Vor langer Zeit, noch unter der Franco-Diktatur (was uns Spaniern schon wie eine Ewigkeit vorkommt), hatte das Regime ein Schlagwort geprägt, das uns, die damalige Jugend, oft zum Lachen brachte: «Spain is different». Die Erfinder dieses Mottos wollten damit, so gut es ging, gegen das Gespenst der internationalen Isolation ankämpfen, in der wir lebten. Man versuchte uns Einheimische also nach Möglichkeit mit dem Verweis auf unser Anderssein zu trösten, d.h. mit der Behauptung, bei uns sei alles anders.
Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich eines Tages einem so platten, so nichts sagenden Werbeslogan beipflichten würde. Doch heute beharre ich jedes Mal, wenn ich mit Freunden aus dem Ausland zusammentreffe, seien es nun italienische Journalisten, französische Schriftsteller oder britische Uniprofessoren, auf dieser vordergründig so simplen Idee, die auf symbolischer Ebene aber derart wirkungsvoll ist, wenn es um das Erfassen unseres Landes oder unserer besonderen «Geisteshaltung»- sofern vorhanden - innerhalb des europäischen Spektrums geht. «Vergesst bitte die üblichen europäischen Denkmuster: im Fall von Spanien", so meine Worte, "ist alles völlig anders.» Und es ist infolge eines nicht demokratischen politischen Systems zu genau jener Zeit, aber auch infolge mehrerer Jahre spanischer Nationalgeschichte dermassen anders, dass es sehr schwer wäre, dies in wenigen Zeilen zusammenzufassen. Darüber hinaus bin ich nicht Historikerin, sondern nur Literaturkritikerin, die in spanischen Magazinen und Zeitungen publiziert und ab und zu Essays veröffentlicht, die ebenfalls rein literarischen Charakter besitzen.
Der grösste und bedeutendste Unterschied besteht darin, erläutere ich meinen jeweiligen Gesprächspartnern, dass Spanien an keinem der beiden Weltkriege auf europäischem Boden beteiligt war. Dies heisst, dass während Jahren alle Themen im Zusammenhang mit diesen zwei entsetzlichen, unvorstellbaren Gemetzeln für die Generation meiner Eltern und sogar für meine eigene, die gegen Ende der 1950er Jahre geboren wurde, in unseren Gesprächen, unseren schulischen Lehrplänen und im Allgemeinen im Wissensfundus eines ganzen Volkes ebenso selten vorkamen wie der Burenkrieg in Afrika oder die Eroberung des Wilden Westens in den USA. Ich muss allerdings zugestehen, dass das Thema bei uns doch hin und wieder diskutiert wurde, da die Familie meiner Mutter aus Frankreich stammte. Ich weiss ebenfalls noch, dass ich bei meiner Grossmutter oft Gegenstände sah - Bücher, Säbel aus der Armee, die irgendeinem Familienmitglied gehörten -, die an das erinnerten, was sie zwei Generationen lang als «den Krieg» schlechthin erlebt hatten: das Trauma, die Apokalypse des "Grossen Kriegs".
Der zweite, auch stark ins Gewicht fallende Unterschied bezog sich auf die Juden. Wir, d.h. Spanien im weitesten Sinne, wiesen (im europäischen Vergleich) eine extreme Andersartigkeit auf, die wiederum auf perfide und schändliche Art in den anderen Ländern Europas zu sehr viel Blutvergiessen führte. Jedenfalls in den meisten von ihnen - warum sollte ich es nicht aussprechen? -, je nach der Intensität und dem Widerstand in den Kriegshandlungen, mit Ausnahme natürlich der berühmten Schweizer Neutralität, von der man uns in den oberen Gymnasialklassen gar nicht genug erzählen konnte. Sollte dies bedeuten, dass an unseren Händen kein Blut und keine Schande klebten? Ich persönlich zweifle daran, dass man dies so leichthin behaupten kann, denn wir waren ja in dieser Zeit hauptsächlich damit beschäftigt, uns in den drei langen Jahren eines barbarischen und verbissenen Bürgerkriegs voller Begeisterung selbst umzubringen. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass dies für die Berichterstattung einer ganzen Generation - derjenigen meiner Eltern, die diese Epoche «live» miterlebt hatte - an die nächste vollauf ausreichte; letztere hörte sich diese Berichte hingebungsvoll an und ersetzte damit die Geschichten von Tod und Zerstörung aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die wahrscheinlich in den Familien jenseits der Pyrenäen, bei «den anderen», erzählt wurden, bei den Europäern, deren Probleme ganz unterschiedlich waren und mit den unsrigen fast nichts gemein hatten.
Wie bereits erwähnt, lernten wir also in der Schule in groben Zügen, dass anlässlich dieses im Ausland stattfindenden Weltkriegs eine grundlose, blutige Jagd auf diejenigen begonnen hatte, die man die Juden nannte und die für uns spanische Kinder bis anhin nur in den Berichten - oder Legenden - aus der Bibel existiert hatten. In meinem speziellen Fall wurden diese völlig unvorbereitet verabreichten Informationen (in den katholischen Schulen, wie auch in der meinigen in Barcelona, so zu sagen nebenbei) durch Bruchstücke ergänzt, die man sich im Flüsterton und voller Entsetzen weitergab, zweifellos um uns Kinder nicht zu verschrecken, die wir diese Gesprächsfetzen zwischen meiner französischen Grossmutter und meiner Mutter aufschnappten. Aufgeschnappte Gesprächsfetzen, die von Dingen handelten, von denen ich damals - ich war neun oder zehn Jahre alt - nicht ahnte, dass sie Namen trugen wie Schoah, Holocaust oder irgendeine andere Bezeichnung, mit der man ein so schreckliches Massaker an Unschuldigen benennt. Ich gebe zu, diese kaum verstandenen, mir zugeflogenen Bruchstücke aus den Unterhaltungen der Erwachsenen haben mich ein Leben lang verfolgt und beschäftigt.
Natürlich erhielt ich in den katholischen Schulen unter Franco nie auch nur die geringste Gelegenheit, irgendein jüdisches Kind kennen zu lernen. Die einzigen «realistischeren» Bereichte stammten von meiner Mutter, dem kosmopolitischsten Menschen, den ich damals kannte. Ich muss eingestehen, dass ihre Anspielungen auf die jüdische Welt immer positiv konnotiert waren. Das französische Gymnasium, in dem sie am Ende unseres Bürgerkriegs und zu Beginn des europäischen Weltkriegs erzogen worden war, wurde nach ihren Angaben von zahlreichen jüdischen Schülern besucht, die sich vor allem in zwei Punkten auszeichneten: a) die meisten waren sehr intelligent, und b) sie erschienen am Samstag nie zu Prüfungen. Der letztgenannte Aspekt besass in unseren Augen, wie unschwer zu ersehen ist, etwas durch und durch Romantisches. Eine andere Geschichte aus dieser Zeit betrifft die allgemein bekannten «künstlerischen» Talente, die dieses Volk, das überall in Europa, ausser in unserem Land, verfolgt wurde, auf ungewöhnliche Weise und erfolgreich in unsere langweilige und provinzielle spanische Welt gebracht hatte, die soeben aus dem Alptraum eines Kriegs zwischen Brüdern unterschiedlicher Ideologien erwacht war. In jenen Jahren, den 40er Jahren des entflammten Europas, war das grosse Idol meiner Mutter und ihrer Freunde ein jüdischer Musiker aus Frankreich namens Bernard Hilda, der mit seinem Orchester nach Barcelona geflohen war und in «La Parrilla» des Hotel Ritz (heute würde man es wahrscheinlich einen Klub oder eine private Diskothek nennen) Jazz spielte, wo sie alle immer tanzen gingen. Vor kurzem würdigte das Bürgermeisteramt von Barcelona, so erzählte mir meine Mutter, diesen Musiker, der damals so «in» war; der Bürgermeister umarmte ihn und sagte ihm, seine Eltern hätten sich dank seiner Musik ineinander verliebt.
Wie gross war nicht meine Verblüffung, als ich im Alter von 23 Jahren in einem Land, in dem im Unterschied zu den umliegenden Nationen anscheinend keine Juden lebten, endlich einen «echten» von ihnen kennen lernte, der nicht nur auf einem Bild oder in einem Bericht vorkam. Ich unterhielt mich in Madrid ahnungslos mit einer Freundin, deren Namen mir zu Beginn noch nicht als «merkwürdig» (Dinah Salama) aufgefallen war, als sie mit mitteilte, sie sei Jüdin. «Endlich ein Jude, der nicht nur in einem Buch steht!», sagte ich zu ihr. Es war natürlich der erste, die erste in diesem Fall, deren Bekanntschaft ich machte. Es handelte sich um jemanden, der nicht den spannenden Buchseiten meines geliebten Joseph Roth entsprungen war und auch nicht den Vertretern der glitzernden jüdischen Welt Wiens angehörte, die bereits untergegangen war und mich so faszinierte und von der Stefan Zweig in seinen Memoiren so wunderbar erzählt. Dinah war die erste und zerstörte ausserdem alle meine vorgefertigten Vorstellungen, denn sie verkörperte den jüdischen Aspekt, von dem ich am wenigsten wusste, ich als begeisterte Leserin europäischer jüdischer Schriftsteller aschkenasischer Abstammung war, aber unwissend gegenüber allem, was die sephardische Welt betraf.
Der wesentliche Unterschied der Gegenwart gegenüber der Epoche, die ich eben erwähnt habe und in der die Juden in den Augen der Spanier völlig verkannt und verloren waren in den mythischen Nebeln der Zeit, besteht darin, dass heute eine Generation, unserer einseitigen Berichte über den omnipräsenten Bürgerkrieg überdrüssig, bereits im «europäischen Gedanken» gross geworden ist, im Gedanken, dass wir nicht mehr isoliert sind, sondern zu einem grossen Ganzen dazugehören, das mit dem mehr oder weniger schwammigen Begriff Europa, Europäische Gemeinschaft, bezeichnet wird. Dazu muss man sich natürlich informieren, lesen, sich Fragen stellen und etwas wagen. Die jungen Leute von heute sowie viele Erwachsene meiner Generation haben entdeckt, dass in Europa ein Krieg mit diversen Ereignissen stattgefunden hat, sie haben von der Schlacht um Verdun und der Landung in der Normandie gehört, und vor allem haben sie mit Entsetzen erfahren, dass Millionen von wehrlosen Menschen, darunter auch Greise und Kinder, auf grausame und erbarmungslose Weise umgebracht wurden. In den vergangenen Jahren sind in Spanien unzählige Bücher über die Nazi-Zeit oder Auschwitz, über das Warschauer Ghetto, die Konzentrationslager oder den Holocaust allgemein erschienen. Insbesondere, so mein Eindruck, in den 5 bis 6 letzten Jahren. Es würde endlose Seiten füllen, wenn man sie einzeln aufzählen wollte, und eine Bibliografie bilden, die jenen wohl bekannt ist, die sich für diese düstere Thematik interessieren.
Worin besteht also das Neue? Neu ist die Veröffentlichung ausgezeichneter literarischer Werke, die von Spaniern verfasst wurden und die vom Holocaust ausgehen, dem schrecklichsten und feigsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Diese Literatur beruht nicht mehr auf den mehr oder weniger vertrauten Themen unserer versunkenen oder auch realistischen Tradition des 19. Jahrhunderts, sondern folgt dem Vermächtnis grosser Meister wie Primo Levi und Imre Kertész. Ich denke dabei an Werke wie das der Katalanin María Angels Anglada, El violín de Auschwitz (Editorial Alfaguara, 1997), oder an die Schriftstellerin Juana Salabert mit Velódromo de Invierno, die in ihrem Roman von den Fakten in Bezug auf «die grosse Razzia im Vel d'Hiv» von 1942 in Paris berichtet und dafür 2001 mit dem prestigereichen Preis Biblioteca Breve des spanischen Verlags Seix Barral ausgezeichnet wurde. Ein weiteres dieser phantastischen Bücher, das die Ereignisse zum Inhalt hat, die damals im übrigen Europa, aber nicht in unserem Land stattfanden, ist der schöne und bewegende Roman von Adolfo García Ortega, El comprador de aniversarios, (Planeta, 2002), in dem der Autor einer realen Figur ein fiktives Leben verleiht, entstanden aus der furchtbaren Einsamkeit des Vergessens, zu der er eines Tages verdammt wurde; es handelt sich um das Kind Hurbinek, das im Alter von drei Jahren in Auschwitz starb und im Buch La tregua von Primo Levi erwähnt wird.
Ein weiteres neues Phänomen, das noch vor einiger Zeit in einem Land wie dem unsrigen völlig unbekannt war, ist das Aufkommen einer neuen Generation sephardischer Schriftsteller, der Schriftsteller der Rückkehr, 500 Jahre nach der Vertreibung. Dies besitzt symbolisch gesehen etwas Aussergewöhnliches, wie man sich denken kann, und bereichert unsere Literatur in jeder Hinsicht; wichtigste Vertreterin dieser Bewegung ist die junge Erfolgsautorin Esther Bendahan, die in Tétouan geboren wurde und im Verlag Éditions Seix Barral zwei Romane veröffentlicht hat: Deshojando alcachofas und Déjalo, ya volveremos.
* Mercedes Monmany ist Journalistin, Literaturkritikerin und Schriftstellerin in Madrid.
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