Für eine gelungene Reportage gibt es drei Grundvoraussetzungen: geistige Offenheit, gute Kontakte vor Ort und eine gründliche Vorbereitung und Dokumentation. Aus diesem Grund suchte ich vor meiner Reise nach Aserbaidschan nach Informationen zum jüdischen Leben in diesem Land. Bei meinen Nachforschungen auf dem Internet stiess ich als erstes auf folgende Meldung: «Ein lokaler Knabenchor zeugt vom Stolz der Juden in Aserbaidschan». Durch diesen doch etwas seltsamen Titel aufmerksam geworden, klickte ich den Link an und stiess auf das Deckblatt einer Musik-DVD, auf dem ein chassidischer Rabbiner abgebildet war. Er hielt eine Gitarre im Arm und war umringt von acht jungen Leuten in schwarzen Hüten. Titel der CD: Bnei Levi - Boy's Choir of Rabbi Meir Brook.
Der Begleittext fiel zwar knapp, aber aussagekräftig aus: «Bnei Levi, der von Rabbi Brook dirigierte jüdische Chor von Baku, hat ein neues Musikvideo mit dem berühmten Lied produziert, in welchem dem aserbaidschanischen Volk für seine Toleranz gedankt wird». Der Text lobt in der Tat die aserbaidschanische Bevölkerung, die zu jeder Zeit Sympathie und Herzlichkeit an den Tag legte, um die gutnachbarlichen Beziehungen zu den Juden zu pflegen.
Seit kurzer Zeit ist der Song auf allen Fernsehsendern des muslimischen Landes omnipräsent. Das Ensemble Bnei Levi wurde vor zwei Jahren im Rahmen der Schule Ohr Avner in Baku von Rabbiner Brook, dem Gründer und Leiter dieser Schule, ins Leben gerufen. Der Rabbiner verfasst seine Lieder auf Aserbaidschanisch und auf Hebräisch selbst und komponiert die Melodie dazu, indem er sich von der jüdischen und aserbaidschanischen Volksmusik inspirieren lässt. Der Erfolg dieses neuen Lieds hat direkt dazu geführt, dass sich zahlreiche Juden, die sich bis dahin nie mit ihrem religiösen Erbe identifiziert hatten, jetzt an die verschiedenen Gemeindeinstitutionen wandten und ihre jüdische Identität voll und ganz ausleben möchten.
Natürlich wollte ich diesen jungen, dynamischen und einfallsreichen Rabbiner sofort kennen lernen, um das Ausmass seiner Tätigkeit besser zu erfassen.
Können Sie uns, bevor Sie die unterschiedlichen Aspekte Ihrer Arbeit erläutern, kurz erzählen, wie Sie von der ansässigen jüdischen Gemeinschaft anerkannt und wahrgenommen werden?
Die alte Redewendung «Aller Anfang ist schwer» trifft ganz besonders auf die Phase zu, als wir uns in Baku niederliessen. Die hier lebenden Juden haben nämlich ihre Gewohnheiten und mögen keine Veränderungen. Ich kam vor fünf Jahren in die Stadt, und zwar nicht mit der Absicht, eine religiöse Revolution anzuzetteln, sondern um eine Reihe von Dienstleistungen anzubieten, die das Leben der Juden erleichtern und den aserbaidschanischen Juden von morgen mit Hilfe von Weiterbildungsprogrammen die Möglichkeit geben sollen, ihre jüdische Identität mit mehr Gelassenheit und Hintergrundwissen auszuleben. Man muss sich dazu vor Augen führen, dass heute in Baku ca. 750 jüdische Kinder in irgendeiner Weise an Gemeindeaktivitäten teilnehmen (Schule, Talmud Torah, Jugendvereinigung, Freizeitprogramme etc.). Wir gründeten damals einen Kindergarten und eine Schule und werden heute von fast 200 Schülern besucht, von denen 65% zwei authentisch jüdische Elternteile haben. Wir gehen davon aus, dass etwa 25'000 Juden in Baku leben, auch wenn viele von ihnen gar nicht wissen, dass sie Juden sind. Ich habe vor kurzem einen Fabrikdirektor kennen gelernt, der mir sagte, er sei in Israel gewesen. Als ich ihn nach dem Grund fragte, erwiderte er: «Meine Mutter war Jüdin». Da habe ich ihm erklärt, dass auch er Jude sei, was ihn ziemlich überraschte. Leider ist es seit dem Ende der sowjetischen Ära im Land zu zahlreichen gemischten Eheschliessungen gekommen, so dass sich die Spuren der jüdischen Herkunft in den Familien verlieren.
Wie kommen Sie auf eine so hohe Zahl bei der Menge der authentischen Juden in Baku?
Jedes Kind, das an unseren Lehranstalten aufgenommen wird, ist natürlich authentisch jüdisch gemäss den Regeln der Rechtsprechung (Halachah). Wir etablieren zur Familie eines jeden Schülers ein Dossier, einen eigentlichen genealogischen Baum. Wir haben gemerkt, dass es in fast jeder Familie nahe oder entfernte Verwandte gibt, die in irgendeiner Weise echt jüdisch sind. Bei unseren Gesprächen mit noch unentschlossenen Eltern oder mit Personen, die ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk nicht öffentlich machen wollen, sage ich immer: «Auch wenn Sie es jetzt ablehnen, an Ihre Verbindung zum jüdischen Volk erinnert zu werden, wird es früher oder später jemand anderes tun? und wahrscheinlich nicht auf die netteste Art». Im Allgemeinen wird dieses Argument nicht nur verstanden, sondern auch akzeptiert.
Welche anderen Aktivitäten verfolgen Sie neben der Schule?
Wir bieten ein umfassendes Studienprogramm für Jugendliche und Studierende an, das auch die Eheschliessungen zwischen den Juden fördern und dem jüdischen Gemeindeleben neuen Schwung verleihen soll. Wir pflegen zahlreiche Kontakte zu den Familien und bieten ihnen vielfältige Aktivitäten an. Darüber hinaus haben wir vor kurzem ein modernes und einladendes rituelles Bad eröffnet und hoffen bald auch ein koscheres Restaurant zu besitzen. In meinen Augen besteht unsere Hauptaufgabe aber darin, die Assimilierung zu bekämpfen, die sich heute immer weiter ausbreitet. Dazu muss man wissen, dass sich die Bergjuden, welche die Mehrheit der Gemeinschaft ausmachen, lange Zeit untereinander verheirateten. Die jüngere Generation fühlt sich vom Judentum nicht sonderlich angesprochen und begreift oft nicht, weshalb die Heirat mit einem jüdischen Partner sinnvoll und wichtig sein soll. Über die Weiterbildung, attraktive Programme und die Musik bemühen wir uns nach Kräften, die jungen Juden für ihr religiöses Kulturgut zu interessieren. Leider sind wir an einem Punkt angelangt, wo es nicht mehr darum geht, ob die Leute fromm sind oder nicht; im Wesentlichen muss gewährleistet werden, dass die jüngere Generation überhaupt jüdisch bleibt. So folgen wir an unserer Schule in erster Linie dem staatlichen Lehrplan und vermitteln daneben auch Grundkenntnisse des Judentums, ohne aber an der Schule eine Synagoge zu besitzen.
Rabbiner Brook setzt sich, wie wir sehen, nach Kräften ein und plant ein umfangreiches Entwicklungsprogramm. Wer könnte besser hervorheben, welche Bedeutung die Tätigkeit dieses Rabbiners in seinem Land besitzt als der aserbaidschanische Präsident? Am 8. November 2006 traf der Präsident anlässlich seiner offiziellen Reise nach Brüssel an den Sitz der EU mit den Vertretern der jüdischen Gemeinde zusammen, unter ihnen mit Rabbiner Levi Matusof, Chabad-Abgeordneter bei der EU; er erklärte insbesondere: «In Baku haben wir einen tollen Rabbiner. Er ist nicht nur ein geistlicher Führer der Juden, sondern kann auch singen. Ich sehe seinen Clip oft am Fernsehen, ihn und die Jungs mit den drolligen Hüten und den gelben Hemden, und ich schau ihnen immer sehr gerne zu. Neben seinem Beitrag für unser Land vermittelt er uns auch eine Botschaft des unerschütterlichen Optimismus, und dazu möchte ich ihm ein Lob aussprechen. Und dann begann der Präsident spontan das zentrale Lied auf der DVD von Rabbiner Brook zu singen: «Aserbaidschan, Aserbaidschan, seviran, samiseviran». Welche Ehre und welche Motivationsspritze!
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