Frage: was gleicht am meisten einer Schule? Antwort: eine andere Schule! Frage: was gleicht am meisten einer jüdischen Schule? Antwort: keine andere jüdische Schule! Im Verlauf der fünfzehnjährigen Publikationszeit von SHALOM haben wir jüdische Schulen in aller Welt vorgestellt, von Auckland bis Moskau, von Johannesburg bis Riga und von Saloniki bis Bukarest. Überall hinterliessen diese Institute bei uns den ambivalenten Eindruck von «Déjà-vu» und «Entdeckung». Natürlich verfolgen alle jüdischen Schulen das Ziel, die jüdische Identität durch die Vermittlung von Wissen in Hebräisch, Judaistik und jüdischen Werten zu fördern und zu verstärken, und jede tut dies auf ihre Weise: entweder liegt der Schwerpunkt auf dem weltlichen Unterrichtsstoff bei gleichzeitiger Vermittlung der jüdischen Fächer als unvermeidlichem Zusatz, um dadurch Subventionen von den jüdischen Organisationen zu erhalten; oder das Hauptgewicht liegt auf der Lehre des Judentums bei gleichzeitigem Versuch, den weltlichen Unterricht auf höchstem Niveau beizubehalten, wobei das Verhältnis zwischen diesen beiden Fächerkategorien bis zu je 50% des Programms erreichen kann.
Beim Besuch der «Jüdischen Oberschule» von Berlin haben wir ein Institut mit jüdischer Prägung entdeckt, das letztere zu einer seiner zahlreichen Besonderheiten gemacht hat. Doch vor der Besprechung des Lehrplans drängt sich ein knapper Überblick über die Geschichte der Schule und des Gebäudes auf. In Deutschland wurde die erste jüdische Knabenschule vor 225 Jahren auf Anregung von Moses Mendelssohn gegründet. Er hatte erkannt, dass alle Fächer, die als Grundlage einer weltlichen Ausbildung galten (Deutsch, Mathematik, Physik, Französisch und Biologie), in Wirklichkeit den Kindern aus wohlhabenden Familien vorbehalten waren. Die «armen» Kinder lernten nichts ausser der Bibel und dem Talmud, falls sie nicht ihr ganzes Leben Analphabeten blieben. Moses Mendelssohn und seine Freunde beschlossen, ein jüdisches Institut zu gründen, das allen offen stand. Von 1778 bis 1825 wurde diese Schule von jüdischen und nichtjüdischen Kindern besucht, musste aber 1825 aus Geldmangel schliessen. 1826 wurde sie wieder eröffnet, dank einer Gruppe von drei Freunden - Ben-David, Zunz und Moser –, welche die Leitung übernahmen. 1860 wurde der Grundstein zum gegenwärtigen Gebäude gelegt, und ab 1862 öffnete die Schule ihre Tore. Da das Institut staatliche Subventionen erhielt, musste es auch nichtjüdische Kinder aufnehmen, wie dies noch heute der Fall ist. 1931 wurden die bis anhin getrennten Schulen für Mädchen und Jungen zusammengelegt, die Leitung wurde 1938 Georg Feige übertragen, der 1944 in Theresienstadt starb. Im Jahr 1942 beschlossen die Nazis, die Schule aufzulösen. Das Gebäude diente von April 1942 bis 1945 als Deportationszentrum für Berliner Juden. Nach dem Krieg beherbergte das in Ostberlin liegende Schulgebäude bis 1960 eine allgemeine öffentliche Schule, dann wurde diese bis 1993 in eine Berufsschule verwandelt.
In gewisser Hinsicht sieht sich die Oberschule von Berlin als Nachfolgerin dieses Instituts. Darüber hinaus kann man auf die interessante Tatsache hinweisen, dass sich direkt hinter der Schule ein kleiner Park befindet, in dem einer der jüdischen Friedhöfe Berlins lag, derjenige der Grossen Hamburgerstrasse, der von den Nazis entweiht und zerstört wurde. Heute sind hier nur noch einige Grabmäler und Gedenkplatten zu sehen. Nur ein Grab ist mitsamt dem Grabstein unversehrt geblieben, das von Moses Mendelssohn. Die gegenwärtige Schule befindet sich in einem Gebäude, das ab 1862 die «Jüdische Knabenschule» beherbergte. Die jüdische Schule wurde zu Beginn des Schuljahres 1993-1994 mit 27 Schülern eröffnet. Ab 1995 – es wurden gerade Renovations- und Erweiterungsarbeiten durchgeführt - zählte sie bereits 250 jüdische und nichtjüdische Schüler, die gemeinsam den Unterricht auf Sekundar- und Gymnasialstufe besuchten.
Das deutsche Schulsystem ist von Land zu Land verschieden. In Berlin besucht man die Grundschule bis zum 12. Lebensjahr, doch die jüdische Schule besitzt eine Ausnahmegenehmigung und kann Kinder ab der 5. Klasse aufnehmen, d.h. ab 11 Jahren. Die Jüdische Oberschule Berlin ist die einzige jüdische Schule auf Sekundarstufe in ganz Deutschland. Jüdische Primarschulen existieren überall im Land, und in Berlin gibt es die Heinz Galinski Schule, die einige hundert Schüler unterrichtet. Interessanterweise setzen die meisten Kinder, welche die Grundstufe in einer jüdischen Schule besucht haben, die Sekundarstufe nicht mehr in einem jüdischen Institut fort. Obwohl die Jüdische Oberschule von Berlin zum grössten Teil von der jüdischen Gemeinde finanziert wird, bezeichnet sie sich nicht als jüdische Schule im herkömmlichen Sinn, sondern als deutsche Schule jüdischer Ausrichtung. Dies bedeutet letztendlich, dass sie Kindern aller Religionen offen steht. Heute beträgt das Verhältnis der Schüler rund 60% Juden gegenüber 40% Nichtjuden. Die Anmeldungen jüdischer Kinder werden immer bevorzugt behandelt. Erstaunlicherweise kann man feststellen, dass sich unter den nichtjüdischen Schülern auch einige muslimische Kinder befinden.
Was die jüdischen Fächer angeht, besuchen alle Kinder den judaistischen Unterricht, als ob sie Juden wären. In diesem Zusammenhang ist es wichtig eine Stelle aus einer kleinen Broschüre der Schule zu zitieren, in der die Vermittlung des Judentums anschaulich beschrieben wird: «Im Rahmen der Bibelkurse lehren wir die Geschichte der Bibel unter Berücksichtigung der rabbinischen Auslegungen. Ziel dieses Faches ist nicht die Vermittlung der Religiosität, sondern die Weitergabe von Wissen, dank dem jeder Einzelne die Texte kritisch hinterfragen kann.» Das Erlernen der hebräischen Sprache erfolgt gemäss modernen Techniken für den Spracherwerb und soll den Schülern vor allem beibringen, die biblischen Texte zu lesen und zu verstehen. Ein weiterer wichtiger Teil des jüdischen Unterrichts ist der jüdischen Ethik, den moralischen und sozialen Werten der jüdischen Tradition sowie dem Studium der Religion gewidmet. Auch hier handelt es sich um einen rein wissenschaftlichen Ansatz, der sich mit den Symbolen, Überlieferungen, Regeln des jüdischen Lebens sowohl auf individueller als auch familiärer Ebene und der Vermittlung der jüdischen Kultur und des Kults auseinandersetzt. Diese Kurse sind in zwei Sitzungen von je drei Wochenstunden unterteilt, wobei in der einen Hebräisch gelehrt wird, in der anderen das Judentum. Diese jüdischen Fächer und Hebräisch zählen nicht für die Erlangung des Abiturs, doch es gibt eine allgemeine Beurteilung in Form einer Note, die für das Schulabschlusszeugnis berücksichtigt wird. Die Schule bietet eine koschere Mahlzeit an, die mit einer Brachah (Segnung) beginnt und endet, und einmal pro Woche, am Freitagmorgen, begeben sich die Schüler bestimmter Klassen in die Synagoge des Quartiers.
Im Rahmen der Geschichtsstunden wird der Schwerpunkt sehr auf die Schoah gelegt, und die Schüler nehmen an Gedenktagen und an besonderen Anlässen zur Erinnerung an den 9. November (Kristallnacht) und an den 27. Januar (Befreiung von Auschwitz) teil. Darüber hinaus entsendet die Schule jedes Jahr eine Delegation von rund 40 Schülern an den Marsch der Lebenden (siehe SHALOM Vol.39) und organisiert Besuche im Konzentrationslager Sachsenhausen (siehe SHALOM Vol.34).
Daher mag es verwunderlich erscheinen, dass nichtjüdische deutsche Eltern sich entschliessen, ihre heranwachsenden Kinder in eine jüdische Schule zu schicken. Dafür gibt es vielerlei Gründe, die oft ganz simpel sind: im Allgemeinen geschieht dies aus Bequemlichkeit, weil sie im Quartier, in dem die Schule liegt, berufstätig oder wohnhaft sind, oder weil sie nach einem Institut mit nicht allzu grossen Klassen suchen. Auch die Tatsache, dass es an der Schule weder Drogen noch Gewalt gibt, macht sie für die Eltern attraktiv. Es gibt aber auch Familien, die sich für das Judentum interessieren, wie beispielsweise jene deutsche Mutter, eine Archäologin, die Hebräisch kann und sich wünscht, dass ihre Tochter es auch lernt, oder aber einige Universitätsprofessoren, die Judaistik oder Theologie lehren und es ebenfalls gerne sähen, wenn ihr Nachwuchs Hebräisch lernt und das Judentum kennt. Und schliesslich gibt es Deutsche, die während des Kriegs geboren wurden und von ihren eigenen Eltern nie erfahren haben, was sich in dieser düsteren Zeit in ihrer Familie ereignet hat. Sie möchten, dass ihre Enkelkinder eine normale Beziehung zu den Juden aufbauen und diese Kultur von innen heraus kennen lernen.
Die Lehrer für die weltlichen Fächer besitzen eine allgemeine Ausbildung, die sie zum Unterrichten an staatlichen Schulen befähigt. Die jüdischen Fächer hingegen werden von jüdischen Dozenten gelehrt, die in Seminaren in Deutschland studiert haben.
Die Finanzierung der Schule ist ein Kapitel für sich. 95% der Betriebskosten werden nämlich vom Land Berlin übernommen, das sämtliche Privatschulen finanziert. Die Schulgebühren werden aufgrund einer Skala verrechnet, die direkt mit den Beiträgen der Eltern an die Gemeinde gekoppelt ist. Die Schule geht davon aus, dass dieser Beitrag bereits einen Teil des Schulgelds beinhaltet, und fakturiert daher nicht mehr ausschliesslich gemäss dem Einkommen der Eltern. Die nichtjüdischen Eltern bezahlen den Anteil, der nicht vom Land getragen wird.
Die Schule bietet eine Reihe von Freizeitaktivitäten wie die Beschäftigung mit Musik, Theater usw. an, aber besonders interessant ist die Tatsache, dass sie Schülern aus der GUS oder aus Israel zusätzlichen Deutschunterricht ermöglicht, während andere zusätzliche Hebräischstunden erhalten können. Die Schule bemüht sich demnach ganz direkt um den Integrationsprozess der neuen Einwanderer in Deutschland.
In einem lebhaften Gespräch mit der Schuldirektorin BARBARA WITTING, die selbst Jüdin ist, haben wir sie gefragt, was sie sich für die Entwicklung ihrer Schule wünscht: «Meine Hoffnung in Bezug auf die Zukunft der Schule besteht darin, dass wir immer mehr jüdische Schüler aufnehmen. Schliesslich besitzen wir eine Gemeinschaft mit fast 12 tausend Mitgliedern, ganz zu schweigen von unseren Glaubensbrüdern, die keiner Gemeinde angehören; es ist überhaupt nicht normal, dass 40% unserer Schüler nicht jüdischer Abstammung sind. Ich wünsche mir, dass die ausgezeichnete Arbeit, die ein zwar junges, aber sehr fähiges Kollegium hier leistet, anerkannt wird und dass sich dadurch der Ruf der Schule in jüdischen Kreisen noch festigt. Interessanterweise geniessen wir in der nichtjüdischen Gesellschaft einen hervorragenden Ruf, während wir in der jüdischen Gesellschaft als eine Schule bekannt sind, die zahlreiche Schüler russischer Abstammung aufnimmt, was angeblich das Niveau des Unterrichts senkt. Dies ist nichts als ein Gerücht, das von der Wirklichkeit völlig widerlegt wird. Zum Schluss möchte ich hinzufügen und betonen, dass es in einem Land wie Deutschland nicht selbstverständlich ist, dass sich jeder mit seiner Religion und seiner Zugehörigkeit identifizieren kann. Ich verstehe daher die Eltern kaum, die diese Gelegenheit nicht beim Schopf packen, ihre jüdische Identität zu stärken und weiterzugeben, und die ihre Kinder in andere Schulen schicken.»
Hoffen wir, dass Barbara Witting erhört wird!
(Fotoreportage: Bethsabée Süssmann)
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