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Inhaltsangabe Kunst und kultur Frühling 1997 - Pessach 5757

Editorial - April 1997
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Chanukkah 5757
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    • Jüdische Scherenschnitte

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Schicksal
    • Von Nedjo nach Princeton

Ethik und Judentum
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Jüdische Scherenschnitte

Von Jennifer Breger

Vor dreissig Jahren hätten viele behauptet, die jüdische Volkskunst der Scherenschnitte sei in Osteuropa im Aussterben begriffen. Doch in Wirklichkeit fand in den vergangenen dreissig Jahren ein Wiederaufschwung des jüdischen Kunsthandwerks der Scherenschnitte statt, wobei Stil und Technik bedeutende Erneuerungen erfuhren. Eine einfache, volkstümliche Fertigkeit ist zu einer in stilistischer und technischer Hinsicht komplexen Kunst geworden. Uns ist heute auch viel mehr über Scherenschnitte im allgemeinen und über die Geschichte der jüdischen Scherenschnitte im besonderen bekannt.

Die Kunst des Scherenschnitts ist sehr alt und lehnt sich wahrscheinlich an die fernöstlichen Schattenfiguren an. Scherenschnitte aus dem 6. Jahrhundert n.Chr. oder sogar noch ältere Arbeiten wurden 1959 bei archäologischen Ausgrabungen in Nordwestchina gefunden. Die Chinesen stellen weiterhin handwerklich hervorragende Scherenschnitte her. Natürlich widerspiegelt diese Kunst die Kulturen und Sitten der verschiedenen Länder. In Mexiko beispielsweise zeigten Scherenschnitte aus farbigem Seidenpapier oft zweiköpfige Götter, die eine reiche Ernte heraufbeschwören sollten, oder aber mit dem Tod tanzende Skelette. In Deutschland und in den osteuropäischen Ländern wurden "Spitzenbilder" mit oftmals äusserst komplizierten religiösen Motiven hergestellt, die in Frauen- und Männerklöstern aus Papier oder Pergament geschnitten, gestanzt oder gestochen und an katholischen Pilgerstätten an Gläubige verkauft wurden, die sie dann in ihren Gebetsbüchern aufbewahrten. Mit der Nadel ausgestochene Bilder entstanden, indem man das Papier mit Nadeln oder nadelbesetzten Rädern durchstach. Auf schweizerischen Scherenschnitten wird oft ein jährlich wiederkehrender Brauch dargestellt, der Alpaufzug nämlich, bei dem die Hirten im Frühling ihre Kühe in die Berge zu frischem Weideland führen. Die "Shalom"-Leser in der Schweiz wissen bestimmt, das Jakob Hauswirth einer der ersten Schweizer Künstler war, der dieses Motiv des Berglebens in der Mitte des 19. Jahrhunderts verwendete. Scherenschnitte sind nicht immer symmetrisch - die chinesischen sind es in der Regel jedenfalls nicht.
Die jüdischen Scherenschnitte besitzen eine lange Tradition: die ältesten uns überlieferten Arbeiten stammen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Jüdische Scherenschnitte wurden meist für religiöse oder rituelle Zwecke hergestellt. Im 19. Jahrhundert verkörperte der Scherenschnitt eine der beliebtesten Formen der jüdischen Volkskunst, da alle Juden unabhängig von Einkommen oder Ausbildung Zugang zu Papier, Taschenmesser und Bleistift hatten. Im 19. Jahrhundert wurde Papier durch die Einführung von billigem Holzfaserpapier für alle erschwinglich. Scherenschnitte entstanden meist, indem ein doppelt gefaltetes Papier mit einem Messer geschnitten wurde, nachdem man es auf ein Holzbrett genagelt hatte. Die Symmetrie der Muster ergab sich durch das Auseinanderfalten des Papiers.
Es mag verblüffen, dass zahlreiche osteuropäische Scherenschnitte von Jeschiwah-Studenten hergestellt wurden, die einfacheren waren das Werk von Knaben, die im Cheder studierten. Viele der Arbeiten stammen aber offensichtlich von geschickten Handwerkern. Oft stellten die Schreiber die Scherenschnitte her, die später von herumreisenden Händlern verkauft wurden. Die Arbeiten beweisen in vielen Fällen eine grosse Vertrautheit mit mystischen und kabbalistischen Quellen. Die Kunst des jüdischen Scherenschnitts wurde in der Vergangenheit hauptsächlich, wenn nicht gar ausschliesslich, von Männern ausgeübt. Ironischerweise stammen zeitgenössische jüdische Scherenschnitte, insbesondere in den Vereinigten Staaten, in erster Linie von Frauen.
Scherenschnitt waren oft in den privaten Haushalten anzutreffen. Sie dienten hier als Misrach und Schivisis, welche die Gebetsrichtung angaben, als Uschpisim für die Sukkah, als "Roiselach" oder "Schavuosl" für die Fenster des Hauses anlässlich von Schavuoth und als Amulette für schwangere und stillende Mütter und ihre Neugeborenen. Sie wurden oft "Schir Hamalosls" genannt, nach den ersten Worten des Psalms 121, den man regelmässig für sie verwendet, um sie gegen Lillith zu schützen. Es gab ebenfalls Omer-Kalender, um die Tage zwischen Pessach und Schavuoth zu bezeichnen. Wandschmuck aus Scherenschnitten in der Form der siebenarmigen Menorah, ab und zu mit den Versen aus Psalm 67 versehen, entstanden in den Gemeinschaften des Mittleren Ostens und Nordafrikas, wo man ihnen eine gewisse Macht gegen das böse Auge zuschrieb. Die Muster dieser mittelöstlichen und nordafrikanischen Arbeiten wurden oft mit glänzenden, farbigen Metallfolien unterlegt.
Leider haben aufgrund der Empfindlichkeit des Materials und der ausgeschnittenen Muster nur wenige Scherenschnitte bis heute überlebt. Es existiert zwar ein Hinweis aus dem Jahr 1345 auf einen Juden in Kastilien, der Scherenschnitte herstellte, doch die meisten jüdischen Arbeiten stammen aus einer viel späteren Zeit. Uns sind einige seltene Megilloth und Ketuboth aus dem 18.Jhd. und vom Anfang des 19.Jhds. bekannt, deren Ränder mit dekorativen, ausgeschnittenen Mustern verziert sind. In jener Epoche wurden Scherenschnitte in Europa oft zur Verzierung offizieller Dokumente, wie z.B. von Ehescheinen, Testamenten und Bilanzen, verwendet. Die meisten der uns bekannten jüdischen Scherenschnitte entstanden jedoch zwischen dem Beginn des 19.Jhds. bis zum Beginn dieses Jahrhunderts in Osteuropa, Mitteleuropa, Nordafrika, im Mittleren Osten, in Teilen des Ottomanischen Reiches. Viele Juden, die aus Polen und Russland in die Vereinigten Staaten auswanderten, nahmen ihr Talent für den Scherenschnitt mit sich und setzten ihre Arbeit in Amerika fort.
Diese eingewanderten Künstler integrierten amerikanische Symbole in ihre Scherenschnitte, wie beispielsweise amerikanische Flaggen, die von traditionellen Säulen herabwehten. Ein Misrach- Scherenschnitt aus dem Jahr 1922 überlagert die Schwingen des doppelköpfigen Adlers mit den Fahnen Zions und der Vereinigten Staaten. Wir können auf diese Weise den Lebensweg eines eingewanderten Scherenschnitt-Künstlers namens Baruch Zvi Ring (Ringianski) nachvollziehen, der 1902 aus Litauen nach Amerika auswanderte. Von ihm stammt ein sehr komplizierter Scherenschnitt, den er im Alter von erst zehn Jahren ausführte, bevor er in die USA einreiste: er zeigt den hebräischen Text "Berachah Acharonah", die nach gewissen Mahlzeiten gesagt wird. In Amerika schlug er sich als Hebräischlehrer und Schreiber in Rochester, New York, durch. Viele seiner Scherenschnitte stellen Misrachs oder auch Omer-Kalender und Jahrzeit-Platten dar.
Jüdische Scherenschnitte verwendeten traditionsgemäss besondere jüdische Symbole und Texte. Sie besitzen viel Ähnlichkeit mit den Verzierungen im Inneren einer Synagoge und mit Gemälden, mit Buchhüllen und Illustrationen, Grabmälern und Stickereien. Zu den immer wiederkehrenden Symbolen gehören z.B. die Menorah, die Gesetzestafeln, Magen David, Chamsa, Krone, Säulen und Synagogenbögen, aber auch Pflanzen, Bäume, Trauben und Tiere. Die Tiere, die man häufig in jüdischen Scherenschnitten antrifft, sind die vier Tiere, die in den Sprüchen der Väter (5,23) genannt werden - Löwen, Hirsche, Adler und Leoparden. Die Leser meines Artikels über Lvov (Shalom Vol. XXIII) werden sich an die Scherenschnitte der Ausstellung erinnern. Galizien war ein Zentrum für Scherenschnitte, und die Sammlung Goldstein in Lvov besass eine bedeutende Anzahl von Scherenschnitten. Die erste, die den jüdischen Scherenschnitt als eine traditionelle Kunstform erforschte, war Giza Frankel, die bereits 1929 in ihrer Heimat Polen darüber schrieb, und auch nach dem Krieg, bis zu ihrem Tod 1984 an diesem Thema arbeitete. 1950 kam sie nach Israel und setzte ihre Forschungsarbeiten am Museum für Ethnographie und Folklore in Haifa fort.
Eine zeitgenössische, aus Wisconsin stammende und seit 1950 in Israel lebende israelische Scherenschnittkünstlerin, Yehudit Shadur, trug in bedeutender Weise zum Wiederaufleben der jüdischen Scherenschnittkunst bei. Sie war 1966 als Kunstlehrerin in Sde Boker tätig, als sie ihren ersten Scherenschnitt anfertigte, um damit Ben Gurions Sukkah anlässlich seines 80. Geburtstages zu dekorieren. Neben ihrer jahrelangen eigenen Arbeit und ihrem Einfluss auf andere Scherenschnittkünstler haben sie und ihr Mann vor kurzem ein aufsehenerregendes Buch über die Geschichte und die Entwicklung des jüdischen Scherenschnitts herausgegeben, das viele wunderbare Illustrationen ihrer eigenen Arbeit sowie zahlreiche historische und zeitgenössische Zeugnisse aus der Geschichte des jüdischen Scherenschnitts umfasst. Shadur lenkt unter anderem die Aufmerksamkeit auf den häufigen Gebrauch des "endlosen Knotens", ähnlich einer liegenden "Acht", die sich in zentral- und osteuropäischen Scherenschnitten aus der Menorah entwickelt. Shadur geht davon aus, dass dieses Motiv (möglicherweise ein Symbol für die Ewigkeit), das auch auf osteuropäischen Grabsteinen und Ketubot auftaucht, eventuell von weltlicher und christlicher Volkskunst Europas beeinflusst wurde. Scherenschnitte sind zu einem Bestandteil des gegenwärtigen Auflebens von Judaika geworden. Viele zeitgenössische Künstler befassen sich mit dem Scherenschnitt. Ein im Vordergrund stehendes Thema ist zur Zeit Jerusalem, was umso interessanter erscheint, als dieses Motiv in der Vergangenheit nur äusserst selten verwendet wurde.
Zu den Scherenschnittkünstlern der Gegenwart, deren Werk sich auf Jerusalem konzentriert, ist Archie Granot, ein ursprünglich aus London stammender israelischer Künstler, dessen Arbeiten kürzlich im B'nai B'rith National Museum in Washington ausgestellt wurden. Granots Werk unterscheidet sich von den meisten traditionellen Scherenschnitten, da er das übliche Repertoire anderer jüdischer Kunstschaffenden meidet: bei ihm gibt es weder Löwen noch Kronen. Sein Werk besteht hauptsächlich aus geometrischen Verflechtungen. Die komplizierten Flächenmuster erinnern an die jüdische Kunst Nordafrikas und an Motive der islamischen Architektur. Es handelt sich um eine Arbeit von höchster Präzision: der Autodidakt Granot verwendet anstelle eines Schneidemessers oder einer Schere nur chirurgische Skalpelle.
Was die Aufmerksamkeit des Betrachters sofort anzieht, ist die Mehrschichtigkeit. Oft überlagern sich über ein Dutzend Schichten ausgeschnittenen Papiers in verschiedenen Farben und verschiedenen Qualitäten, deren Muster ineinandergreifen. Dadurch erlangen die Bilder eine erstaunliche Tiefenwirkung. Die Papiersorten stammen aus zahlreichen Ländern ausser Israel, nämlich Dänemark, Italien, Spanien und Frankreich. Bei ihm erlangt das Papier selbst ebensoviel Bedeutung wie der Scherenschnitt und wird zu einem festen Bestandteil der Arbeit, im Gegensatz zu vielen der einfachen Scherenschnitte aus Osteuropa, die aus Stücken weissen Papiers entstanden.
Granot hat ebenfalls hebräische Texte ganz in seine Scherenschnitte integriert, indem er von Hand ausgeschnittene kalligraphische Buchstaben einbezog. In seinem Studio kann man die Besucher dabei beobachten, wie sie mit höchster Konzentration versuchen, das Geschriebene zu entziffern und zu identifizieren, denn er sucht immer nach Texten, die zwar nicht ganz geläufig, jedoch auch nicht völlig unbekannt sind. Sein Werk erinnert uns daran, dass immer eine enge Beziehung zwischen jüdischen Scherenschnitten und der Kalligraphie bestanden hat. Granot erklärt, dass "das kalligraphische Element des jüdischen Scherenschnitts nicht wegzudenken ist". Es gibt tatsächlich wenige jüdische Scherenschnitte, unabhängig vom Zeitpunkt und vom Ort ihrer Entstehung, ohne hebräische Schriftzüge. Granot verwendet unterschiedliche Beschriftungen, einschliesslich sephardischer und Raschi-Schriften. Er benutzt auch die "Jerusalem-Schrift" genannten Buchstaben, die offensichtlich in den Tagen von Ezra und Nechemiah nach der Zerstörung des Ersten Tempels und dem darauffolgenden Exil nach Jerusalem zurückgebracht wurden; diese Schrift ist auch in den Rollen vom Toten Meer und auf frühen Inschriften anzutreffen.
Sein zentrales Thema ist Jerusalem. Auf zahlreichen seiner Scherenschnitte verwendet er eine Abbildung des Zweiten Tempels aus der Dura Europos-Synagoge des 3. Jahrhunderts, die erste Wiedergabe, die nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70 entstand. Ein anderes Motiv, eine Palme, lehnt sich an frühe Arbeiten von Bezalel und das Fenster an die ehemals palastartigen Gebäude im Buchara-Viertel in Jerusalem an. Ein Text stammt aus dem Buch der Psalmen 125,2: "Wie um Jerusalem Berge sind, so ist der Herr um sein Volk her von nun an bis in Ewigkeit." Auf einer anderen Arbeit zitiert Granot einen Midrasch über einen Vers in Kohelet 1,7, in welchem es heisst: wenn "die Völker nach Jerusalem pilgern, ist die Stadt nie überfüllt". Auf einem Scherenschnitt sind alle 70 Namen Israels aufgeführt, die im Midrasch Zuta Schir Haschirim enthalten sind, einer rabbinischen Interpretation des Hohelieds. Die Zahl 70 taucht, wie die Zahl 7, oft im jüdischen Denken und in der jüdischen Tradition auf, insbesondere in mystischen Bewegungen. Alle Namen erscheinen in sieben konzentrischen Kreisen, eine Darstellung der sieben niedrigen Sefirot. In der Mitte erscheint der Name Israel. Ein von Granot hergestellter Mesusa-Scherenschnitt beruht auf der "Gematria", dem numerischen Wert 65 des Wortes Mezuza. Granot verwendete zur Herstellung der Mesusa 65 Schichten Papier.
Im diesjährigen Sommer entwarf Naomi Hordes, eine Künstlerin aus Washington, die sowohl mit Papier- als auch Materialapplikationen arbeitet, anlässlich der Batmitzwa unserer Tochter Sarah einen Scherenschnitt zur Erinnerung an das Ereignis. Meine Tochter sprach über die sieben biblischen Prophetinnen Sarah, Miriam, Deborah, Hannah, Abigail, Huldah und Esther. Der Scherenschnitt zeigt die sieben Prophetinnen im Magen David mit Sarah im Zentrum. Das Konzept der "sieben" wird mit Darstellungen der sieben Tage der Schöpfung fortgesetzt, wobei der Schabbat sich in Form einer Kerze, Kiddusch-Becher und Challah in der Mitte befindet, die sieben Urmütter und -väter im äusseren Zirkel. Sarah in der Mitte vervollständigt die Gruppe der Sieben.
In den letzten Jahren hat sich die Kunst des Scherenschnitts nicht nur verbreitet, sie ist auch erschwinglicher geworden. Es gibt nun Vervielfältigungen von Scherenschnitten, die mit Hilfe verschiedener Methoden reproduziert werden, darunter auch die Seidensiebtechnik, bei der individuell signiert und numeriert werden kann. Ausserdem werden auch Computer eingesetzt, um Maschinen zu programmieren, die unter Verwendung von Laserlichttechnik vielfache Exemplare eines Originalscherenschnitts herstellen können. Das Original kann beispielsweise verkleinert werden, um auf diese Weise Einladungen oder "Benschers" zu verschönern. Von jüdischen Künstlern hergestellte Scherenschnitte mit jüdischen Motiven haben sich so einen bedeutenden Platz bei den zeitgenössischen Judaika erobert.


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