Die Tat-Juden (oder Juhuro) waren lange Zeit traditionsgemäss in Landwirtschaft, Gartenbau und Viehzucht tätig. Sie bauten vor allem Weizen und Tabak an und taten sich im Kaukasus insbesondere durch die Herstellung einer natürlichen Lebensmittelfarbe namens "Marna" hervor. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird das Leben der Tat-Juden durch eine Flut von Verordnungen eingeschränkt: sie dürfen nun nicht mehr Ackerbau betreiben, obwohl sie zu jener Zeit die Eigentümer des Bodens sind. Allmählich werden aus den Grundbesitzern rechtlose Angestellte. Sie sind verpflichtet, Land zu mieten, doch weil die Preise immer weiter steigen, erweisen sich Landwirtschaft und Viehzucht bald nicht mehr als einträglich. Diese Situation ist in erster Linie auf die heftige Konkurrenz zwischen den seit langem hier ansässigen lokalen Landwirten und neu zugezogenen Bauern zurückzuführen.
In der Folge wenden sich die Tat-Juden dem Handel zu, wobei einige von ihnen ein eigenes kleines Geschäfte besitzen und andere in die Stadt ziehen, wo immer mehr Arbeitskräfte benötigt werden. Wiederum andere sind in der Fischereiindustrie an den Küsten, am Ufer des kaspischen Meeres beschäftigt, so z.B. in den Städten Hadjmas, Hudat und Derbent. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind die meisten Tat-Juden nach Baku abgewandert. Es ist bekannt, dass in dieser Stadt ab 1847 die ersten Bohrungen Russlands auf der Suche nach Erdöl stattfinden. Dieses Datum gilt als historischer Wendepunkt: die massive Entwicklung von Erdölquellen hat eingesetzt, die Erdölförderung verwandelt sich mit der Zeit in eine eigentliche Industrie. Die Schaffung zahlreicher Arbeitsplätze und die Aussicht auf die Anhäufung riesiger Vermögen locken Menschen aus allen Nationen und Ethnien nach Baku. 1830 besteht die Bevölkerung der Stadt aus 2'154 Einwohnern, von denen nur 26 Juden sind. 1870 zählt man 50 Juden (Taten und Aschkenasim). Die Situation schlägt radikal um, als sich die Ölindustrie entwickelt. Gemäss der Statistik lebten im Jahr 1897 insgesamt 2'340 Juden in Baku, 1913 steigt diese Zahl auf 9'689: zu diesem Zeitpunkt machen die Juden 4,5 % der Gesamtbevölkerung aus. Die Erdölrevolution zieht eine Flutwelle von gut ausgebildeten Juden an, die aus dem Zentrum Russlands und aus den Randregionen stammen: Ingenieure, Lehrer, Ärzte und Rechtsanwälte versuchen hier ihr Glück. Die Hauptsynagoge von Baku wird 1910 errichtet. Die Tat-Juden leben nun in den neu erbauten jüdischen Vierteln. Schon 1919 wird die Synagoge der aus Schirvan stammenden Tat-Juden eingeweiht. Kurze Zeit später entstehen auch in der Erdöl-Vorstadt Sabuntchi und im "Geschäftsquartier" von Baku Synagogen der Taten.
Damals gibt es nicht viele bedeutende Händler unter den wenigen Juden. Im "Geschäftsquartier" trifft man zwar die Läden an, die den Gebrüdern Chayim-Mosche Iob und Daniel-Mayer Iob gehören, doch die Mehrheit der zugewanderten Tat-Juden sind in Wirklichkeit ruinierte Bauern, die sich aus Not ihren Lebensunterhalt als billige Arbeitskräfte verdienen. Allmählich entstehen engere Beziehungen zwischen den Tat-Juden und ihren aschkenasischen Glaubensbrüdern. Das intellektuelle Leben von Baku erlebt einen immensen Aufschwung.
Nach dem Sturz des Zarenregimes in Russland eröffnet die Stadt die jüdische Volkshochschule, die von einigen Zionisten des jüdischen Nationalrates von Aserbaidschan geleitet wird. Unter den Studenten befinden sich auch Vertreter der Gemeinschaft der Taten, die zu jenem Zeitpunkt über 2'000 Mitglieder umfasst. Felix Schapira, ein berühmter Gelehrter und der Verfasser des Wörterbuchs Hebräisch-Russisch, hält Vorträge über die Tat-Juden. Ein Club namens Iyaiev wird zum kulturellen Zentrum der Taten. Hier wird die erste Vereinigung zur Bekämpfung des Analphabetismus und der Unwissenheit gegründet. Bedeutende Kulturveranstaltungen werden hier abgehalten, insbesondere in der Sprache der Tat-Juden. Am 20. April 1920 kommt in Baku das sowjetische Regime an die Macht. Das Programm für die Erhöhung des Ausbildungsniveaus und des Kulturwissens der Tat-Juden wird aber fortgesetzt. Es werden Schulen mit einem Lehrplan in ihrer Sprache gegründet. An Hochschulinstituten in Baku, Moskau, Rostov und in Zentralrussland dürfen sich junge Tat-Juden ohne Eintrittsexamen immatrikulieren. So entsteht in dieser Gemeinschaft die erste Generation von jüdischen Intellektuellen. Diese positiven Entwicklungen können auf zwei Initiativen zurückgeführt werden, die 1927 und 1929 im Kongress lanciert werden, wobei es sich bei dieser Institution um ein republikübergreifendes Parlament handelt, das einen Lehrplan für die Tat-Juden der gesamten Sowjetunion ausarbeitet. Folgende Beschlüsse werden vom Kongress verabschiedet: die Einführung eines vereinfachten Alphabets, das phonetisch an die Sprache der Taten angepasst wurde; die Gewährung eines Budgets für die Publikation von Schulbüchern und Zeitschriften für Kinder aus bescheidenen Verhältnissen; die finanzielle Unterstützung von Studenten; die Organisation von Kursen für die berufliche Ausbildung junger Mädchen und Frauen der Gemeinschaft. Für die Umsetzung dieses umfangreichen humanitären und pädagogischen Programms sind Yaakov Agarunov, Nathan Salomonov, Raphael Agarunov und andere zuständig, die militanten Pioniere von Guba.
Man kann sich über diese ausserordentliche Veränderung wundern: innerhalb von knapp 15 Jahren - eine extrem kurze Zeit angesichts der Geschichte- erreicht das Volk der Tat-Juden, das während Jahrhunderten verfolgt wurde und weder Bildung noch Kultur besass, das Niveau der gut ausgebildeten Völker der Sowjetunion, und zwar dank den für sie entwickelten pädagogischen und humanitären Programmen. Von dem Moment an, da die Tat-Juden über eine eigene Schrift verfügen, veröffentlichen sie Lehrbücher, literarische Werke, Zeitungen und Magazine in ihrer Sprache. Zum ersten Mal bringt die Gemeinschaft Ärzte, Journalisten, Wissenschaftler und Industrielle hervor. Die Namen der ersten Tat-Juden, die dank den Subventionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine höhere Ausbildung genossen haben, sind uns bekannt: Riva Khanukiev, Sasson Gorschumov (Ärzte), Elchanan Schaulov, Leonid Lazarev (Wissenschaftler), Gilil Gorschumov, Mokhoil Yakubov (Bank- und Finanzwesen), Zevulun Yakubov (Militär). Die Juden Aserbaidschans leisten ihrem Staat nun bedeutende Dienste in den Bereichen Wissenschaft, Kultur und Kunst. Die Tat-Persönlichkeiten aus Baku, die jene Zeit am nachhaltigsten geprägt haben, sind die Künstler Yaakov Agarunov, Simando Aschirov, Boris Zerbailov und Yaakov Iliegoiev, die Journalisten und Reporter Rachamim Rubinov, Lazar Lazarev, Ovadia Ovadiev und Iskhok Khanukov, die Wissenschaftler Elchanan Schaulov, Mordechai Abramov, Schabtai Schabtaiev, Schirin Rubiov und viele andere.
Die Tat-Juden nehmen aktiv an der Konsolidierung der Erdöl- und Gasindustrie von Aserbaidschan teil. Unter ihnen ragt Yaakov Agarunov (1907-1992) aus Krasnaya Sloboda zweifellos am meisten heraus. Er wurde 1932 zum Verantwortlichen für die Erdölindustrie ernannt und hatte zuvor schon am Programm mitgewirkt, mit dem das Bildungsniveau seines Volkes verbessert werden sollte. Er war insbesondere als Chefredakteur der republikanischen Zeitung "Kommunist" in der Sprache der Juhuro tätig. Gleichzeitig fungierte er als Vizepräsident des offiziellen aserbaidschanischen Verlags für Tat-Literatur. In seinem 1995 veröffentlichten Buch "Das grosse Schicksal eines kleinen Volkes" beschreibt Yaakov Agarunov den Weg der Taten zur Intelligenzija.
Die politische Führung der Republik Aserbaidschan erkennt schnell das unglaubliche Organisationstalent von Yaakov Agarunov und beschliesst, ihn auf den prestigereichen Posten eines Parteisekretärs in Baku zu berufen; ab diesem Zeitpunkt trägt er die oberste Verantwortung für Erdölindustrie, Staatshaushalt und strategische Ressourcen. 1940 erreicht die Erdölförderung die Rekordmarke von 23,5 Millionen Tonnen. Hunderte von Menschen aus Krasnaya Sloboda und Staatsbürger anderer ethnischer Abstammung sind an der Entdeckung und Entwicklung neuer Erdölvorkommen beteiligt. Einige sollten später für ihre Dienste zugunsten der Nation Auszeichnungen und Medaillen von der sowjetischen Regierung erhalten. Während der schwierigen Jahre des Zweiten Weltkriegs, als der Kampf gegen das faschistische Deutschland tobte und Aserbaidschan bedroht war, ruft man einmal mehr Yaakov Agarunov zur Hilfe; dieses Mal überträgt man ihm das strategisch wichtige nationale Amt eines Direktors der Erdölindustrie "Baku II" in den westlichen Regionen der Sowjetunion. Um die Entwicklung dieser neuen Ölquellen voranzutreiben, nimmt er 10'000 Mitarbeiter mit, unter ihnen zahlreiche Tat-Juden, die sich in der industriellen Produktion in dieser Branche einen Namen gemacht haben. In seinem Werk "Das Erdöl und der Sieg" (1992) berichtet Agarunov von diesem Auftrag, aus dem die Schaffung der sowjetischen Erdölindustrie in den Kriegsjahren hervorgeht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zählt die Gemeinschaft der Tat-Juden ca. 20'000 Mitglieder, deren Wirken diverse kommerzielle Bereiche sowie die intellektuellen Kreise des modernen Stadtlebens prägt. Wieder handelt es sich um die jüdische Intelligenzija der Taten, die einmal mehr ihre Talente und ihre Tatkraft zugunsten von Politik, Wirtschaft, Kultur und Industrie der Republik Aserbaidschan beweist. In seinem Werk "Die Tat-Juden von Guba" beschreibt Hanail Abramov, der ehemalige Direktor des Regierungsarchivs der Sektion Guba, das Leben und die vielfältigen Aktivitäten der Tat-Juden in allen Einzelheiten. Heute leben infolge der massiven Auswanderung nach Israel nur noch rund 6'000 Juden dieser Gemeinschaft in Baku. Sie fahren fort, ihre Traditionen und ihre spirituellen Werte zu bewahren, und tragen gleichzeitig zum Aufschwung des modernen und unabhängigen Staates Aserbaidschan bei.
*Professor Mikhael Agarunov, Wissenschaftler und Historiker, Spezialist für die Geschichte des Tat-Judentums.
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