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Inhaltsangabe Gerechtigkeit Frühling 2007 - Pessach 5767

Editorial
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Pessach 5767
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Gerechtigkeit
    • Die Affäre Kepiro [pdf]

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Das Gute Gedächtnis
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Die Affäre Kepiro

Von Dr. Efraim Zuroff *
Wahrscheinlich ahnte A.M. nicht im Entferntesten, dass seine gute Tat letztendlich die Entlarvung eines der wichtigsten noch unbestraften Nazi- Kriegsverbrecher der Welt ermöglichen würde, doch dies haben gute Taten oft so an sich. In seinem Fall war es allein die Chuzpe eines Bekannten in Schottland, eines älteren Ungarn, der mit seiner Rolle als Offizier der ungarischen Gendarmerie bei der Deportation von Juden nach Auschwitz prahlte, die ihn im Februar 2005 dazu veranlasste, eine E-Mail an die Adresse für allgemeine Informationen des Wiesenthal Center in Los Angeles zu schicken.
"Hallo, ich habe den erschreckenden Medienrummel der letzten Zeit um Auschwitz genau verfolgt, insbesondere die ausgezeichnete BBC-Sendung gestern Abend betreffend die ungarischen Juden? Es ist allgemein bekannt, dass der ungarische Staatsbürger Istvan Bujdoso? während des Kriegs Mitglied des Csendor (Gendarmerie) war? Er gibt nur zu gern Geschichten zum Besten, wie sehr er an den Massendeportationen von Juden beteiligt war, er beschreibt die Züge in allen Einzelheiten usw.
Mir scheint, dieser Mann ist bisher dem Gesetz immer erfolgreich entkommen? und es macht mich traurig, dass es ihm gelungen ist, sich in Schottland niederzulassen, und dass er sich hier nun mit seinen Kriegsgeschichten brüstet. Vielleicht könnten Sie diese Information an eine entsprechend Person weiterleiten, die den Fall näher untersucht." Am Schluss seines Mails, das sich hinterher als unglaublich ironisch erwies, gab unser schottische Informant zwei Wünschen Ausdruck, wobei sich der erste zum Glück nicht erfüllte: "Es läge mir sehr am Herzen, dass dieser Mann ab sofort den Mund hält und vielleicht gar eine gewisse Reue für seine Beteiligung am Holocaust zeigt."
Es erwies sich, dass Bujdoso noch heute keinerlei Bedauern betreffend seine Rolle bei den Verbrechen der Judenvernichtung ausgedrückt hat, dass es ihm aber ein anscheinend unbändiges Bedürfnis war, über diese "heroische" Phase in seinem Leben zu sprechen, was letzten Endes die Entlarvung eines noch viel schlimmeren Kollegen ermöglichte.
So willkommen uns der Hinweis aus Schottland war, (wir erhalten nicht jeden Tag einen vollständigen Originalnamen und einen präzisen Vorwurf, den man theoretisch untersuchen könnte) so fehlten doch die drei wichtigsten Elemente, die uns zunächst an der Überprüfung des Verdachts hinderten.
Uns fehlten das Geburtsdatum, die aktuelle Adresse und, ganz wichtig, der Ort in Ungarn, wo er an den Deportationen teilgenommen hatte. In den nächsten Wochen korrespondierte ich mit A.M. in der Hoffnung, er könne uns die ausstehenden Informationen beschaffen. Schliesslich liess er mir Bujdosos neuen Namen, ein neueres Foto und seine gegenwärtige Adresse zukommen, war aber leider nicht in der Lage, den Ort seiner Verbrechen zu nennen, was unsere Untersuchungen im Grunde bremste. Wir durchsuchten lange Listen der ungarischen Gendarmerie und prüften diverse Ansätze für Nachforschungen, konnten aber nicht herausfinden, wo er im Frühling 1944 stationiert war.
Durch diesen Mangel an Fakten kam die Untersuchung monatelang zum Stillstand, bis ein schottischer Journalist namens Michael Tierney nach Israel reiste, um für den Glasgow Herald eine Titelgeschichte über Nazi-Jäger zu schreiben. Im Laufe meines Interviews erzählte ich ihm von unserem "schottischen" Verdächtigen und erkundigte mich, ob er es nicht versuchen würde, ihm die fehlenden Informationen zu entlocken. Michael musste nicht lange dazu überredet werden. Da er unseren Bemühungen offensichtlich positiv gegenüberstand, stimmte er sofort zu, und ich nehme an, dass auch die Aussicht auf einen spannenden "lokalen" Scoop sich zu unseren Gunsten auswirkte.
Es vergingen aber Monate, bevor irgendein Fortschritt verzeichnet werden konnte. Er hatte ursprünglich gehofft, die fehlenden biografischen Daten über einen befreundeten Detektiv zu erhalten, doch die Suche nach dem unbekannten Geburtsdatum erwies sich als viel schwieriger, als anfänglich angenommen. Im Frühsommer 2006 jedoch erfolgte endlich ein Durchbruch. Er hatte mit Bujdoso direkt Kontakt aufgenommen und fuhr nach Selkirk, um ihn zu befragen, angeblich für eine Story über in Schottland lebende Ungarn. Ich versuchte meine Erwartungen herunterzuschrauben, da ich von den Ergebnissen derartiger Missionen schon oft enttäuscht worden war, und wartete somit ungeduldig auf die Resultate; ich hoffte das Beste, war mir aber bewusst, dass sie durchaus auch enttäuschend ausfallen konnten.
Diesmal jedoch erhielt ich glänzende Nachrichten. Der Journalist hatte nicht nur herausgefunden, wo Bujdoso gedient hatte, letzterer prahlte auch damit - als Antwort auf eine Frage nach der Identität eines jungen ungarischen Gendarmerieoffiziers, dessen Foto bei Bujdoso an der Wand hing -, dass er Kontakt mit dieser Person habe, einem sehr viel höher gestellten Gendarmerieoffizier namens Sandor Kepiro. Dieser hatte ihn überdies zwei Jahre zuvor in Schottland besucht, und die beiden Kameraden telefonierten regelmässig miteinander.
Ich brauchte nicht lang, um zu begreifen, wie schwerwiegend diese Information letztendlich war. Ich erkannte den Namen Sandor Kepiro nicht, doch als ich nach Yad Vashem ging, um mich mit Dr. Gavriel Bar-Shaked, dem dortigen Experten für Ungarn, zu beraten, traute er seinen Ohren kaum. Kepiro, so erklärte er mir, sei ein bedeutender ungarischer Kriegsverbrecher, der zu den Gendarmerie- und Armeeoffizieren gehörte, die für den Massenmord an über 1'200 Zivilpersonen (vor allem Juden) vom 23. Januar 1942 in der Stadt Novi Sad verantwortlich waren.
In Wirklichkeit war Kepiro für seine Rolle bei diesen grausamen Ereignissen schon zweimal von ungarischen Gerichtshöfen verurteilt worden. Im Januar 1944 war er mit 10 Jahren Gefängnis und 1946 (in absentia) mit 14 Jahren Haft bestraft worden, doch in Wirklichkeit waren diese Urteile nie vollzogen worden. Als die Nazis Ungarn im März 1944 besetzten, war Kepiro begnadigt, befördert und wieder an seinem Posten als hochrangiger Gendarmerieoffizier eingesetzt worden. Nach dem Krieg flüchtete er und man hat seine Spur seither nicht mehr gefunden, was die Neuigkeiten aus Schottland so überraschend machte.
Doch ein Puzzleteil fehlte immer noch: wo lebte Kepiro gegenwärtig? Einmal mehr baten wir Michael Tierney, sich bei Bujdoso noch einmal nach den fehlenden Details zu unserem Verdächtigen zu erkundigen. Innerhalb eines Tages wussten wir bereits, dass Kepiro heim nach Ungarn gekehrt war, und mit Hilfe von Freunden in Budapest gelang es mir, ihn in einem hübschen Sandsteinhaus an der Leo-Frankel-Strasse 78 aufzuspüren, genau gegenüber von einer Synagoge (!). Es stellte sich heraus, dass er 1945 nach Österreich und drei Jahre später nach Argentinien geflohen war, wo er bis 1996 lebte. Kepiro behauptet, er habe sich in diesem Jahr bei der ungarischen Botschaft in Buenos Aires erkundigt, ob er nach Hause kehren könne, ohne Strafverfolgung zu riskieren, und man habe ihm das zugesichert.
Am 1. August 2006 legte ich die Dokumente und Beweismittel sowie die Informationen betreffend Kepiros aktuellen Aufenthaltsort den ungarischen Staatsanwälten vor und ersuchte sie, seine Urteile so schnell wie möglich zu vollstrecken. Die Staatsanwälte antworteten, sie würden die beiden Urteilssprüche natürlich revidieren müssen, doch wenn einer der beiden für Genozid, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit ausgesprochen worden sei, die alle nicht verjähren können, dann würde Kepiro ganz bestimmt bestraft werden.
Wenn das nur so einfach wäre. Unglaublich, aber wahr: Sechs Monate später ist noch keines der früheren Urteile in den ungarischen Archiven gefunden worden, der Fall ist zurzeit hängig. Zum Glück war es mir dank der Hilfe von Dr. Antonijevic vom Museum für Genozidopfer in Belgrad möglich, eine Kopie des Urteils von 1944 aus dem Nationalarchiv von Jugoslawien (Novi Sad gehörte zum jugoslawischen Territorium und war von den Ungarn besetzt, als die Massenmorde stattfanden; heute ist es ein Teil von Serbien) aufzutreiben, doch die Staatsanwälte wiesen darauf hin, die Verurteilung von 1944 für den Verstoss gegen die Bestimmungen der ungarischen Streitkräfte sei nicht mehr gültig, so dass der Fall immer noch nicht abgeschlossen werden kann. Das Urteil von 1946 betraf angeblich Kriegsverbrechen, doch es verschwand aus den Archiven; daher befindet sich das Gericht in einer juristisch heiklen Lage. Unter diesen Umständen beschloss ich, den Fall an die Öffentlichkeit zu bringen, was ihm lokale Berühmtheit einbrachte.
Als die ungarische Aussenministerin Kinga Goncz dieses Jahr Israel besuchte, verlangte ich von der Regierung, sie solle Nachforschungen betreffend eine mögliche Vertuschung der Informationen über den Aufenthaltsort Kepiros in Argentinien und seine spätere Entscheidung nach Budapest zurückzukehren durch ungarische Diplomaten veranlassen. Was zunächst nach einem Fall aussah, bei dem es um einen geflüchteten und spurlos verschwundenen Nazi-Kriegsverbrecher ging, entpuppt sich immer mehr als eine riesige Vertuschungsaktion durch Regierungsbeamte; dies stellt aber ebenfalls einen Teil des Strebens nach historischer Gerechtigkeit und Wahrheit dar.
Ende Januar wurde ich als Hauptredner an die jährliche Gedenkfeier eingeladen, die von der Stadt Novi Sad für die Opfer des Massakers von 1942 an den Ufern der Donau finanziert wird und nicht weit von der Stelle entfernt stattfindet, wo die meisten Opfer von den Ungarn erschossen wurden. Die diesjährige Feier erhielt ihre besondere Bedeutung durch die Relevanz der aktuellen Entwicklung. Nun, da Kepiro in der Öffentlichkeit stand, existierte plötzlich eine konkrete Zielscheibe für den Schmerz, die Traumata und die Verletzungen jener, die durch die Ungarn zu "Waisen" geworden waren.
Wurde mein Ruf nach Gerechtigkeit in Budapest erhört? Weniger als zwei Wochen später erfuhr ich, dass Kepiro aufgefordert worden war, an einer Konferenz über die Geschichte der ungarischen Gendarmerie zu sprechen, die im Ausbildungszentrum des Justizministeriums stattfinden sollte. Thema seiner Präsentation war: "Wie wurde ich zum Kriegsverbrecher?". Während das Ministerium sein Angebot, die Konferenz zu beherbergen, infolge der Neuigkeiten zurückzog, stellt sich die wichtigere Frage, warum zweifach verurteilte, bis heute unbestrafte ungarische Kriegsverbrecher völlig frei Vorträge an angesehenen Anlässen halten dürfen, obwohl ihre Schuld im Holocaust bereits eindeutig durch einen Gerichtshof nachgewiesen wurde.

*Dr. Efraim Zuroff ist Nazi-Jäger, Historiker, Schoah-Spezialist und Leiter des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles. Man kann mit ihm Kontakt aufnehmen unter: swcjerus@netvision.net.il, oder seine Website besuchen: www.operationlastchance.org.

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