Bei einer Reise durch Osteuropa begegnet man immer wieder den düsteren Schatten der Schoah, die Kollaboration der lokalen Bevölkerung und die Vernichtung der jüdischen Mitbürger stellt in den verschiedenen Ländern eine Konstante dar, die wir zwangsläufig in allen in den vergangenen Jahren veröffentlichten Reportagen erwähnt haben. Doch obwohl eine der obersten Pflichten einer jüdischen Publikation darin besteht, das Gedenken zu fördern, darf sich diese nicht auf die Opfer beschränken, sondern sollte auch den Heldenmut der Juden hervorheben und in Erinnerung rufen.
Da die Deutschen Aserbaidschan nicht besetzt hatten, wurde die jüdische Bevölkerung hier verschont. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die jüdische Gemeinschaft Aserbaidschans selbst in den Jahren 1937-38 (und später 1952), als sich der Antisemitismus in der UdSSR auf dem Höhepunkt befand, praktisch nicht mit dem Hass gegen die Juden konfrontiert war; zahlreiche Gemeindemitglieder nahmen weiterhin aktiv am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Republik teil. Beim Spaziergang durch die Strassen Bakus kann der aufmerksame Beobachter ausserdem bronzene Erinnerungstafeln entdecken, auf denen der Taten grosser aserbaidschanischer Juden gedacht wird; unter ihnen befindet sich der Nobelpreisträger für Physik Lev Landau, Dr. Salomon Gusman, einer der berühmtesten Ärzte der Republik, oder auch der junge jüdische Panzertruppensoldat Albert Agarunov, der posthum zum Helden der Nation ernannt wurde. 1992 im Alter von 23 Jahren im Krieg von Nagorny Karabach gefallen, an dem zahlreiche junge Juden teilnahmen, folgte Albert Agarunov dem Beispiel der Juden Aserbaidschans, die Nazideutschland als Soldaten der Roten Armee bekämpften.
In Baku trafen wir uns zunächst mit Golda Samuelovna Zuar, die uns mit einem Teil ihrer Medaillen geschmückt empfing (alle zusammen wären zu schwer gewesen?). Sie wurde in Vitebsk in Weissrussland geboren und trat 1941 der Roten Armee bei, wodurch sie der Deportation in die deutschen Todeslager entkam, wo 47 ihrer Familienangehörigen ermordet wurden. Ihre Einheit, mit der Überwachung des Luftraums betraut, kämpfte zuerst in Weissrussland, dann in Österreich und in Berlin, bevor sie in die Mandschurei verlegt wurde. Innerhalb der Armee lernte sie ihren Mann kennen, einen Aserbaidschaner, mit dem sie sich später in Baku niederliess, wo sie nach dem Krieg in einer Fabrik arbeitete. Mit dem grössten Stolz erzählt sie die Geschichte, wie sie in einem Gefangenenlager eigenhändig einen deutschen Gefangenen umbrachte, der die Lebensmittel der anderen Häftlinge zu stehlen versuchte. Als ihr Vorgesetzter sie zur Rede stellte und sie fragte, weshalb sie so gehandelt habe, antwortete sie einfach: «Ich bin Jüdin, die einzige Überlebende einer Familie von 48 Personen, von denen 47 von den Deutschen getötet wurden. Dieser Mann war ein Dieb und ich begreife nicht, weshalb ich diesen Deutschen nicht hätte umbringen dürfen». Einige Tage später wurde sie von Molotow persönlich ausgezeichnet. Auf meine Frage, welche Medaille sie mit dem meisten Stolz erfülle, zeigte sie mir eine kleine, erst vor kurzem verliehene Auszeichnung: «Anlässlich der Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Yad Vaschem bei Jerusalem haben wir Veteranen eine zu diesem Anlass kreierte Gedenkmedaille bekommen. Das ist sie, sie kommt aus Jerusalem, von dem Ort, wo die Erinnerung unseres Volkes und diejenige meiner ermordeten Familie hochgehalten wird; ich trage sie mit grösstem Stolz.» Heute erzählt Golda ihre Geschichte der jüdischen Jugend.
Neben dieser unwahrscheinlich beeindruckenden Frau haben wir auch mit dem Veteran David Mikhaelevitch Malikin gesprochen. Er wurde 1927 in Dniepropetrvsk in der Ukraine geboren und trat 1944 im Alter von 17 Jahren in die Rote Armee ein. Nach der Ausbildung zum Panzerfahrer wurde er später einer Einheit von Aufklärern zugeteilt, welche die Strassen für die Panzer vorbereiten sollte. Nachdem er in der Ukraine gegen die Deutschen gekämpft und sie verfolgt hatte, gehörte er zu den ersten Befreiern Berlins. Seine Einheit kam dann nach Prag, wo er aktiv an der Verhaftung eines Nazigenerals beteiligt war, der mit seinem Archiv zu fliehen versuchte. Nach dem Krieg liess er sich 1950 in Baku nieder, um an der Militärakademie zu studieren und seine Karriere in der sowjetischen Armee fortzusetzen. Er hat sein ganzes Leben in Baku verbracht. Heute wirkt David Mikhaelevitch Malikin als Präsident der Vereinigung der jüdischen Veteranen von Aserbaidschan. Auf die Frage, zu welchem Zeitpunkt er im Krieg erfahren habe, was den europäischen Juden widerfahren sei, antwortete er: «Im Grunde wussten wir gar nichts. Wir haben erst nach dem Krieg das gesamte Ausmass dieser Gräueltaten erfahren. Da es aber viele jüdische Soldaten gab, zirkulierten auch zahlreiche Gerüchte, in denen von allen möglichen Massakern an der Bevölkerung und von anderen schrecklichen Dingen die Rede war. Uns waren zwar keine Einzelheiten bekannt, doch wir wussten, dass wir Nazideutschland besiegen mussten, da es sowohl für uns Juden als auch für den Rest der Welt die Verkörperung des Bösen war. Mit dieser Einstellung haben wir gekämpft und unser Leben geopfert.»
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