Editorial - Frühling 2001
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Pessach 5761
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Politik
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Interview
• Merkwürdiger Krieg
Judäa – Samaria – Gaza
• Das Leben geht weiter…
Bulgarien
• Jerusalem und Sofia
• Frischer Wind für die Juden in Bulgarien
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• Jude – Bulgare - Abgeordneter
• Das Kulturelle Leben
Junge Spitzenpolitiker
• Begegnung mit Effi Eytam
Wirtschaft
• Telefonieren mit Leerer Batterie!
Shalom Tsedaka
• Hunde der Hoffnung
Wissenschaft und Forschung
• Chumus ist gesund !
Kunst und Kultur
• Das Ende einer Ära
Ethik und Judentum
• Kopf oder Zahl ?
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Von Oberrabbiner von Grossbritannien, Professor Jonathan Sacks
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Es geschah vor zehn Jahren. Elaine und ich waren mit den Kindern nach Israel gereist. Bevor ich mein Amt anzutreten hatte, wollte ich einige Zeit in der Atmosphäre von Jerusalem verbringen. Wir waren also auf der Suche nach Frieden. Stattdessen tobte wenige Wochen später der Golfkrieg. Neununddreissig Mal mussten wir die Gasmasken aufsetzen und in unsere Schutzräume flüchten, weil die Scud-Raketen aus Irak auf uns niederprasselten. Es war eine Zeit voller Anspannung, doch in diesen Tagen passierte etwas, was mir die Tragödie des jüdischen Daseins in unserer Epoche spürbar nahe brachte.
Während des Kriegs war der Flughafen Ben Gurion fast ausgestorben. Alle Linienflüge waren eingestellt worden. Doch eine Verbindung wurde ohne Unterbrechung weitergeführt – die Flüge, welche russische und äthiopische „Olim“ nach Israel brachten. Die Einwanderer reisten unbeirrt weiterhin ein. Dies allein war schon unglaublich, doch darüber hinaus erinnerte diese Tatsache an eine alte Prophezeiung. Vor ungefähr 2'600 Jahren hatte der Prophet Jeremia gesagt: „Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, dass man nicht mehr sagen wird, ‘So wahr der Herr lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!“, sondern: ‘So wahr der Herr lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstossen hatte” [Jeremia 23,7-8]. Eines Tages, so hatte Jeremia prophezeit, würde es einen zweiten Exodus geben, der noch spektakulärer wäre als der erste, und ich hatte soeben einen Teil davon gesehen.
Über den ersten Auszug steht geschrieben: „Als nun der Pharao das Volk hatte ziehen lassen, führt G'tt sie nicht den Weg durch das Land der Philister, der am nächsten war; denn G'tt dachte, es könnte das Volk gereuen, wenn sie Kämpfe vor sich sähen, und sie könnten wieder nach Ägypten umkehren.” [Exodus 13,17]. G'tt wusste, dass die Israeliten trotz allen Zeichen und Wundern beim Anblick des Krieges wieder zurückkehren würden. 1991 sahen die russischen Einwanderer den Krieg und wandten sich nicht ab. Die Prophezeiung von Jeremia war Wirklichkeit geworden.
Heute, da ich diese Worte schreibe, erlebt Israel harte Zeiten. Die Suche nach Frieden – mit so ernsthaftem Bemühen hat Israel sich noch nie dafür eingesetzt – hat zu Konflikten und Gewalt geführt. In Israel und überall in der jüdischen Welt neigt man gefährlich der Verzweiflung zu. In diesen Zeiten brauchen wir den Glauben, nicht blinden Optimismus, sondern Glauben, der aus dem umfassenden Blick auf die jüdische Geschichte entsteht. Während Hundert Generationen erzählten die Juden am Sederabend die Geschichte des Auszugs aus Ägypten in dem Glauben, es würde sich alles eines Tages genau so wieder abspielen. Es ist auch tatsächlich so geschehen. Die Rückkehr der Juden nach Israel, die Wiedererlangung der jüdischen Souveränität, das Zusammenkommen von Vertriebenen aus dem Exil in über hundert Ländern, die Wiederauferstehung der Sprache der Bibel –dies alles ist in der Geschichte noch nie da gewesen. Es ist eine Sache, eine Geschichte zu erzählen, aber ein andere, sie ein zweites Mal bewahrheitet zu sehen. Dies ist unser Privileg. Wir sind Zeugen eines Ereignisses geworden, das uns die Propheten vorhergesagt hatten.
Die Existenz Israels ist nie einfach gewesen. Aus irgendeinem Grund hat uns G'tt immer vor schwierige Herausforderungen gestellt. Ich bete allerdings darum, dass wir dieses Jahr Kraft aus der Geschichte des Exodus schöpfen können, aus der Geschichte eines schwer geprüften Volkes, das den langen Gang in die Freiheit geschafft hat. Auf dem Weg dorthin mussten sie mit vielen Prüfungen fertig werden, und vielleicht ist die Reise auch 3'300 Jahre später noch nicht abgeschlossen. Ich weiss nur, dass ihre Geschichte die unsrige ist, und ich bin stolz einer von ihnen zu sein.
So lautet die Botschaft, die der Oberrabbiner von Grossbritannien für Pessach 5761 an seine Gemeinde richtet. Wir haben diesen aussergewöhnlichen Mann gebeten, seine Gedanken über ein Thema auszuführen, das zu diesem Fest passt und von Hoffnung und Mut kündet. Er hat sich für die vorbildliche Charakterstärke der jüdischen Frauen im Laufe unserer Geschichte entschieden.
Die Geschichte von Pessach ist eine der bekanntesten in der Menschheit. Wir haben sie während über dreitausend Jahren immer wieder erzählt. Mich fasziniert jedoch ein Aspekt dieser Geschichte, über den fast nie berichtet wird. Fragt man irgend jemanden, einen Juden oder Nichtjuden nach dem menschlichen Helden des Auszugs, lautet die Antwort fast immer: Moses, Befreier, Prophet und Kämpfer für die Gerechtigkeit. Doch die Torah erzählt eine komplexere, subtilere und auch unerwartete Geschichte. Neben Moses stehen sechs weitere Menschen, alles Frauen, die seine Aufgabe, sogar sein Leben, erst möglich machten. Die Helden des Exodus sind allesamt Heldinnen.
Wer waren sie ? Die erste ist natürlich Jocheved, die Frau von Amram und Mutter der drei Personen, die zu den grössten Vorbildern der Israeliten gehören sollten: Miriam, Aaron und Moses selbst. Es war Yocheved, die auf dem Höhepunkt der ägyptischen Unterdrückung den Mut hatte ein Kind zu bekommen, es drei Monate lang zu verstecken und dann einen Plan auszuhecken (sie legte ihn in einen Kasten aus Schilfrohr, den sie auf den Nil setzte), der ihn vielleicht retten könnte. Wir wissen viel zu wenig von Yocheved. Bei ihrer ersten Erwähnung in der Torah wird sie nicht beim Namen genannt. Es besteht jedoch beim Lesen der Geschichte kein Zweifel an ihrer Tapferkeit und ihrer Klugheit. Es ist kein Zufall, dass alle ihre Kinder eine führende Rolle gespielt haben.
Die zweite Heldin ist Miriam, Yocheveds Tochter und Schwester von Moses. Sie war es, die ein Auge auf das Baby behielt, als der Kasten den Fluss hinunter trieb, und sie trat mit dem Vorschlag an die Tochter des Pharaos heran, das Kind solle in seinem eigenen Volk aufwachsen. Auch hier beschreibt der biblische Text die junge Miriam als einen Menschen mit aussergewöhnlicher Unerschrockenheit und Geistesgegenwart.
Die rabbinische Tradition ging noch einen Schritt weiter. In einer recht erstaunlichen Midrasch lesen wir, wie Miriam ihrem Vater Amram gegenübertrat und ihn davon überzeugte, seine Meinung zu ändern. Als er von dem Befehl hörte, jedes männliche israelitische Kind müsse im Fluss ertränkt werden, forderte er die Israeliten dazu auf, sich von ihren Frauen scheiden zu lassen, so dass sie keine Kinder mehr gebären würden. Vom logischen Standpunkt aus hatte er vollkommen recht.
Konnte es richtig sein Kinder auf die Welt zu bringen, wenn sie mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit bei der Geburt getötet würden ? Doch Miriam, so lautet die Überlieferung, machte ihm Vorhaltungen. "Deine Bestimmung," sagte sie, "ist noch schlimmer als diejenige des Pharaos. Die seinige betrifft nur die Knaben; dein Befehl betrifft alle. Er nimmt den Kindern die Möglichkeit, heute in dieser Welt zu leben, du nimmst ihnen die Möglichkeit, auch in Zukunft zu leben." Amram gab nach und so wurde Moses geboren. Die Bedeutung der Geschichte ist klar. Miriams Glaube war grösser als derjenige ihres Vaters.
Dritte und in gewisser Hinsicht verwirrendste Heldin ist die Tochter des Pharaos, die gemäss der Überlieferung Bitya hiess. Sie hatte den Mut, ein israelitisches Kind zu retten und es als ihr eigenes im Palast aufzuziehen, in dem ihr Vater die Vernichtung der Israeliten plante. Können wir uns vorstellen, die Tochter von Hitler, Eichmann oder Stalin habe dasselbe getan? In ihrer nur leicht umrissenen Figur – in der Frau, die Moses seinen Namen gab - vereinen sich Tapferkeit und Anmut und wecken unsere Bewunderung.
Die vierte Frau erscheint erst später in der Geschichte: es ist Zipporah, Moses Frau. Sie ist die Tochter eines Midianiterpriesters, jedoch entschlossen, Moses auf seiner Mission nach Ägypten zu begleiten, obwohl es für sie keinen Grund gibt, ihr Leben bei einem derart gefährlichen Unterfangen aufs Spiel zu setzen. In einem zutiefst rätselhaften Abschnitt rettet sie das Leben von Moses, indem sie ihren Sohn beschneidet. Von ihr erhalten wir den Eindruck einer Frau mit eisernem Willen, die in einem entscheidenden Moment besser erkennt als Moses selbst, was G'tt von ihnen verlangt.
Ich habe die zwei Personen, die als erste erscheinen, bis zum Schluss aufgespart, denn sie haben den grössten Beitrag dazu geleistet, den moralischen Horizont der Menschen zu erweitern. Ich denke an die beiden Hebammen Schifrah und Puah, die den ersten Genozidversuch des Pharaos vereitelten. Trotz des Befehls, die männlichen Kinder der Israeliten bei der Geburt zu töten, "fürchteten [sie] G'tt und taten nicht, wie der König von Ägypten ihnen gesagt hatte, sondern liessen die Kinder leben." Sie wurden vorgeladen und des Ungehorsams beschuldigt, doch sie überlisteten Pharao und erfanden eine schlaue Ausrede: die hebräischen Frauen, sagten sie, seien kräftig und würden ihre Kinder gebären, bevor die Hebammen da seien. So entkamen sie der Bestrafung und retteten Leben.
Die Bedeutung der Geschichte über die Hebammen liegt darin, dass es das erste mir bekannte Beispiel für den Grundsatz ist, der zu den grössten Beiträgen der Juden zu Gunsten der Zivilisation zählt, nämlich die Idee, dass auch die Autorität durch die Moral beschränkt wird. Es gibt Befehle, denen man nicht gehorchen darf. Es gibt Verbrechen gegenüber der Menschheit, die man nicht entschuldigen kann durch die Beteuerung "Ich habe nur einem Befehl gehorcht." Dieses Konzept, allgemein als "ziviler Ungehorsam" bekannt, wird in der Regel dem amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau aus dem 19. Jahrhundert zugeschrieben und gelangte nach dem Holocaust und den Nürnberger Prozessen ins internationale Bewusstsein. Sein wahrer Ursprung liegt jedoch viele tausend Jahre zurück und ist auf zwei Frauen zurückzuführen, Schifra und Puah.
Durch ihren Mut im Verborgenen haben sie sich einen Platz in der ersten Reihe unter den Helden des moralischen Lebens gesichert. Sie haben uns gelehrt, dass das Gewissen wichtiger ist als Gehorsam, die Gerechtigkeit wichtiger als das staatliche Gesetz.
Die Stellung der Frau im Judentum hat sich im letzten Jahrhundert radikal verändert. Einige behaupten, man hätte noch weiter gehen sollen, doch in Wirklichkeit hat sich vieles tiefgreifend verändert. Heute bestehen Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen, die es früher noch nie gegeben hat. Persönlichkeiten wie die verstorbene Nechama Leibowitz und Aviva Zornberg haben sich als herausragende Figuren in der Welt der Torah durchgesetzt. Wir werden diese Entwicklung auf jüdische Art fortsetzen: ruhig, allmählich und in Ehrfurcht vor dem Wort und dem Geist des jüdischen Gesetzes. Doch an diesem Pessachfest gibt es etwas, was wir alle tun können, nämlich die Geschichte der sechs Frauen zu erzählen, die zum Teil Jüdinnen, zum Teil Nichtjüdinnen waren, und deren Glauben, Mut und moralische Vorstellungskraft den Exodus ermöglicht haben. "Rechtschaffenen Frauen haben es unsere Vorfahren zu verdanken," sagten die Weisen, "dass sie aus Ägypten fliehen konnten." Die Erinnerung an sie kann uns auch heute noch Kraft geben.
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