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Inhaltsangabe Reportage Frühling 1997 - Pessach 5757

Editorial - April 1997
    • Editorial

Chanukkah 5757
    • Ein kleines Licht genügt

Politik
    • Die Flucht nach vorne

Interview
    • Gespräch mit S.E. Arnold D. Koller

Aktuell
    • Wer profitierte vom Völkermord der Nazis ?
    • Begegnung mit S.E. Alfonse M. D'Amato
    • Das Gesetz ist wichtiger als Gesten

Judäa - Samaria - Gaza
    • Zwischen Hammer und Amboss
    • Maale Adumim

Kunst und Kultur
    • Die Bodmer Haggadah
    • Schlicht und Ergreifend
    • Jüdische Scherenschnitte

Reportage
    • Prag und Jerusalem
    • Das jüdische Leben in der Tschechischen Republik
    • Das jüdische Museum Prag
    • Terezin - Das Vorzimmer von Auschwitz

Portrait
    • Das magische Paar

Schicksal
    • Von Nedjo nach Princeton

Ethik und Judentum
    • Technologie und menschlisches Eingreifen

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Terezin - Das Vorzimmer von Auschwitz

Von Roland S. Süssmann
Im kommenden Mai wird der 50. Jahrestag der Eröffnung der Nationalen Gedenkstätte von Terezin (Theresienstadt) mit einer offiziellen Feier begangen. Obwohl die Geschichte dieser Gefängnisstadt sehr bekannt ist und in den Geschichtsbüchern ausführlich besprochen wird, wollten wir uns an Ort und Stelle begeben, um die dortigen Ereignisse sehr kurz und in knapper Form in Erinnerung zu rufen, dabei wollten wir aber auch feststellen, wie das Andenken an die Gefangenen dieses Konzentrationslagers gepflegt und weitergegeben wird. Über diese Frage hat uns Dr. JAN MUNK, der Direktor der Gedenkstätte, Auskunft gegeben, der auch Philosoph und gleichzeitig Präsident der Vereinigung jüdischer Gemeinden der Tschechischen Republik ist.

Bevor wir aber Dr. J. Munk zu Wort kommen lassen, möchten wir daran erinnern, dass die Stadt Terezin eigentlich aus zwei Festungen besteht (die kleine und die grosse Burg), die in den Jahren 1780-1790 von Kaiser Joseph II. mit dem Ziel errichtet wurden, die preussischen Armeen vor einem Angriff auf den Norden und das Zentrum Böhmens abzuhalten. Im Gefängnis der kleinen Festung befindet sich übrigens die Zelle, in der 1918 Gavrilo Princip gestorben ist, der 1914 das Attentat von Sarajewo verübt hatte. Diese Festungen verfielen mit der Zeit, doch Theresienstadt diente weiterhin als Garnisonsstadt. Nach den Münchner Abkommen und der Besetzung der Tschechoslowakei durch Hitler wurde die kleine Burg 1940 in ein Sondergefängnis der Prager Gestapo verwandelt. Fast 32'000 Gefangene schmachteten unter extrem unmenschlichen Bedingungen in den überfüllten Zellen. Nahezu 2'500 Menschen starben dort infolge von Hunger, Epidemien, Krankheiten, Folter und Exekutionen. Wie zahlreiche andere Deportierte wurden die Gefangenen für schwere und anstrengende Arbeiten eingesetzt. Viele von ihnen wurden zu Bauarbeiten oder für den Einsatz in der geheimen Fabrik für schwere Waffen ins Lager Litomerice (einige Kilometer von Terezin entfernt) abkommandiert, die unter dem Codenamen "Richard" bekannt war. Ungefähr 18'000 Gefangene waren in diesem Lager interniert, 4500 von ihnen starben infolge der schlechten Lebensbedingungen.
Die grosse Festung wurde hingegen ab 1941 in ein Ghetto und Durchgangs-KZ für die jüdischen Deportierten umfunktioniert. Zu Beginn wurden die Gefangenen ausschliesslich in den Kasernen und militärischen Einrichtungen der Stadt untergebracht, doch 1942 wurde die lokale Bevölkerung gewaltsam vertrieben und die gesamte Stadt in ein Gefängnis verwandelt. Das erste Ziel bei der Anwendung der antijüdischen Massnahmen von Nürnberg lag ja bekanntermassen darin, die Opfer des Völkermords vollständig zu erniedrigen, sie aus dem gewöhnlichen Leben auszuschliessen, ihnen ihr Eigentum zu nehmen, kurz, sie total zu entmenschlichen, bevor man sie in den Todeslagern umbrachte. So wurden seit der Eröffnung des Ghettos bis zu seiner Schliessung 140'000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus den Protektoraten von Böhmen und Mähren, aus Deutschland, Österreich, Holland, Dänemark, Ungarn und aus der Slowakei durch Terezin geschleust. 86'934 Juden (darunter 10'000 Kinder) wurden unter entsetzlichen Bedingungen nach Auschwitz deportiert, indem sie in zwei Tagen 500 km im Zug zurücklegen mussten. Nur 4000 von ihnen überlebten, darunter 150 Kinder. Aufgrund der erbärmlichen Unterkünfte (Terezin war für die Unterbringung von ca. 10'000 Personen vorgesehen, doch zu einem bestimmten Zeitpunkt pferchte man hier gleichzeitig fast 60'000 Unglückliche zusammen), der schlechten Ernährung und der Epidemien starben 34'000 Menschen unter qualvollen Leiden im Lager von Terezin. Auf Initiative der Gefangenen wurde ein Krematorium gebaut, denn die Deutschen hatten begonnen, die Toten in Gemeinschaftsgräbern beizusetzen, was aus hygienischen Gründen eine konkrete Gefahr darstellte. Bei der Befreiung des Lagers nach dem Krieg entdeckte man 23'000 mit Asche gefüllte Kartonschachteln, und man schüttete die Asche in den Fluss, der Terezin durchfliesst. Heute befindet sich an der Stelle, wo die Asche dem Wasser übergeben wurde, eine Gedenkstele, und zahlreiche Juden aus der ganzen Welt kommen an diesen Ort um zu beten, da es sich oft um die letzte Verbindung zu einem ihrer verstorbenen Verwandten handelt, von dem sie wissen, dass er nach Terezin transportiert wurde.
Das Lager war der SS-Kommandatur direkt unterstellt, und die Bewachung der Opfer erfolgte durch tschechische Gendarmen, die auf den Schutzwällen der in einer Festung errichteten Stadt Wache schoben. Zynischer Höhepunkt ist die Tatsache, dass ein aus Juden bestehender "Ältestenrat" mit der Organisation des täglichen Lebens beauftragt war. Die Deutschen legten in regelmässigen Abständen die Zahl der Menschen fest, die deportiert (nach Osten transportiert...) werden sollten, doch die Auswahl der Betroffenen war Aufgabe des jüdischen "Ältestenrates" !
Das Lager von Terezin besass eigentlich drei Funktionen: es diente als Durchgangslager, als Vernichtungslager durch Krankheit und Not, aber auch als Objekt der deutschen Propaganda. Theresienstadt wurde nämlich als Kurort für betagte Juden angepriesen. Verlogene Werbeanzeigen in Deutschland boten Kuraufenthalte in Terezin an, so dass ältere Menschen dort eintrafen, nachdem sie ihre Kur im voraus bezahlt und ihr Heim in Deutschland verlassen hatten.
Terezin war aber nicht nur eine Stätte des Widerstands und des Leidens, sondern auch ein Ort des Muts, der Aufopferung und der gegenseitigen Hilfe. Viele deportierte Ärzte, Krankenschwestern und Pädagogen unternahmen nämlich alles in ihrer Macht Stehende, um das Leben ihrer Mitgefangenen, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, zu erleichtern. Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und G'ttesmänner taten alles, damit die Internierten den Lebenswillen nicht verloren. Heute, da die Frage nach dem von den Nazis beschlagnahmten Eigentum soviel Staub aufwirbelt, wäre es vielleicht sinnvoll daran zu erinnern, dass die Gefangenen nach ihrem Eintreffen im Lager vom Ghetto Geld (das im Lager als Währung akzeptiert wurde) erhielten und ihr Guthaben in echtem Geld auf fiktiven "Sparheften" hinterlegen mussten. Es versteht sich von selbst, das weder die Lagerwährung, das berühmte "Ghettogeld", noch die Sparhefte einen wirklichen Wert besassen. Doch der Zynismus der Deutschen ging noch weiter. 1944 wurde aufgrund eines vom Internationalen Roten Kreuz angekündigten Besuchs eine grossangelegte Verschönerungsaktion des Lagers durchgeführt. Der äussere Anschein wurde in jeder Hinsicht aufpoliert und sogar das Leben der Gefangenen während einer bestimmten Zeitspanne erleichtert. Zu diesem Anlass drehte die Propagandaorganisation der Nazis einen Film an diesem Ort, in dem das "friedliche und sorglose Dasein der Juden in Terezin" gezeigt wurde. In Wirklichkeit gab es nur zwei Möglichkeiten, Terezin wieder zu verlassen: entweder man wurde in ein Todeslager weitergeschickt, oder man wurde nach seinem Tod eingeäschert.
Nach Kriegsende konnte das Lager nicht sofort befreit werden. Während den letzten Tagen der Feindseligkeiten hatten die Deutschen fast 13'000 schwerkranke Deportierte aus polnischen und deutschen Konzentrationslagern hierher geschafft. Bei ihrem Eintreffen brach eine Typhusepidemie aus, so dass die endgültige Öffnung des Ghettos erst einige Monate nach der Befreiung Terezins durch die Streitkräfte der Roten Armee erfolgen konnte.


Können Sie uns in wenigen Worten sagen, in welcher persönlichen Beziehung Sie zu diesem Lager stehen ?

Meine Aufgabe ist alles andere als leicht. Meine Eltern waren in Terezin interniert, bevor sie nach Auschwitz geschafft wurden, wo meine Mutter ihre gesamte Familie verlor. Sie traf meinen Vater nach dem Krieg und ich war die Frucht des Bundes zwischen diesen beiden Geretteten. Terezin war immer ein Teil meiner selbst, meiner Erziehung und meines innersten Wesens. Heute bin ich der einzige jüdische Direktor einer Schoah-Gedenkstätte. Nach der "Samtrevolution" wurde ich in die Direktion dieses Memorials berufen, und ich habe natürlich zugesagt, die damit verbundene Verantwortung zu übernehmen. Unter dem kommunistischen Regime wurde die Gedenkstätte von Terezin vor allem als eine Ehrung der Opfer des deutschen Faschismus dargestellt, der jüdische Aspekt wurde etwas beiseite geschoben. Seit ich nun Direktor bin, ist es mir allmählich gelungen, den Juden, die gelitten haben, deportiert wurden und hier gestorben sind, ihren Platz im Rahmen der von ihnen durchlebten Schrecken zurückzugeben. Ich habe somit ihr Andenken wieder auffrischen können. Im Gegensatz zu Deutschland, wo 50% der Juden ihre Haut retten konnten, sind 90% der tschechischen Juden in der deutschen Hölle umgekommen, denn mangels korrekter Informationen wurden sie durch den rasanten Vorstoss der Deutschen überrascht, und selbst diejenigen, die hätten fliehen können, besassen keinerlei Möglichkeit dazu, weil die Tschechoslowakei vollständig von den deutschen Streitkräften eingeschlossen war. Ausserdem bestanden vor dem Krieg ausgezeichnete Beziehungen zwischen der jüdischen und der tschechischen Bevölkerung. Die Deutschen wussten dies und haben aus diesem Grund die Juden an einen einzigen Ort gebracht, wo jeder Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung unmöglich war. Als Beweis, wie sehr die Juden in der tschechischen Gesellschaft integriert, wie stolz sie auf diese Demokratie, auf Masaryk usw. waren, möchte ich daran erinnern, dass die tschechischen Frauen in den Gaskammern die Hatikwa, die tschechische Nationalhymne und die Internationale sangen.


Heute gehört das Memorial zu den Rundfahrten für Touristen, die ab Prag angeboten werden. Wie viele Besucher kommen jährlich hierher und wie werden Sie die Gedenkstätte noch weiter ausbauen ?

Pro Jahr kommen ca. 200'000 Personen nach Terezin, darunter viele nur aus Neugier. Zahlreiche Juden, die uns aufsuchen, möchten ein letztes Gebet auf dem imaginären Grab eines verstorbenen Verwandten sprechen, dessen Spuren bis zu den Toren Terezins führten. Im Hinblick auf eine Weiterentwicklung haben wir das Ghettomuseum sowie das Museum in der kleinen Festung vollständig renoviert. Demnächst soll ein eigentliches Informations- und Forschungszentrum eröffnet werden, das sowohl der Öffentlichkeit, als auch Geschichtsstudenten und Wissenschaftlern offensteht. Wir planen ebenfalls den Wiederaufbau eines geheimen Theaters, wie es zur Zeit des Ghettos bestand, dank dem die Gefangenen ab und zu etwas Zerstreuung fanden und ihren Lebensmut aufrechterhielten.


Was bei der Ankunft in Terezin auffällt, ist dieser Friedhof, auf dem einerseits ein Magen David steht, der aus den nach Auschwitz führenden Zugschienen errichtet wurde, andererseits aber auch ein riesiges Kreuz, das den Davidsstern um einiges überragt. Handelt es sich nicht in erster Linie um eine jüdische Gedenkstätte ?

Der Friedhof wurde nach dem Krieg eingerichtet. Die aus den Gemeinschaftsgräbern stammenden Leichen der Juden wurden in diesem Friedhof beerdigt. An diesem Ort befindet sich jedoch auch ein bedeutender Teil mit nichtjüdischen Verstorbenen, vor allem Tschechen, der durch ein Holzkreuz gekennzeichnet wird. Was die Dimension beider Symbole angeht, wiegt die Breite des Magen Davids die Höhe des Kreuzes meiner Ansicht nach auf. Bei der Ankunft in Terezin sticht die vermeintliche Dominanz des Kreuzes natürlich ins Auge, doch ich glaube nicht, dass dies für den Geist und die Bedeutung dieses Memorials wirklich ausschlaggebend ist. Was zählt, ist die Tatsache, dass die Erinnerung konkret fühlbar bleibt und dass die Schoah und ihre Opfer nie zu einem abstrakten Phänomen unserer Geschichte und unserer Überlieferung wird.


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