen Intelligenzia mit Hilfe eines neuen Universitätsinstituts verwirklicht.
Seit 1997 verfügt die philosophische Fakultät der Universität von Sofia über ein Zentrum für jüdische Studien, das im Juni 1998 sein erstes Forum zu Ehren des 50jährigen Staatsjubiläums von Israel veranstaltet hat. Bei dieser Gelegenheit kam ein Buch heraus, das in bulgarischer und englischer Sprache verfasst worden war und den Titel «Bulgarian and Jews on the eve of a new millennium» trug. Es werden verschiedene Themen behandelt, die von der Nuklearpolitik Israels bis zur Untersuchung der Gemeinsamkeiten von bulgarischer und jüdischer Kultur reichen.
Das Zentrum hat sich folgende Hauptaufgaben gestellt: Konzentration des intellektuellen Potentials von Bulgarien im Bereich der jüdischen Fragen; Institutionalisierung der Forschung und Lehre; Verstärkung der Beziehungen zwischen Juden und Bulgaren und zwischen Israel und Bulgarien. Gearbeitet wird in sehr weitreichenden Gebieten, sie umfassen insbesondere das Studium der hebräischen Sprache, des Judentums als Lebensform, der jüdischen Philosophie und Tradition usw. Die meisten Studenten sind Nichtjuden, die sich aber für das Judentum interessieren. Der Unterricht erfolgt durch Professoren der Universität Sofia und durch Gastdozenten. Neben den Vorlesungen betreibt das Zentrum auch Forschungsarbeit, vor allem auf historischer Ebene, dazu kommt die Beratertätigkeit. Regierungsinstitutionen und nichtstaatliche Organisationen wenden sich regelmässig an das Zentrum, um meist einfache und praktische Informationen zu Fragen zu erhalten, die mit dem Judentum im allgemeinen und dem bulgarischen Judentum im besonderen zu tun haben. Ein Beispiel veranschaulicht diese Kategorie der Fragen besonders gut: Vor kurzem bat eine Reiseagentur um Hilfe, um eine Rundreise für Touristen bei den ehemaligen jüdischen Stätten im Balkan im allgemeinen und in Bulgarien im besonderen auszuarbeiten.
Das Zentrum wurde von Professor Todor A. Tanev, stellvertretender Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Sofia gegründet und wird heute auch von ihm sowie von seiner Frau geleitet, der Professorin Albena Taneva. Sie hat das Buch von Professor Michael Bar-Zohar, «Beyond Hitler’s Grasp», über die Rettung der bulgarischen Juden aus dem Englischen ins Bulgarische übersetzt. In Zusammenarbeit mit dem Zentrum wurde kurzem ein Dokumentarfilm auf der Grundlage dieses Buches fertiggestellt, die Premiere fand im vergangenen Januar in Sofia statt. In einem sehr aufschlussreichen Gespräch mit Professor Albena Taneva meinte sie insbesondere folgendes: «Wir stehen erst am Anfang, doch wir sind voller Enthusiasmus und haben viele Pläne. Unser Erfolg wird von der Zahl und Qualität der Beziehungen abhängen, die wir mit ähnlichen Forschungsinstituten überall auf der Welt, jüdischen Organisationen und den israelischen Universitäten werden pflegen können. Vergessen wir nicht, dass dieses Thema unter dem kommunistischen Regime völlig vernachlässigt wurde und heute nur darauf wartet, bearbeitet zu werden.»
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