Nicht selten bewirkt die Pensionierung oder der Tod eines Menschen, der mit seiner Person für eine Sache steht, dass man dem von ihm geführten Kampf in den Augen der Öffentlichkeit ab sofort jede Existenzberechtigung abspricht. Jede mit diesem Kampf verbundene Tätigkeit müsste nach dieser Auffassung daher endgültig eingestellt werden. Genau dies war in weitem Ausmass in Bezug auf die Verfolgung von nationalsozialistischen Kriegsverbrechern und die Bemühungen eingetreten, sie vor Gericht zu stellen. Nach dem Tod Simon Wiesenthals, der sich mit seinem ganzen Wesen weltweit für die Strafverfolgung der Schoah-Verbrecher einsetzte, sind viele Menschen der Ansicht, diese Problematik existiere nun ebenfalls nicht mehr und ausserdem seien die potentiellen Verdächtigen und auch mögliche Zeugen heute bereits sehr betagt.
Diese Annahme hatte sich bereits nach einem Interview mit Simon Wiesenthal durchgesetzt, in dessen Verlauf er seinen Rücktritt angekündigt und bestätigt hatte, er habe eigentlich alle Verbrecher gefunden, nach denen er suchte, mit Ausnahme von Alois Brunner, dem Stellvertreter von Eichmann, und die anderen noch lebenden Verbrecher seien nun zu alt oder zu krank, um vor Gericht zu erscheinen. Von der ersten Behauptung kann man absehen - sie trifft nicht ganz zu, da sie die vielen Nazis ausklammert, die nie gefunden oder verhaftet wurden, darunter auch den Gestapo-Chef Heinrich Müller und Josef Mengele, den Arzt von Auschwitz; betrachten wir aber die zweite Behauptung etwas näher.
Ist es wirklich zu spät, Nazi-Kriegsverbrecher jetzt vor Gericht zu bringen? Will man die schrecklichen Taten ignorieren, die während der Schoah begangen wurden und für die ihre Urheber die Verantwortung übernehmen müssen? Sind wir etwas mehr als 60 Jahre nach der Befreiung der nationalsozialistischen Todes- und Konzentrationslager bereits so weit, dass Recht und Gerechtigkeit hinfällig werden? Können wir uns damit begnügen, uns in unseren Bemühungen allein auf Gedenktage, Dokumentierung und Erziehung zu beschränken?
Die zur Verfügung stehenden statistischen Daten besagen das Gegenteil. Jedes Jahr gibt unser Büro eine Studie über den Stand der Untersuchungen und der Verfolgung von Nazi-Kriegsverbrechen auf der ganzen Welt heraus. Die Schlussfolgerungen dieser Nachforschungen werden am Tag von Jom Haschoah in Jerusalem veröffentlicht. Unser letzter Bericht vom 5. Mai 2005 befasst sich mit dem Zeitabschnitt vom 1. April 2004 bis zum 31. März 2005. Während dieser Zeit - und dies widerspricht eindeutig der weit verbreiteten Annahme, die Bemühungen in Bezug auf die Jagd und die Verhaftung von Nazis gehörten der Vergangenheit an - wurden in den USA fünf Nazis verurteilt und sechs Prozesse gegen Schoah-Verbrecher angestrengt, drei in den USA sowie jeweils einer in Ungarn, Dänemark und Litauen. Zwischen dem 1. Januar 2001 und dem 31. März 2005 wurden in sechs Ländern insgesamt 32 Nazi-Kriegsverbrecher verurteilt. Noch überraschender sind die Zahlen der jüngsten Statistiken, die auf gegenwärtig laufenden oder vor kurzem gestarteten Untersuchungen basieren. Zwischen dem 1. April 2004 und dem 31. März 2005 kam es in elf verschiedenen Ländern zu insgesamt 663 neuen Strafverfolgungen (dies entspricht einem Anstieg von 98% im Vergleich zum Vorjahr). Am 1. April 2005 wurden folglich 1'252 Fälle in 16 Ländern untersucht.
Die Länder, in denen diese Ermittlungen stattfinden, können in zwei Kategorien aufgeteilt werden: die europäischen Staaten, in denen die Verbrechen der Schoah effektiv stattgefunden haben und in denen die Angeklagten wegen Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und Mord vor Gericht kommen; in die zweite Kategorie gehören die Länder, in denen die Verbrecher Zuflucht gesucht haben, in erster Linie in den angelsächsischen Demokratien, in denen diese Personen wegen kriminellen Machenschaften strafrechtlich verfolgt werden oder in denen sie vor zivilrechtliche Gerichte gestellt werden, weil sie gegen Bestimmungen des Einwanderungs- bzw. des Einbürgerungsgesetzes verstossen haben. So wird z.B. der grösste Teil der neuen Untersuchungen (305) und laufenden Ermittlungen (450) gegenwärtig in Polen durchgeführt, wo während der Schoah die meisten Juden ermordet wurden. In folgenden europäischen Ländern sind im Moment Untersuchungen im Gang: Österreich (272 neue und 199 laufende Fälle), Deutschland (27 bzw. 46), Lettland (58 laufende Fälle), Litauen (2 bzw. 21), Italien (6 bzw. 13), Dänemark (9 bzw. 11) und die Niederlande mit 6 laufenden Untersuchungen. Was die so genannten «Zufluchtsländer» angeht, so zählt man die meisten neuen und bereits laufenden Untersuchungen in den USA (34 bzw. 246). Das einzige andere Land, das derartige Ermittlungen ernsthaft durchführt, ist Kanada, wo gegenwärtig 190 Fälle untersucht werden.
Neben den erwähnten Statistiken vermittelt ein rascher Blick auf die Liste der «meistgesuchten Nazi-Kriegsverbrecher» des Wiesenthal Centers in Los Angeles ebenfalls ein genaueres Bild der Bemühungen, die heute zur Bestrafung der Verbrecher während der Schoah unternommen werden. Diese Liste führt die zehn bedeutendsten Nazi-Fälle weltweit auf. Seit ihrer Veröffentlichung als Teil des jährlichen Tätigkeitsberichts waren in einigen Fällen gewisse Entwicklungen zu beobachten.
Heute weist die Situation zwei unterschiedliche Aspekte auf: die guten und die schlechten Neuigkeiten.
Beginnen wir doch mit den guten. Ivan Demanjuk (Dritter auf der Liste), der als Aufseher in den Todeslagern von Sobibor und Majdanek sowie im SS-Ausbildungslager von Trawniki und im KZ von Flossenburg diente, wurde am 28. Dezember 2005 von Richter Michael J. Creppy, dem Verantwortlichen des amerikanischen Immigrationsdepartements, zur Auslieferung aus den USA an die Ukraine verurteilt. Dieses Urteil beendet eine der längsten Ermittlungen, die je gegen einen in den USA lebenden Nazi-Kriegsverbrecher geführt wurden, und ermöglicht seine Ausweisung. Dazu muss man wissen, dass Demanjuk zunächst an Israel ausgeliefert wurde, wo er als Iwan der Schreckliche von Treblinka zum Tode verurteilt wurde: er hatte als Aufseher die Gaskammern im Todeslager bedient. Während seines Berufungsverfahrens waren dem israelischen Staatsanwalt Zweifel ob seiner wahren Identität gekommen und Demanjuk wurde zu sieben Jahren im Gefängnis verurteilt, weil er «für die Nazi-Organisation gearbeitet» habe. Da er diese Frist aber bereits abgesessen hatte, wurde er in die USA ausgeschafft. Danach rollte das «Office of Special Investigations» seinen Gerichtsfall erneut auf, und zwar aufgrund seiner Aktivitäten in Sobibor und in den anderen Lagern.
Am 20. September 2005 erliess Kroatien einen internationalen Haftbefehl gegen Millivoj Asner (Fünfter auf der Liste), den ehemaligen Polizeichef der Stadt Pozega, den man dank der Aktion «Operation Letzte Chance» (siehe Shalom Vol. 43) verhaftet hatte, und zwei Tage später bat man Österreich um seine Auslieferung, um gerichtlich gegen ihn vorzugehen, weil er bei der Verfolgung und Deportation von Hunderten von serbischen und jüdischen Zivilisten in die Konzentrationslager teilgenommen hatte, wo sie ermordet wurden. Anfangs lehnte Österreich die Auslieferung von Asner ab, weil er die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. Nach einer Reihe von Gesprächen, die ich mit der österreichischen Justizministerin Karin Gastinger und der Innenministerin Liese Prokop führte, erklärten die Behörden Österreichs, Asner habe seine Nationalität eigentlich verloren, da er 1992 die kroatische Staatsangehörigkeit verlangt habe, ohne die österreichischen Behörden zuvor um ihr Einverständnis zu ersuchen. Dadurch sollte seine Auslieferung nach Kroatien möglich werden, damit er dort vor Gericht gestellt werden kann.
Am 20. März 2005 (Neunter auf der Liste) begann in Vilnius, wo er in der Sicherheitspolizei Saugumas gedient hatte, der Prozess von Llagimants Dailide. Man wirft ihm vor, an der Verfolgung von Zivilpersonen teilgenommen zu haben. Dailide, der nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA geflohen war, wurde im Oktober 2004 vom «Office of Special Investigations» des Landes verwiesen. Noch vor kurzem lebte er in Deutschland.
Die deutsche Regierung hat eine Sondereinsatztruppe geschaffen, die sich mit dem Fall von Dr. Aribert Heim (genannt der Todesarzt), dem 1962 die Flucht gelang, kurz bevor er wegen seiner in Mauthausen begangenen Verbrechen verhaftet und vor Gericht gestellt werden sollte. Auf Verlangen dieser Sondereinheit wurde Heim ganz zuoberst auf die Liste der Personen gesetzt, die von der Operation Letzte Chance gesucht werden. Die deutsche Regierung bietet eine Belohnung von 130'000 Euro für jede Information, die zu seiner Verhaftung führt. Das Wiesenthal Center hat sich bereit erklärt, diese Summe zu verdoppeln, und hat die österreichische Regierung aufgefordert, sich ihm anzuschliessen.
So viel zu den guten Nachrichten. Wenden wir uns nun einigen negativen Informationen zu.
Ladislav Niznansky (Vierter auf der Liste), der in Deutschland verurteilt worden war, weil er 1944 an der Ermordung von 18 untergetauchten Juden und am Mord an 146 Slowaken durch die Einheit Edelweiss beteiligt war, wurde im Dezember 2005 von einem Münchner Gericht freigesprochen, nachdem ein wichtiger Zeuge seine Aussage korrigiert hatte. Der deutsche Staatsanwalt Konstantin Kuchenbauer möchte gegen dieses Urteil Berufung einlegen. Erinnern wir daran, dass Niznansky 1962 in der Tschechoslowakei in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war.
Jack Reimer (Sechster auf der Liste), der die amerikanische Staatsangehörigkeit verloren hat und wegen seiner Rolle als Offizier im SS-Ausbildungslager von Trawniki und wegen der Ermordung polnischer Juden des Landes verwiesen wurde, starb vor seiner Ausweisung aus den USA.
Ende Dezember 2005 hat der Staatsanwalt von Estland die Ermittlungen gegen Harry Mannil eingestellt; letzterer lebt heute in Venezuela, obwohl er zugegeben hatte, ein aktives Mitglied der politischen Polizei von Estland gewesen zu sein. Im Rahmen dieser Tätigkeit hatte er an der Verhaftung von Juden und Kommunisten teilgenommen, die später von den Nazis und ihren estnischen Kollaborateuren exekutiert wurden. Dieser Entscheid wurde von Israel und den USA scharf kritisiert. Mannil steht noch heute auf der amerikanischen «Watch-List» und darf nicht in die USA einreisen.
Diese Fakten beweisen eindeutig, dass es trotz zahlreicher Hindernisse noch viel zu tun gibt, um die Nazi-Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen. In dieser Hinsicht ist es in meinen Augen äusserst wichtig, an dieser Stelle an die drei Grundprinzipien zu erinnern, die unserer gesamten Tätigkeit zugrunde liegen.
Erstens vermindert die verstreichende Zeit in keiner Weise die Schuld der Menschen, die sich während der Schoah eines Verbrechens schuldig gemacht haben. Die Tatsache, dass es jemandem gelungen ist, jahrzehntelang der Justiz zu entkommen, verwandelt einen Massenmörder noch lange nicht in einen aufrechten und tugendhaften Christen.
Zweitens stellt die Tatsache, dass ein Naziverbrecher ein gewisses Alter erreicht, noch keine Entschuldigung für seine Verbrechen dar, ganz egal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Das Zulassen einer derartigen Vorstellung würde den Grundsatz gutheissen, dass man dank seinem hohen Alter ein Gerichtsverfahren umgehen kann und dass alle, die einen Völkermord begangen haben, einer Strafverfolgung irgendwie entgehen könnten.
Drittens haben wir gegenüber den Opfern die Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu unternehmen, um von ihren Mördern Rechenschaft zu verlangen. Auf diese Weise bekräftigen wir mit Nachdruck die Botschaft der jüdischen Solidarität, die besagt: «Wenn jemand einen Juden angreift und ihm Schaden zufügt, wird es immer andere Juden geben, die alles tun werden, um diese Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen, sie zu überführen und vor Gericht zu bringen». Auch wenn das 100 Jahre dauern sollte!
*Dr. Efraïm Zuroff ist Nazi-Jäger, Historiker, Schoah-Spezialist und Leiter des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles. Man kann mit ihm Kontakt aufnehmen unter: swcjerus@netvision.net.il, oder seine Website besuchen: www.operationlastchance.org
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