News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Ethik und Judentum Frühling 2004 - Pessach 5764

Editorial - April 2004
    • Editorial [pdf]

Pessach 5764
    • Verantwortung – Grosszügigkeit – Freiheit [pdf]

Politik
    • Besinnung auf sich selbst [pdf]

Exklusives Interview
    • Gaza - eine realistische Idee ? [pdf]

Bericht
    • Mitgefühl Ja - Mitleid Nein [pdf]

Junge Leader in Israel
    • Yuval Steinitz [pdf]

Judäa – Samaria - Gaza
    • Alfe Menasche [pdf]

Umfrage – Ergebnisse
    • „Und der gewinner ist…“ [pdf]

Shalom Tsedaka
    • Zu Essen und zu Trinken… [pdf]

Reportage
    • Die Falaschas Muras [pdf]
    • Krav Maga [pdf]

Medizin
    • Es ist mitternacht Dr. Chouraqui! [pdf]

Deutschland
    • Jerusalem und Berlin [pdf]
    • Jude in Deutschland – nicht deutscher Jude [pdf]
    • Eine riesige Herausforderung [pdf]
    • Jüdische Gemeinde zu Berlin [pdf]
    • Die Jüdische Oberschule [pdf]
    • Beit Midrsasch d’Berlin [pdf]
    • Juden in Berlin [pdf]
    • Die Villa am Wannsee [pdf]
    • Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 [pdf]
    • Das jüdische Museum Berlin [pdf]
    • Entschlossenheit Und Strafverfolgung [pdf]

Gesellschaft
    • Konflikt der Gesetze ? [pdf]

Ethik und Judentum
    • Gefangene zurückkaufen? [pdf]

Artikel per E-mail senden...
Gefangene zurückkaufen?

Von Rabbiner Shabtai A. Rappoport *
A., 20 Jahre alt, kommt aus einer angesehenen Familie. Nach Abschluss seines Militärdienstes in der Infanterie der israelischen Armee setzt er zusammen mit einem Dutzend Jugendlichen seines Alters zu einer grossen Reise durch Südamerika an.
Zu Beginn reisen sie zusammen, entdecken gemeinsam Naturschönheiten, fremde Völker und Sitten. Nach einigen Wochen teilt sich die Gruppe der Reisenden auf: A. und einige seiner Kameraden beschliessen eine gebirgige Gegend zu erkunden, die bekanntlich aufgrund der politischen Lage für Touristen nicht sehr sicher ist.
Wie man später erfuhr, verliefen die ersten Tage dieses Ausflugs reibungslos. Die Einheimischen, denen A. und seine Begleiter begegneten, verhielten sich freundlich. Doch als die jungen Leute weiter ins Gebirge vordrangen, stiessen sie auf eine Gruppe von lokalen Widerstandskämpfern und wurden gefangen genommen. Es erweist sich, dass diese Gruppierung von Abtrünnigen mit islamistischen Organisationen in Verbindung steht, die sofort über die Gefangennahme von israelischen Geiseln informiert werden. Man beginnt zu verhandeln und nach Ablauf dieser Gespräche erhalten die Kidnapper auf illegalem Weg Waffen und Munition. Daraufhin verkündet die Hisbollah, die schiitische Terrororganisation im Libanon, dass das Schicksal der gefangenen Israeli in ihren Händen liege. Der Hisbollah-Sprecher erklärt, die Geiseln seien Kriegsverbrecher und würden als solche vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt werden, wenn Israel nicht 600 arabische «Freiheitskämpfer» aus israelischen Gefängnissen befreien würde. Unter dieser Bedingung allein würden die Geiseln wieder ihren Familien ausgeliefert.
Diese vom israelischen Fernsehen ausgestrahlte Androhung erschüttert die Bevölkerung. Die Familien der Geiseln beginnen eine öffentliche Kampagne und üben damit einen wachsenden Druck auf die Regierung aus, damit diese die Bedingungen der Hisbollah unverzüglich erfüllt. Die Angehörigen sind zu allem bereit, um die Sicherheit und das Wohlergehen der jungen Leute zu gewährleisten. Andererseits sprechen sich zahlreiche hohe Politiker kategorisch dagegen aus, dass Israel den Forderungen der Terroristen nachgibt. Die Familien wenden sich an eine Gruppe bekannter Rabbiner und bitten sie nachzuweisen, dass das biblische Gebot betreffend den Rückkauf von Gefangenen und die Pflicht, ein bedrohtes Menschenleben zu retten, über allen anderen Überlegungen steht. «Sobald unsere Kinder heil und gesund nach Hause zurückgekehrt sind, kann Israel Strafmassnahmen gegen die Hisbollah beschliessen, doch ihre Befreiung steht an oberster Stelle», sagt eine betroffene Mutter.
Stimmt es, dass Gefangene, deren Leben in Gefahr ist, um jeden Preis befreit werden müssen? Wie steht es um das Risiko, das durch die Befreiungsaktion angesichts so vieler Terroristen entsteht und andere unschuldige Menschen das Leben kosten kann? Einige berufen sich auf den Grundsatz, dass «ein Zweifel eine Gewissheit nicht aufheben kann» (Pessachim 9a), d.h. mit anderen Worten, dass eine hypothetische zukünftige Gefahr die Pflicht nicht aufheben darf, Gefangene im Falle einer unmittelbaren und sicheren Gefahr zurückzukaufen und zu retten.
Auf der Suche nach einer Antwort wenden wir uns zunächst der berühmten Mischnah zu: «Gefangene sollten nicht zu einem Preis zurückgekauft werden, der ihren Wert übersteigt, [um] die Ordnung der Welt [nicht zu stören]» (Gittin 45a). Der «Wert» entspricht in diesem Fall dem Preis, den man für den Gefangenen auf dem Sklavenmarkt erhalten würde. Diese Regel scheint auf den ersten Blick für uns nicht ausschlaggebend zu sein, da die Befreiung von Geiseln nichts mit dem Preis zu tun hat, den sie auf irgendeinem Sklavenmarkt erzielen könnten. Zur Zeit der Mischnah – der Epoche der Griechen und Römer – wurden Zivilpersonen von Verbrechern entführt, die sie später als Sklaven verkaufen wollten; der Rückkauf von gekidnappten Menschen stellte folglich eine Alternative zu diesem Verkauf dar. Heute hingegen werden Geiseln mit dem einzigen Ziel zurückbehalten, gewaltsam die Befreiung gefangener Terroristen zu erpressen.
Die Gemarah liefert zwei mögliche Erklärungen für die von der Mischnah etablierte Regel. Zum einen soll sie die Gemeinschaft vor einer finanziellen Belastung schützen, die erdrückend würde, wenn der Rückkaufpreis für Gefangene nicht beschränkt würde; andererseits fürchtet die Mischnah, dass ein Hochschnellen der Preise die Verbrecher zu noch mehr Entführungen animieren würde. Unter Berücksichtigung dieser beiden Begründungen kann man sich fragen, ob nahe Angehörige berechtigt sind, ein Lösegeld zu bezahlen, das die festgelegte Höchstsumme übersteigt, weil ja dann nicht die Gemeinschaft zahlen muss. Ein derartiges Lösegeld wäre im Fall der erstgenannten Begründung zulässig, im Rahmen der zweiten allerdings verboten. Rabbi Schlomo Lurie, ein herausragender polnischer Gelehrter des 16. Jh. – der Maharschal –, hält fest, dass die erstgenannte Begründung, mit der man der Öffentlichkeit eine zu hohe finanzielle Belastung ersparen möchte, einen zwingenden Faktor darstellt (Yam Schel Schlomo, Gittin, Kap. V 66). Daraus folgt, dass ein Individuum ein Mitglied seiner Familie auch zu einem horrenden Preis zurückkaufen darf, ohne das potentielle Risiko für andere Menschen zu berücksichtigen, die ebenfalls von den Verbrechern entführt werden könnten (zweite Begründung).
Dieser juristische Entscheid mag seltsam erscheinen. Wie kommt es, dass der Schutz einer Gemeinschaft vor einer extremen finanziellen Belastung als Begründung schwerer wiegt als das Verhindern der Gefahr, dass andere Menschen ihre Freiheit oder ihr Leben verlieren? Dazu muss betont werden, dass vom Standpunkt der Gemarah aus die Gefangenschaft ein Zustand ist, in dem sich der Mensch in Lebensgefahr befindet, da sein Tod durch Krankheit, das Schwert oder Hunger herbeigeführt werden kann. Lebensgefahr, tödliches Risiko, Bedrohung des Lebens: all diese Begriffe beziehen sich auf das Konzept von Pikuach nefesch (Lebensgefahr), das gemäss der Halachah praktisch alle anderen Gebote aufhebt. Weshalb ist es also im Falle des Rückkaufs einer Geisel nicht gerechtfertigt, der Gemeinschaft eine finanzielle Last aufzuerlegen?
Die Antwort scheint mit der Erläuterung eines juristischen Entscheids zusammenzuhängen, der ebenfalls zunächst unverständlich erscheint. Die Gemarah (Baba Metsiya 62a) führt folgenden Fall an: «Zwei Reisende (fern jeder Zivilisation) stehen vor einem Krug Wasser. Wenn beide trinken, müssen beide sterben; wenn nur einer von beiden trinkt, kann er in die Zivilisation zurückkehren… Rabbi Akiwa lehrt uns: «‘Dass dein Bruder neben dir leben könne’ (Levitikus 25, 36) – dein Leben ist wichtiger als seines.» Die Lehre von R. Akiwa gilt selbstverständlich nur dann, wenn sowohl das Leben des Besitzers des Wasserkrugs auf dem Spiel steht als auch dasjenige seines Begleiters. Enthält aber der Krug mehr Wasser, als er zum Trinken braucht, muss er auf das Waschen seiner Kleider verzichten, wenn er das Wasser mit seinem Begleiter teilt, ist es klar, dass das Leben seines Begleiters wichtiger ist als alle Überlegungen betreffend schlechter Hygiene oder unangenehmer Gefühle.
Überträgt allerdings die Gemarah (Nedarim 80b-81a) diese Schlussfolgerung auf zwei Gemeinschaften vielmehr als auf zwei einzelne Menschen, fällt sie radikal anders aus. Im Text wird der Fall eines Ziehbrunnens kommentiert, der einer Stadt gehört und an dem sich auch die Einwohner einer Nachbarstadt mit Wasser versorgen. Gibt es nicht mehr genügend Wasser für die Bewohner beider Städte und haben die Bewohner der ersten Stadt nicht mehr genügend Trinkwasser, wenn sie es teilen müssten, «steht ihr Leben an oberster Stelle». Reicht das Wasser infolge des Teilens nicht mehr für die Wäsche beider Städte, «steht ihre Wäsche [diejenige der Einwohner der ersten Stadt] über derjenigen der Fremden». Diese beiden juristischen Entscheide sind völlig mit der oben erwähnten Lehre von R. Akiwa zu vereinbaren. Dazu hält jedoch Rabbi Yosse fest, dass «im Falle einer Entscheidung zwischen dem Leben der Fremden und ihrer eigenen Wäsche… ihre Wäsche über dem Leben der Fremden steht… Der Schorf, der durch das Tragen schmutziger Kleider entsteht, führen zum Wahnsinn.» Das Urteil von R. Yosse wurde von späteren Rechtsgelehrten gutgeheissen (Rav Akhai Gaon, Che’iltot 147).
Die Gültigkeit dieses Urteils ist Gegenstand einer Diskussion zwischen späteren Kommentatoren. Weshalb steht die Wäsche einer Stadt über dem Leben der Einwohner aus einer anderen Stadt? Auch wenn man davon ausgeht, dass das Tragen schmutziger Kleider zum Wahnsinn führen kann – was dem Tod gleichkommt –, scheint dieses Risiko ziemlich vage im Vergleich zur unmittelbaren Lebensgefahr derjenigen, die kein Trinkwasser besitzen. In seinem Kommentar zu den Che’iltot gelangt Rabbi Naftali Zwi Berlin (der Netsiv von Wolozhyn, 19. Jh.) zu folgender Unterscheidung: ein Individuum kann sehr wohl beschliessen, sein Leben zu riskieren, um das Leben eines anderen zu retten, doch die Verantwortlichen einer Gemeinschaft sind nicht befugt, irgendein Risiko einzugehen und auf diese Weise das Leben der ihnen anvertrauten Menschen zu gefährden, um das Leben von Fremden zu retten, auch wenn diese Gefahr statistisch gesehen sehr gering ist. Er erklärt, dass eine derartige Geste freiwillig erfolgen muss; in jeder Gemeinschaft gibt es aber Minderjährige, die keine freiwilligen Entscheidungen vornehmen dürfen. Zum besseren Verständnis dieses juristischen Entscheids unterstreicht Rabbi Yekutiel Yehuda Halberstam (der Rabbi von Klozenburg), dass eine potentielle Gefahr, die auf individueller Ebene als gering gilt, zu einer tödlichen Gefahr werden kann, wenn es sich um eine gesamte Gemeinschaft handelt (Divre Yatsiv Chochen Mischpat 79). Daher gilt im Falle einer Stadt der Wassermangel für das Waschen der Kleider als eine tödliche Gefahr für die Einwohner, und folglich steht dieses Bedürfnis über dem Bedarf an Trinkwasser von Fremden.
Deshalb also verkörpert die horrende finanzielle Belastung einer Gemeinschaft eine Lebensgefahr. Da zur Verfügung stehende öffentliche Gelder auch dazu dienen, lebenswichtige Bedürfnisse zu decken, kann die drastische Verminderung dieser finanziellen Mittel durch den Rückkauf von Gefangenen zu einem extrem hohen Preis andere Leben gefährden; auf öffentlicher Ebene gilt diese Verminderung folglich als Lebensgefahr. Steht nun eine Gemeinschaft vor einer solchen Entscheidung, verlangt es die Regel, dass sie den Status quo beibehält, wie im Beispiel mit dem Wasser, und dass sie die Verteilung der finanziellen Mittel nicht verändert. Ein Individuum ist hingegen berechtigt, einen nahen Angehörigen auch zu einem horrenden Preis zurückzukaufen, weil er angesichts der sicheren Gefahr, in der sein Angehöriger schwebt, nicht verpflichtet ist, das statistisch geringe Risiko zu berücksichtigen, dass er damit vielleicht andere Entführungen veranlasst. Die Pflicht, ein geringes Risiko für die Gemeinschaft als Lebensgefahr zu betrachten, obliegt allein den Verantwortlichen einer Gemeinde.
Daraus folgt, dass die israelische Regierung keine Terroristen befreien darf, selbst wenn sie dadurch das Leben von A. und seinen Begleitern retten kann. Eine solche Befreiung gilt als echte Lebensgefahr; wägt man nun diese Gefahr gegen die Gefahr ab, welche die Geiseln bedroht, drängt sich die Entscheidung auf, den Status quo beizubehalten und von jeder Handlung abzusehen, die andere Bürger gefährden könnte.

* Rabbiner Schabtai A. Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halachah umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@bezeqint.net.

Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004