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Inhaltsangabe Judäa-Samaria Frühling 2006 - Pessach 5766

Editorial
    • Editorial [pdf]

Pessach 5766
    • Freiheit und Verantwortung [pdf]

Politik
    • Trugbild der Einsteitigkeit [pdf]

Interview
    • Die Sicherheitslage [pdf]
    • Mut und Entschlossenheit [pdf]
    • Judentum und Geisteshöhe [pdf]

Judäa-Samaria
    • Schande und Hoffnung [pdf]

Analyse
    • Auferstehung des Kalifats [pdf]
    • Multikulturalität und Antisemitismus [pdf]
    • Zu spät? [pdf]

Reportage
    • Geburt in Jerusalem [pdf]

Wissenschaft und Forschung
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Kunst und Kultur
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Spanien
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    • Jude und Baske [pdf]
    • Die Juden und die Zeitgenössische Literatur [pdf]
    • Esther Bendahan [pdf]
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Ethik und Judentum
    • Dura Lex - Sed Lex [pdf]

Das Gute Gedächtnis
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Schande und Hoffnung

Von Roland S. Süssmann

Sie lebten in adretten kleinen Häuschen, die sie mit eigenen Händen erbaut hatten - Stein für Stein. Sie besassen eigene Gärten, in denen Obstbäume blühten. Sie hatten Gewächshäuser errichtet und neue landwirtschaftliche Spitzentechnologien entwickelt. Sie exportierten 75% der weltweiten Kirschtomaten-Produktion. Man hatte sie aufgefordert, sich dort niederzulassen, weil sie die Elite der Gesellschaft seien und es ihre Pflicht sei, beim Kampf um Israel an der Front zu stehen.
Doch dann hat «man» ihnen erklärt, ihre Präsenz in dieser Region sei unnötig geworden und sie würden nur ein Hindernis für den Frieden darstellen. In der Folge hat man «sie» manu militari aus ihren Häusern und ihren Gärten ausgewiesen, hat ihre Gewächshäuser und landwirtschaftlichen Betriebe zerstört - Stein für Stein. Da, wo noch gestern blühendes jüdisches Leben bestand, gibt es heute nur noch Wüste, Sand, Gestrüpp und Verwüstung. Da, wo die grösste Synagoge stand, baut die islamische Universität von Gaza eine Moschee und eine Madrasa.
Dann hat «man» sie in innerstaatliche Flüchtlinge verwandelt und ihnen erklärt, dass sie zum Wohle des Landes alles aufgeben müssten, was sie während 30 Jahren aufgebaut hatten. Ariel Sharon legte seinen verrückten Plan des einseitigen Abzugs der Knesset vor, die den Verzicht auf jüdisches Gebiet zugunsten der Araber guthiess, ohne eine Lösung zur anständigen Neuansiedlung dieser Männer und Frauen vorzusehen, die ihr Leben auf Gusch Katif ausgerichtet hatten. «Sie» standen plötzlich auf der Strasse, ihre Habseligkeiten in der Hand, und wurden in Hotelzimmern oder provisorischen Zelten untergebracht. «Sie» erhielten eine Entschädigung, doch es wurde ihnen keine Arbeit angeboten, keine Schule war vorgesehen worden, um die zahlreichen Kinder aufzunehmen.
Sechs Monate nach der Vertreibung der Juden aus Gaza wollten wir wissen, was aus ihnen geworden ist. Wir konnten sie natürlich nicht alle treffen, daher haben wir beschlossen, eine Gemeinschaft aufzusuchen, diejenige von Atzmona, deren Mitglieder sich entschieden haben, zusammen zu bleiben und sich gemeinsam ein neues Leben aufzubauen. Atzmona war als letzte jüdische Siedlung von Gusch Katif friedlich und unter der Leitung ihrer Rabbiner geräumt worden. Wir haben die Einwohner von Atzmona in einer Industriezone vorgefunden, die in eine Zeltstadt mit dem Namen «Ihr Ha-Emunah» verwandelt wurde, wobei dieser Begriff sowohl mit «Stadt des Glaubens» oder «Stadt des Vertrauens» übersetzt werden kann; hier leben heute rund 400 Erwachsene und fast ebenso viele Kinder.
Bei der Ankunft fällt einem als Erstes auf, dass die Wohnbereiche direkt neben einer Abfalldeponie liegen. Anstelle von Häusern steht hier eine Reihe von Wohnwagen, die mit Hilfe einer List aus Gusch Katif gerettet werden konnten. Einige Tage vor der Evakuierung suchte nämlich die Armee die verschiedenen Siedlungen auf, um alle Häuser mit einem schwarzen Kreuz zu versehen, die zerstört werden sollten. Sobald die Soldaten abgezogen waren, fügten die Einwohner mit roter Farbe hinzu: «Darf nicht zerstört werden». Als es dann soweit war, wussten die Soldaten, die mit der Demolierung dieser Häuser beauftragt waren, auf einmal nicht mehr, was zu tun sei, da zwei widersprüchliche Befehle vorhanden waren. Die Bewohner profitierten von dieser Verwirrung, um die Wohnwagen auf Lastwagen zu laden und sie so zu retten. Besonders erschütternd ist aber die riesige, leere Halle, wo noch kurze Zeit vor unserem Besuch Dutzende von Zelten standen, von denen das grösste von bis zu sechs Familien bewohnt wurde. Erstaunlich ist vor allem die Tatsache, dass an diesem notdürftigen Ort ganz ohne Unterstützung der Regierung ein echtes, umfassendes Gemeindeleben entstanden ist: Krippen, Kindergärten, Schule, Synagoge, Verwaltungsräume usw. Interessanterweise gibt es in «Atzmona» keine Arbeitslosigkeit. Jeder, der hier lebt, hat eine Arbeit gefunden, entweder aus eigener Kraft, oder mit Hilfe der Gemeindeverantwortlichen.
Zu Beginn wollte die Regierung um keinen Preis, dass diese Gemeinschaft vereint bleibt, und unternahm alles, um ihre Mitglieder, die sich diesem Vorhaben widersetzten, auseinander zu reissen. Heute haben sie von der Regierung erwirken können, dass sie in ein neues Dorf umgesiedelt werden, nach Schomriyah. Es handelt sich dabei um einen verlassenen Kibbuz des Haschomer Hatzair. Die Felder werden seit langem nicht mehr bewirtschaftet und die Einrichtungen für die Viehhaltung wurden an andere Kibbuzim der Region vermietet. Trotz allem haben die rund 50 Menschen, die noch hier wohnten, eine Entschädigung von US$.370'000,-- pro Familie erhalten (d.h. mehr als das Doppelte der Evakuierten von Gusch Katif), um den Ort freiwillig zu verlassen und den Einwohnern von Atzmona zu ermöglichen, hier eine neue Siedlung aufzubauen. Schomriyah liegt am Fuss der Stadt Hebron und es ist geplant, nach und nach sechs jüdische Dörfer in dieser Gegend zu errichten. Ihre Präsenz unterbindet jede territoriale Kontinuität zwischen den Beduinenvölkern in der Nähe von Beer Schewah und den Arabern aus den Dörfern rund um Hebron. So konnten die Einwohner von Atzmona sechs Monate nach ihrer Evakuierung, d.h. am 13. Februar 2006 (Tu Bi-Schwath 5766), im «neuen Schomriyah» die erste Mesusah an der Haustür ihres Rabbiners befestigen. Die Leitung von Atzmona ist sehr dynamisch. Weniger als 14 Tage nach ihrer Vertreibung eröffneten nämlich die Flüchtlinge die ersten Schulklassen in ihrer Zeltstadt, in denen auch Schüler aus anderen Dörfern von Gusch Katif aufgenommen werden, weil sie vor der Evakuierung die Schule in Atzmona besuchten. Diese Kinder, die seit sechs Monaten in Hotels von Aschkelon, Aschdod oder gar Jerusalem eingepfercht leben, reisen nun täglich nach «Atzmona» in die Schule.
Um besser zu verstehen, mit welcher Einstellung die Verantwortlichen von Atzmona gehandelt haben, führten wir ein Gespräch mit DAVID REICH, der von seinen Freunden Dudi genannt wird.

Es stellt sich zunächst natürlich die Frage, warum Sie beschlossen haben, diese Flüchtlingsstadt zu errichten anstatt sich in Hotels niederzulassen, wie die Regierung Ihnen vorgeschlagen hatte?

Sobald wir gemerkt haben, dass unsere Evakuierung nicht mehr zu umgehen war, haben wir zwei Beschlüsse gefasst: erstens, weiterhin zusammen zu leben und nicht zuzulassen, dass unsere Gemeinschaft auseinander gerissen wird, und zweitens, so rasch wie möglich ein neues Lebensumfeld zu schaffen, dank dem jeder möglichst schnell wieder einen einigermassen normalen Alltag führen kann. Man muss sich schon klar machen, dass in jedem von uns ein Pionier steckt und dass wir ständig auf neue Herausforderungen in Bezug auf Häuserbau und Entwicklung warten. Wir dachten, wir könnten in Gusch Katif erfolgreich sein. Dies war aber nicht der Fall, und heute stehen wir vor einer neuen Aufgabe als Bauherren, nämlich eine neue grosse Siedlung in Schomriyah zu errichten, wo sich in den nächsten fünf Jahren hoffentlich ca. 2000 Familien niederlassen werden. Es ist eine wichtige Tatsache, dass der Ort innerhalb der Grünen Linie liegt, so dass uns hier niemand unter einem ebenso fadenscheinigen Vorwand, wie derjenige, mit dem wir aus Gusch Katif evakuiert wurden, wieder vertreiben kann . doch vielleicht gibt es bis dahin andere Ausflüchte.
Was unsere Weigerung angeht, uns in Hotels niederzulassen, gibt es dafür ganz einfache Gründe. Wir sind der Ansicht, ein Hotel könne keine Lösung sein, weder mittel- und bestimmt nicht langfristig. Da wir es sowieso mit einer zeitlich befristeten Situation zu tun hatten, haben wir entschieden, uns «provisorisch» in Zelten und Wohnwagen einzurichten. Unsere Präsenz hier wurde von der Regierung nicht geschätzt, da ihr auf diese Weise das Ausmass unserer dramatischen Situation und folglich ihres Versagens ständig vor Augen geführt wurde. Ich bin sicher, dass das Budget für den Bau von Schomriyah nur deshalb so schnell gutgeheissen wurde, weil man diesen «Schandfleck» nicht mehr sehen wollte, den unsere Präsenz in Ihr Ha-Emunah darstellt. Man muss ebenfalls wissen, dass Ariel Sharon während des letzten Ministerrates, bei dem er den Vorsitz führte, die notwendigen Dokumente für die Freigabe der erforderlichen Beträge unterschrieben hat. Am selben Abend erlitt er den schweren Hirnschlag.

Wie sahen Ihre Beziehungen zu den Soldaten und Polizisten aus, die Sie evakuiert haben?

Wir hatten nie die Absicht, sie mit Gewalt zu bekämpfen. Wir wussten aber, dass einige von ihnen den Befehl gegen ihre Überzeugung ausführten. Ihre Vorgesetzten hatten sie aufgefordert, jüdische Familien zu evakuieren und nicht die Familien von Terroristen, die sich in die Luft gejagt hatten.
Wir wissen, dass es noch heute Soldaten und Polizisten gibt, die vor über 25 Jahren an der Räumung von Yamit teilgenommen und sich davon nie erholt haben. Dies wird wahrscheinlich genauso auf einen Teil der Ordnungskräfte zutreffen, die uns aus Gusch Katif vertreiben mussten. Dazu kommt, dass uns eine besondere Beziehung mit der Armee verbindet. Wir kannten alle jungen Leute, die ihren Militärdienst in unserer Region absolvierten, wir empfingen sie alle in unseren Häusern, als ob es Familienmitglieder wären, und folglich tat es uns auch irgendwie Leid, dass ihnen eine derartige Aufgabe aufgezwungen wurde.

Wir würden gerne mehr über Ihre Zukunftspläne erfahren. Könnten Sie uns aber zuvor noch erzählen, was sich in der ersten Nacht abgespielt hat, als Sie aus den Autobussen ausstiegen, die Sie aus Gusch Katif nach Ihr Ha-Emunah gefahren hatten?

Einige Tage vor der Evakuierung hatten wir einige behelfsmässige Behausungen eingerichtet, jeder Familie stand eine Mindestfläche von 45m2 zur Verfügung. Wir staunten allerdings nicht schlecht, als wir gegen 8 Uhr abends aus den Bussen stiegen und sahen, dass die Bewohner der umliegenden Dörfer für uns einen Willkommensempfang mit einem üppigen Buffet vorbereitet hatten. Eine der Personen, die uns damals in Empfang nahm, teilte mir später mit: «Als wir euch aus den Bussen steigen sahen, glaubten wir den Auszug aus Ägypten mitzuerleben. Es herrschte ein riesiges Durcheinander, Eltern, Kinder, Kartons, Koffer usw. Ihr saht alle aus wie Zombies, die nicht so genau wussten, was ihnen geschah. Wir wollten, dass ihr nach dem Schock, den ihr grade erleben musstet, wenigstens unseren Empfang in bester Erinnerung behaltet». Wir sind ihnen ewig dankbar dafür.

Sie sagen, Sie hätten die Einstellung der Pioniere. Nun ist aber die Region, in der Sie sich niederlassen, bereits bewohnt, selbst wenn Sie dort neue Häuser erbauen und ein ganz neues Lebenszentrum schaffen werden. Es fragt sich, weshalb Sie Ihre Pionierunternehmung nicht nach Judäa oder Samaria verlegt haben?

Das Gesetz verbot es uns. Wenn wir unsere Entschädigung kassieren wollten, mussten wir uns verpflichten, uns als Gemeinschaft nicht an einem Ort in einer dieser Regionen niederzulassen. Als Einzelner hätte man dies tun können, doch es war offiziell untersagt, eine neue Gemeinschaft zu gründen oder sich gar mit einer grossen Gruppe in einer bestehenden Siedlung niederzulassen. Die Regierung hätte in diesem Fall ganz einfach keine Baugenehmigung erteilt. Wir haben schwere Zeiten durchgemacht, doch unser Kampfgeist, unser Hunger nach dem Aufbau des Landes haben keinesfalls darunter gelitten. Wir stehen heute vor einer neuen Herausforderung und es ist unsere Pflicht, sie anzunehmen und sie erfolgreich zu bestehen. Gestern in Gusch Katif, morgen in Schomriyah, übermorgen vielleicht woanders. Schomriyah wird zum Hauptzentrum der sechs noch zu erbauenden Dörfer werden, denn hier werden sich die Schulen und Verwaltungen der Region konzentrieren. Alle Rekonstruktionspläne für die landwirtschaftlichen Einrichtungen, die in Gusch Katif bestanden, liegen schon fixfertig vor und wir werden unser früheres Leben nach und nach wieder aufnehmen.

Als ich mich von den Männern und Frauen von Atzmona verabschiedet hatte, kamen mir die Worte aus der Rede von General De Gaulle wieder in den Sinn, die er am 25. August 1944 in Paris gehalten hatte: «Paris ist gedemütigt, gebrochen, gequält! . und mehr denn je wild entschlossen und sich seiner Pflichten und Rechte bewusst». Gewiss, man kann die Umstände nicht miteinander vergleichen und dieses Zitat kann nicht vollständig umgeschrieben werden, doch die Männer, Frauen und Kinder von Gusch Katif, die noch vor einigen Monaten selbst «gedemütigt und gebrochen» waren, sind heute «entschlossen und sich ihrer Pflichten und Rechte mehr denn je bewusst», was den Kampf betrifft, den sie täglich zugunsten von Eretz Israel, seiner Besiedlung und seinem Überleben führen.


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