Das "International Center of Photography", das an der Kreuzung der geschäftigen 6th Avenue mit der 43. Strasse von New York liegt, zeigt bis zum 20. April 1997 eine ganz besondere Ausstellung mit dem Titel: "Written in Memory: Portraits of the Holocaust". Es handelt sich um eine in ihrer Art einzigartige Präsentation von Schwarzweiss-Fotos und Zeugnissen von Schoah-Überlebenden. Sie sind das Werk von Jeffrey A. Wolin, Direktor der "School for Fine Arts" der Indiana University, Bloomington. J.A. Wolin Werke, mit denen er bereits mehrere prestigereiche Preise der Photographie gewonnen hat, wurden in einigen grossen Museen Amerikas ausgestellt. Das originelle Vorgehen des Künstlers besteht aus der Verbindung von Dokumentarporträts und individuellen und historischen Berichten, die schmerzliche Erinnerungen und vor allem Zeugenberichte verarbeiten. J.A. Wolin hat Dutzende von Schoah-Überlebenden überall in den Vereinigten Staaten fotografiert und interviewt. Einige von ihnen haben das Grauen der KZ's erlebt, andere sind nach der Machtergreifung durch Hitler nach Amerika geflüchtet oder haben sich während des ganzen Krieges versteckt. Jedes Foto zeigt, wie diese Überlebenden heute leben, sie zeigen ihre Beziehung zur Vergangenheit und die Rolle, welche die Erinnerung in ihrem aktuellen Leben spielen. Für jedes Bild hat Wolin zunächst lange Interviews mit seinen Modellen auf Video aufgenommen. Einige von ihnen sprechen zum erstenmal über ihre Vergangenheit, dieses interview verkörpert also die erste Offenbarung ihrer Leiden. Anschliessend schrieb Wolin diese Gespräche nieder, indem er sie so darstellte, dass sie in narrativer und handschriftlicher Form in einen freien Raum überrtragen werden konnten, der jedes Porträt einrahmt. Wolin bezeichnet sein Werk, das er dem Andenken an seine Grosseltern widmet, als das Resultat einer intensiven Zusammenarbeit zwischen ihm und seinen Modellen. Aus diesem Grund hat er das endgültige Porträt und den Text den Überlebenden unterbreitet, damit sie ihre Kommentare, Verbesserungen und Korrekturen frei anbringen konnten. Es ist ein wichtiges Detail, dass die persönlichen, aus der Vorkriegszeit stammenden und den dargestellten Menschen gehörenden Fotos vollständig in das Werk integriert wurden. Viele von ihnen bestanden darauf, dass ihr Foto zusammen mit dem Bild eines oder mehrerer während der Schoah getöteten Familienmitglieder gezeigt wird. Vergessen wir nicht, dass diese Fotos während des Krieges manchmal die einzige Hoffnungsquelle und vor allem ihre einzige Verbindung sowohl mit ihrer Familie, von der sie jede Spur verloren hatten, als auch mit der angeblich menschlichen Aussenwelt darstellten. So hat Jadzia Strykowska die Lager dank den Fotos ihrer Familie überlebt, die sie hatte retten und bei sich behalten können. Ihre Erinnerungen wurden auf schmerzhafte Weise geweckt, als Neonazis in ihrer Stadt Skokie (Chicago) eine Demonstration veranstalteten.
Jeffrey A. Wolin hat seine Kunst in den Dienst der Erinnerung und der Überlieferung gestellt. Sein Vorgehen entspricht dem Gedanken von Elie Wiesel, der lautet: "Mit ihrer Grausamkeit widersetzt sich der Holocaust der Sprache und der Kunst, und dennoch müssen wir diese beiden Elemente verwenden, um diese Geschichte der Welt zu erzählen". Die Kraft dieser Bilder liegt vor allem in ihrer Einfachheit. Sie besitzen nichts Provokatives, und die Beschreibungen berichten einfach von Tatsachen, die heute den Wert von historischen Zeugnissen haben. Ältere Frauen und Männer erzählen vor einer Kamera in der natürlichsten Weise der Welt, mit einfachen und aufrichtigen Worten, von den Ereignissen, die sie vor fünfzig Jahren erlebt haben, weil sie Juden sind. J.A. Wolin denkt, dass diese aussagekräftigen Bilder einen Aufruf an die Welt darstellen sich zu erinnern. Seine Werke zwingen den Betrachter nicht nur, diesen fremden Leuten auf dem Foto in die Augen zu sehen, sondern auch den Text zu lesen und eine direkte Verbindung zwischen dem Bild und dem Geschriebenen herzustellen, was eine gewisse Anstrengung verlangt. Ein Foto veranschaulicht besonders deutlich das Vorgehen des Künstlers. Es handelt sich um den Bericht und das Foto von Tulek Forstenzer, der eine einfache Szene aus seinen Erfahrungen im Konzentrationslager Mauthausen in Österreich beschreibt. Dieser lächelnde Mann am Steuer seines Wagens scheint glücklich zu sein, und wenn da nicht der Text wäre, der seine Begegnung mit dem Nazihorror nachvollzieht, könnte sich niemand vorstellen, was er erlebt hat. Der Kontrast zwischen dieser anscheinenden Heiterkeit und dem Grauen des Berichts (jüdische Gefangene schichten unter dem unerbittlichen Auge der deutschen Wärter Leichen in Krematorien aufeinander) stellt ein hervorragendes Beispiel für die Kraft und die Schlichtheit des Werkes von J.A. Wolin dar. Zum Schluss lassen wir den Künstler zu Wort kommen, der im Nachwort des Ausstellungskatalogs sagt : "... ich bin mir der Tatsache voll bewusst, dass derjenige, der die Schoah nicht am eigenen Leib erfahren hat, das Ausmass der Greueltaten nicht erfassen kann, das die Juden Europas unter der Herrschaft der Nazis erlitten haben. Ich hoffe aber, dass ein breites Publikum dank dem Blick auf ein Individuum, auf sein Bild und seine so starke Geschichte lernen wird, die Überlebenden zu verstehen. Diese Arbeit zeugt von der Kraft des Individuums, von seiner Fähigkeit wiederaufzustehen und der Entschlossenheit der Überlebenden der Schoah, die uns allen ein bedeutende Lektion in Sachen Menschlichkeit erteilen."
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