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Inhaltsangabe Deutschland Frühling 2004 - Pessach 5764

Editorial - April 2004
    • Editorial [pdf]

Pessach 5764
    • Verantwortung – Grosszügigkeit – Freiheit [pdf]

Politik
    • Besinnung auf sich selbst [pdf]

Exklusives Interview
    • Gaza - eine realistische Idee ? [pdf]

Bericht
    • Mitgefühl Ja - Mitleid Nein [pdf]

Junge Leader in Israel
    • Yuval Steinitz [pdf]

Judäa – Samaria - Gaza
    • Alfe Menasche [pdf]

Umfrage – Ergebnisse
    • „Und der gewinner ist…“ [pdf]

Shalom Tsedaka
    • Zu Essen und zu Trinken… [pdf]

Reportage
    • Die Falaschas Muras [pdf]
    • Krav Maga [pdf]

Medizin
    • Es ist mitternacht Dr. Chouraqui! [pdf]

Deutschland
    • Jerusalem und Berlin [pdf]
    • Jude in Deutschland – nicht deutscher Jude [pdf]
    • Eine riesige Herausforderung [pdf]
    • Jüdische Gemeinde zu Berlin [pdf]
    • Die Jüdische Oberschule [pdf]
    • Beit Midrsasch d’Berlin [pdf]
    • Juden in Berlin [pdf]
    • Die Villa am Wannsee [pdf]
    • Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 [pdf]
    • Das jüdische Museum Berlin [pdf]
    • Entschlossenheit Und Strafverfolgung [pdf]

Gesellschaft
    • Konflikt der Gesetze ? [pdf]

Ethik und Judentum
    • Gefangene zurückkaufen? [pdf]

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Die Villa am Wannsee

Von Roland S. Süssmann
Alle Reportagen, die in der einen oder anderen Weise mit der Schoah zu tun haben, sind sehr schwer zu schreiben und beinhalten eine starke emotionale Komponente. Und doch gibt es Momente, die einen noch mehr erschüttern als andere. Wie gross war nämlich meine Überraschung, als ich in Wannsee vom Direktor der berühmten Villa empfangen wurde, in der die Konferenz von 1942 stattfand, und dieser mir beim Besteigen des Lifts zu seinem Büro sagte: «Der Aufzug, in dem Sie gerade stehen, ist so zu sagen im Originalzustand… vor Ihnen haben ihn wahrscheinlich Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann benutzt.» Diese zartfühlende Eröffnung ruft einem sofort den Schrecken eines Ortes in Erinnerung, der trotz allem wunderschön ist und an dem nie ein Jude ermordet wurde.
In diesem Haus trafen sich am 20. Januar 1942 unter der Leitung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich 14 hohe Beamte aus den Ministerämtern und der SS, um die praktische Durchführung der Deportation der europäischen Juden in das besetzte Polen zu planen, wo sie ermordet werden sollten. Diese Sitzung ging unter dem Namen «Wannseekonferenz» in die Geschichte ein, und im Gegensatz zur Legende wurde die «Endlösung» nicht erst während dieser Konferenz beschlossen, sondern schon viel früher, im Jahr 1941, und zwar von Hitler persönlich. Ziel dieser Sitzung war es zunächst, die Vernichtung der europäischen Juden zu organisieren, dazu hatte sie Heydrich schliesslich einberufen (siehe Artikel des Historikers Dr. Norbert Kampe, Direktor des Hauses der Wannseekonferenz).
Doch wer war eigentlich Heydrich? Er wurde 1904 als Sohn eines Komponisten und Konservatoriumsdirektors geboren und trat 1926 in die Reichsmarine ein, wo er den Dienstgrad eines Oberleutnants zur See erlangte, jedoch 1931 wegen «Schande» seiner Position enthoben wurde. Seit 1932 gehörte er der NDSAP (Nazionalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) und der SS an, wo er von Himmler sofort mit der Überwachung politischer Gegner beauftragt wird. 1933 wird er zum Chef der bayrischen Polizei ernannt, 1934 wird er Chef der Gestapo in Berlin. Im Januar 1936 macht man ihn zum Chef der SIPO (Sicherheitspolizei) und im Oktober 1939 zum Leiter des RSHA (Reichssicherheitshauptamt). In den Monaten April und Mai 1940 ist er Kampfpilot. Ab Juni 1941 gibt er den Einsatzgruppen die Anweisungen für die Organisation von Pogromen und Exekutionen in der UdSSR. Ende Juli 1940 gibt ihm Göring den Auftrag, die «Endlösung der Judenfrage» vorzubereiten. An der Wannseekonferenz legt er seinen Plan für die vollständige Vernichtung von 11 Millionen Juden durch ihre Deportation nach Osten vor und verlangt bei dieser Gelegenheit die Unterstützung der an der Konferenz vertretenen Ministerien. Am 4. Juni 1942 stirbt er infolge eines Attentats, das tschechische Widerstandskämpfer in Prag auf ihn verüben.
Ein Aufenthalt in Berlin wäre ohne einen Besuch in der berühmten Villa zweifellos undenkbar. Neben den Emotionen und dem kalten Schauder, der den Besucher beim Eintreten in den Konferenzraum erfasst, ist auch die ständige Ausstellung einen Rundgang wert. Im Konferenzsaal hängt ein Foto eines jeden Konferenzteilnehmers an der Wand, und man kann sich mühelos vorstellen, was an jenem Tag gesagt wurde. An diesem Ort wurde die wissenschaftliche und präzise Planung der physischen Vernichtung aller Juden Europas ausgearbeitet, einschliesslich der 1,5 Millionen Kinder. Die Ausstellung befasst sich zwar nicht nur mit der Konferenz, ist aber dennoch äusserst aufschlussreich. Auf die angrenzenden Räume aufgeteilt, ist sie sehr gut durchdacht und erinnert an die historischen Ereignisse seit 1933, an den Prozess des Ausschlusses, an die Verfolgungen, die Deportation und die Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen und ihre Komplizen. Besonders bemerkenswert wird die Ausstellung durch die Tatsache, dass die wesentlichen Fakten der Schoah auf relativ beschränktem Raum ausgesprochen klar dargelegt werden, und zwar mit Hilfe von aufrüttelnden, schockierenden und eindringlichen Fotos, Landkarten, strategischen Plänen und vergrösserten Dokumenten aus der damaligen Zeit. Neben den eigentlichen Ausstellungsräumen verfügt die Villa am Wannsee auch über einen pädagogischen Dienst für Schulen und spezialisierte Seminare, über eine sehr reichhaltige Bibliothek und Mediathek, die eine Konsultation von Büchern, Tonbändern und historischen Videofilmen vor Ort ermöglichen. Es werden vom Haus der Wannseekonferenz Seminare zu unterschiedlichsten Themen angeboten, die sich in den meisten Fällen direkt an spezifische Berufsgruppen wenden und sich mit dem Verhalten dieser Gruppen während der Schoah befassen. Diese Studienveranstaltungen lassen sich in sechs grosse Themenbereiche unterteilen: Judentum und jüdisches Leben in Europa vor 1933, die Juden unter dem totalitären Regime der Nazis, Befugnisse und Alltag unter den Nazis, Planung und Durchführung des Völkermords, Auswirkungen des Nazi-Regimes auf die deutsche Gesellschaft und Politik und schliesslich die aktuelle Debatte und die Erinnerung in Bezug auf die Nazi-Verbrechen. Einige Themen, um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen: eine Konferenz für Berufsmilitärs befasste sich mit «Die Beteiligung der Wehrmacht, die Rolle der Polizei und der Sicherheitsdienste im Völkermord», eine andere Veranstaltung richtete sich an die Mitarbeiter im Gesundheitswesen und Pflegebereich und lautete «Von der Euthanasie zum Mord an den Juden»; kürzlich fand ausserdem eine Konferenz für Berufsfeuerwehrleute statt und befasste sich mit «Das Verhalten der deutschen Feuerwehrleute in der Kristallnacht». In diesem Zusammenhang ist es interessant zu wissen, dass die Feuerwehrleute in gewissen Gegenden die Brandstifter mit der Stahlspitze der Löschvorrichtungen verprügelten, und zwar nicht aufgrund einer besonderen Sympathie für die jüdische Bevölkerung, sondern einfach wegen eines hoch entwickelten Pflichtgefühls. Sie sagten sich: «Wir sind Feuerwehrleute, deren Aufgabe es ist, Feuer zu löschen, aber auch den Ausbruch von Feuer zu verhindern. Wenn wir jemanden sehen, der Feuer legt, müssen wir ihn daran hindern». Auch auf nationalem Niveau finden regelmässig Seminare statt, die bis zu eine Woche dauern können und vom Finanzministerium der Bundesrepublik veranstaltet werden; an ihnen nehmen Beamte aller Hierarchiestufen teil und sie setzen sich mit einem einzigen Thema auseinander: «Die ordentliche Plünderung jüdischer Besitztümer durch die deutschen Steuerbehörden». Immer wieder taucht dieselbe Frage in diesen Studienveranstaltungen auf:«Kann sich dies wiederholen?». Seltsamerweise fällt die Antwort immer identisch aus. Die obersten Verantwortlichen sind in der Regel sehr kategorisch mit ihrer Behauptung, es gebe so viele Schutzvorrichtungen in der deutschen Gesetzgebung, dass sich derartige Gräuel gar nicht wiederholen könnten. Die einfachen Beamten sehen dies ganz anders: «Ich möchte gerne wissen, was passieren würde, wenn ich eine mir aufgetragene Arbeit mit der Begründung ablehnen würde, die eine oder andere Entscheidung komme mir nicht angemessen oder nicht richtig vor.»
Das Haus der Wannseekonferenz strengt sich besonders an, die deutsche Jugend für die Problematik der Schoah zu sensibilisieren. Die Schulen, die nach Wannsee kommen, weisen natürlich immer Störfaktoren in der Person von Schülern auf, die sich nicht die Bohne für «noch ein Museum» interessieren. Nach einem kurzen Besuch der Ausstellung werden die Klassen nach Themen in Gruppen unterteilt, die jede das Foto auswählen, das sie für das eindringlichste halten, und diesen einen Fall näher untersuchen. Die Lehrer nehmen an dieser Phase nicht teil und die Schüler bereiten ihre Präsentation selbständig vor. Sie haben Zugang zur Bibliothek und zur Mediathek, wo die Angestellten der Villa sie bei der Arbeit beraten. Die Resultate dieser Gruppenarbeiten sind nicht nur ausgesprochen interessant, sondern auch viel sagend, sowohl wegen der Art, wie das Thema behandelt wurde, als auch aufgrund einiger Persönlichkeiten, die innerhalb des Klassenverbands zutage treten. Auch Programme zur Vorbereitung von Reisen nach Israel, in die Konzentrationslager und zu Gedenkstätten in Polen und in der Tschechischen Republik werden angeboten.
Abschliessend soll hervorgehoben werden, dass die Villa ungeachtet einiger Gerüchte nie einer jüdischen Familie gehört hat. Sie wurde von den Nazis auf völlig legalem Weg deutschen Industriellen abgekauft, und zwar zu einem auf dem Immobilienmarkt üblichen Preis von 1,95 Millionen Reichsmark. Die Wahl dieser Villa für die Konferenz erfolgte aus Überlegungen der Bequemlichkeit. Ab 1941 wurde sie nämlich in ein Gästehaus für höhere Offiziere der Polizei und der SS verwandelt, die im Ausland Dienst taten und in Berlin einen Auftrag erledigten oder sich ausruhten. Es gab im Haus Zimmer, Aufenthaltsräume, eine ausgezeichnete Küche und einen guten Keller. Erwähnenswert ist noch die Tatsache, dass die Hausarbeit von jüdischen Jugendlichen erledigt wurde, die schliesslich deportiert wurden. Ein Rundbrief vom 15. Dezember 1941 empfiehlt den Offizieren die Villa anlässlich ihrer Aufenthalte in Berlin zu nutzen, damit dieses Haus zu einem «Zentrum für kameradschaftliche Beziehungen der von auswärts kommenden SS-Führer, der SIPO und des SD (Sicherheitsdienst) werde».
Zum Schluss soll darauf hingewiesen werden, dass sich am Eingang des Hauses ein Buch befindet, in dem die Besucher ihre Gefühle nach dem Rundgang zu Papier bringen können. Zwei Reaktionen sind uns aufgefallen. Die erste stammt aus der Feder eines jungen 24-jährigen Südafrikaners, der schrieb: «Ich finde keine Worte, um meine Gefühle auszudrücken. Wie Menschen dies anderen Menschen zufügen können, übersteigt meine Vorstellungskraft. Ich bin so stolz Jude zu sein und hier zu stehen, aufrecht, ein halbes Jahrhundert nach diesen Ereignissen, und mit lauter Stimme sagen zu können: «Le-Chaïm» - auf das Leben – auf den Frieden – auf Israel!». Die zweite Eintragung lautet: «Ich bin wieder da! Und die Öfen werden wieder rauchen». Dazu als Unterschrift ein Hakenkreuz!!!
Das gibt zu denken.

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