Sehr genau erinnere ich mich an meine Barmizwah am 27. April 1962, also vor nunmehr fast 42 Jahren. Wann immer ich in „meine“ Synagoge in die Berliner Rykestrasse gehe – und ich tue dies oft -, denke ich an dieses für mein Leben so wichtige Ereignis. Dabei kommt mir aber vielleicht noch häufiger als der Schabbatmorgen selbst die „Generalprobe“ nach dem Freitagabend-Gottesdienst in den Sinn. Rabbiner Martin Riesenburger bat mich, meinen Torahabschnitt und den der prophetischen Lesung vorzutragen. Ganz im Gegensatz zu den vorangegangenen Unterrichtsstunden, war Riesenburger sehr aufgeregt, ja fast gereizt, und machte mir deutlich, dass er nach der Barmizwah kaum wesentliches in der kleinen Ostberliner Gemeinde erwarte, ja im Grunde das Ende der Gemeinde gekommen schien.
So ganz verstanden habe ich dies erst Jahre später, als ich selbst mit den Problemen einer immer kleiner werdenden, vom Aussterben bedrohten Gemeinde bewusst konfrontiert war, einer Gemeinde, die doch eine stolze Geschichte hat.
Als die Zeit ihrer Gründung hat sie stets die Septembertage des Jahres 1671 betrachtet, denn nachdem Kurfürst Friedrich Wilhelm am 21. Mai 1671 fünfzig Familien der aus Österreich vertriebenen Juden Asyl gewährt hatte, räumte er am 12. und 14. September desselben Jahres daraufhin den beiden Familien Benedict Veit und Abraham Ries das Recht ein, sich in Berlin niederzulassen. Nicht ohne Stolz merke ich an, dass ich in direkter Linie mit der Familie Ries verwandt bin, mithin unsere Kinder zu der 13. Generation dieser in Berlin ansässigen Familie gehören.
Die wohl älteste Spur jüdischen Lebens auf dem heutigen Gebiet Berlins reicht allerdings mehr als 750 Jahre zurück: sie führt zu einem Grabstein, der einem im Jahre 1244 verstorbenen Mann namens Jona auf dem Spandauer Judenfriedhof gesetzt wurde.
Der erste Hinweis auf Juden in einem stadtgeschichtlichen Dokument lässt sich genau datieren: Am 28. Oktober 1295 wurde den Berliner Wollenwebern u.a. untersagt, „sich bei Juden Garn zu verschaffen“. Das Verhältnis der Juden zur Umwelt wird bereits hier durch den Widerspruch zwischen Eingliederung und erzwungener Ausgliederung bestimmt. Hätten die Wollenweber nicht das benötigte Garn bei Juden gekauft, so wäre es überflüssig gewesen, diesen geschäftlichen Kontakt ausdrücklich zu verbieten.
Vertreibungen und Demütigungen kennzeichnen die Geschichte der Berliner Juden. Schon 1349 gab man ihnen für das Auftreten der Pest, des sogenannten schwarzen Todes, die Schuld. Ihre Häuser wurden verbrannt, sie selbst getötet bzw. vertrieben. Verfolgungen waren auch in den Jahren 1446, 1510 und 1571 zu verzeichnen.
Trauriger Höhepunkt der Judenfeindschaft im Berlin der frühen Neuzeit war der 19. Juli 1510, an dem auf dem vor der Marienkirche gelegenen Neuen Markt 38 Juden hingerichtet wurden. Bei einem Einbruch in die Kirche des havelländischen Ortes Knoblauch wurden unter anderem geweihte Hostien gestohlen; ein Jude wurde in diesem Zusammenhang fälschlich der Hostienschändung beschuldigt.
Die ermordeten 38 Juden wurden Opfer eines Justizmordes und sind als Märtyrer in die jüdische Geschichte eingegangen. Die Geschichte der Juden in Berlin schien damals zu einem Ende gekommen zu sein. Sämtliche Juden wurden aus der Mark vertrieben, da sie angeblich an dem vermeintlichen Verbrechen ihrer Glaubensgenossen beteiligt waren. Die Haltlosigkeit der Beschuldigungen hat Josel von Rosheim auf dem Fürstentag zu Frankfurt 1539 nachgewiesen. Diese Berichtigung und die damit verbundene Aufklärung wirkte jedoch nicht auf die Dauer, im Gegensatz zu den Vorurteilen, die nahezu in jeder Generation wiederkehrten.
Das Jahr 1571 ist verbunden mit der Affäre um den berühmt-berüchtigten Münzmeister Lippold. Er war im Jahre 1556 von Joachim II. zum Obersten aller Juden in der Mark ernannt worden und hatte es verstanden, sich seinem für Verschwendungssucht bekannten Herrn unentbehrlich zu machen. Es gehörte zu Lippolds Aufgaben, die Herkunft und vor allem das Vermögen der einwandernden Juden festzustellen und ihnen eine Zahlung an den Kurfürsten aufzuerlegen. Er musste ferner die jährlichen Steuern sichern und den Juden bestimmte, jedes Jahr an die Münzstätte Berlin zu zahlende Abgaben abfordern. Daneben betrieb er ein privates Geldleih- und Pfandgeschäft. Von Christen und Juden war er gleichermassen gefürchtet und gehasst. Mit dem Tode seines Gönners - Joachim II. starb in der Nacht zum 3. Januar 1571 - entlud sich der Hass gegen Lippold. Der neue Kurfürst Johann Georg liess Lippold verhaften. Er wurde beschuldigt, den Kurfürsten Joachim verzaubert und vergiftet zu haben. Der gegen ihn geführte Prozess zog sich über zwei Jahre hin; im Jahre 1573 wurde er hingerichtet. Die Juden des Kurfürstentums wurden ihres Vermögens beraubt und „auf ewige Zeiten“ vertrieben. In der Folgezeit war den Juden fast hundert Jahre lang das Recht der Niederlassung in der Mark Brandenburg verwehrt; erst seit dem bereits erwähnten Edikt des Grossen Kurfürsten leben wieder Juden in Berlin.
Im sogenannten Generalprivileg vom 17. April 1750 wurde festgelegt, dass die Zahl der Juden in Berlin auf 203 ordentliche und 63 ausserordentliche Schutzjuden zu begrenzen sei.
Gemäss dieser Verfügung waren von nun an die Juden in sechs Gruppen eingeteilt.
Strenge Bestimmungen herrschten für diejenigen Juden, die sich ohne Schutzbrief in Berlin aufhielten:
Der französische Politiker Mirabeau hat dieses Reglement als „mittelaterlich orientiert“ und „eines Kannibalen würdig“ bezeichnet.
Einer der berühmtesten Untertanen Friedrichs II. war Moses Mendelssohn (1729-1786). Er kam aus dem Ausland, war aus dem Dessauer Ghetto auf- oder ausgebrochen und traf als 14jähriger im Herbst 1743 in der Preussischen Residenz ein. Etwa fünf Tage war dieser Mosche mi Dessau (Moses aus Dessau) zu Fuss unterwegs, bevor er durch das Rosenthaler Tor Berlin betreten durfte. Gemäss dem Generalprivileg Friedrichs gehörte Mendelssohn zunächst zu keiner der sechs Gruppen. Er war vorerst ungeschützter ausländischer Jude. Erst mit der Anstellung als Hauslehrer bei dem ordentlichen Schutzjuden Isaak Bernhard, nach 1750, gehörte er zu den Bediensteten, die sich für die Dauer ihrer Tätigkeit zu den Berliner Juden rechnen durften. 1763 erhielt er schliesslich das Privileg eines ausserordentlichen Schutzjuden.
Mendelssohn, dem deutschen Aufklärer und gesetzestreuen Juden, wurde vom König verwehrt, Mitglied der Preussischen Akademie zu werden.
Moses Mendelssohn bemühte sich, gesetzestreuer Jude und deutscher Aufklärer zu sein. Die Synthese, die ihm für seine Person gelang, hielt er für das Modell einer generellen Lösung, doch erwies sie sich als individuelles bzw. nur kleinen Gruppen mögliches Muster: Die perfekte Beherrschung zweier Kulturen, deren Sprachen, Literaturen, Geschichte usw. war nur für wenige nachvollziehbar. Nach Mendelssohns Lebzeiten brachen die Widersprüche auf, nicht hinsichtlich der Frage, inwieweit die deutsche Kultur ein Bestandteil jüdischer Bildung zu sein habe, wohl aber hinsichtlich dessen, was als jüdische Religion zu erachten und zu praktizieren sei. Insofern knüpften alle Richtungen des deutschen Judentums an Mendelssohn an. Auch die osteuropäische Aufklärungsbewegung hat ihre Wurzeln in seinen Lehren. Mendelssohn ist deshalb als Schlüsselfigur der Geschichte zu betrachten, obgleich er diese Rolle nie anstrebte. Er war der geistige Wegbereiter der Gleichberechtigung der Juden in Deutschland und gilt mit vollem Recht als Inbegriff und Symbol der jüdischen Emanzipation. Zur Zeit Moses Mendelssohns war die Berliner Jüdische Gemeinde nicht nur ein Wirtschaftsfaktor in der Residenz, sondern spielte zunehmend auch eine Rolle im öffentlichen Kulturleben. In Berlin begann der Prozess der Angleichung der Juden an die übrige Bevölkerung zuerst sichtbar zu werden.
Im März 1812 erzielten die progressiven Kräfte Preussens einen grossen Erfolg: Ein von Hardenberg durchgesetztes Edikt gewährte den Schutzjuden endlich mehr Freiheit, wenn auch nicht volle Rechtsgleichheit.
Aufgrund des Edikts von 1812 wurden die Juden in den preussischen Stammprovinzen ihren christlichen Mitbürgern nahezu gleichgestellt. Dies war jedoch nicht von Dauer.
Wenn ich mich in meiner Jugend mit alten Menschen unterhalten habe, und wenn ich die Erzählungen meiner Mutter über ihren Vater, den Berliner Rechtsanwalt Hermann Jalowicz, richtig erinnere, dann mag im Nachhinein der Eindruck entstehen, dass die Juden sich in der Kaiserzeit (in den Jahren 1871-1918) gut aufgehoben gefühlt haben, wenngleich antisemitische Tendenzen nicht übersehen werden sollen. Berlin erlebte in der Kaiserzeit einen grandiosen Wirtschaftsaufschwung, der im Innern mit einer ausserordentlichen kulturellen Entwicklung einherging. Damit verbunden war übrigens ein bis dahin nicht gekannter materieller Wohlstand. Und die deutschen Juden fanden ihren Platz in diesem Land und seiner Hauptstadt. Nicht unbestritten, aber wie es schien, auf Dauer.
Weitgehend ausgeschlossen von Staatsämtern, Richterstellen, Professuren und Offizierslaufbahnen, blieben Juden bis zum Ende des Kaiserreichs dennoch Bürger zweiter Klasse. Sozialer Aufstieg war ihnen nur über Bildung und Besitz möglich, nicht über die in Preussen so angesehenen Militär- und Beamtenkarieren. Deshalb drängten junge Juden in die Berliner Gymnasien und in die Universität und nutzten intensiv die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die die Industrialisierung ihnen bot. In Handel, Industrie und in den freien Berufen haben die Berliner Juden ihre wichtigsten Erfolge errungen. Für viele wurde der Aufstieg vom Aussenseitertum ins Bürgertum in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zur Wirklichkeit.
Berlin war in jeder Beziehung eine attraktive Stadt. Die jüdische Bevölkerung entwickelte sich; es entstanden neue Synagogen, so z. B. 1912 die in der Fasanenstrasse unmittelbar in der Nähe des Bahnhofs Zoo.
Dass kulturelle Zentrum und auch das Verwaltungszentrum blieben aber in der Gegend um die Neue Synagoge in der Oranienburger Strasse, jenem Gotteshaus, das in den Jahren 1859-1866 errichtet worden war.
Die Geschichte der Neuen Synagoge steht pars pro toto für die Geschichte der Juden Berlins und ihres Schicksals. Mehr als 3.200 Beter fanden in diesem grössten, schönsten und auch teuersten jüdischen Gotteshaus der preussischen Residenz Platz.
Nur 72 Jahre nach der Einweihung versuchten die Nationalsozialisten das Gebäude in Brand zu stecken; dies konnte ein beherzter Polizist verhindern. Auch das hat es also gegeben!
Im Kriege zerstört, stand mitten in der Berliner Innenstadt eine Ruine, die wir in den Jahren 1988-1995 wieder aufgebaut haben, jedenfalls soweit sie erhalten blieb, ist doch der Synagogenhauptraum im Jahre 1958 gesprengt worden. Stolz künden nun ihre goldenen Kuppeln vom einstigen und gegenwärtigen Berliner Judentum.
Ein Spiegelbild der Berliner jüdischen Geschichte in der Kaiserzeit und Weimarer Republik bietet der 1880 eingeweihte Friedhof der Berliner Jüdischen Gemeinde in Berlin-Weissensee. Hier fallen einige protzige Mausoleen des jüdischen Grossbürgertums auf, dessen Wille zur Selbstdarstellung seiner Erfolge hier unübersehbar wird. Bei einem Rundgang begegnen wir unterschiedlichsten Grabsteinen; nicht zu übersehen sind die zahlreichen kleinen und bescheidenen einheitlichen Steine, die für die Gemeindearmen unentgeltlich gesetzt wurden.
Vor allem in der Ehrenreihe des Friedhofs treffen wir auf eine Reihe bekannter Namen, die in gewisser Weise den Anteil der Berliner Juden an der Entwicklung ihrer Stadt zur Weltstadt wiederspiegeln.
Auf kulturellem Gebiet ist der Anteil der Juden, gerade in Berlin, dem geistigen und wirtschaftlichen Zentrum der deutschen Judenheit, gross. Die Namen international bekannter Schriftsteller und Filmschöpfer können hier nicht aufgezählt werden; die Liste würde zu lang. Dasselbe gilt für bedeutende Wissenschaftler und Vertreter der Musik und bildenden Kunst. Auch im Presse- und Verlagswesen taten sich Juden hervor.
Viele der später Verfemten und Ermordeten waren ganz bewusste Berliner.
Die Geschichte der Berliner Juden in der Nazizeit wäre ein eigenes Thema. Den Jahren der Vernichtung gingen Jahre der Verfolgung, d.h. der Ausgrenzung aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben, voraus. Wer meinte, dass mit dem Novemberpogrom und der Zerstörung der Synagogen der Höhepunkt des Unheils bereits erreicht sei, hatte das Ausmass der Intentionen der Verbrecher unterschätzt. Etwa 55.000 Berliner Juden wurden ermordet. Nur ein Bruchteil der einstmals in Berlin beheimateten Juden, abgesehen von denen, die sich durch Emigration in Sicherheit bringen konnten, hat die Schoah überlebt.
Bald nach der Befreiung konstituierte sich in der Oranienburger Strasse die Jüdische Gemeinde wieder. Recht bald spielt hier Heinz Galinski eine wichtige Rolle, der die Vision hatte, dass Juden und Jüdische Gemeinden in Deutschland eine Chance haben. Durch die unterschiedlichen politischen Systeme bedingt kam es im Januar 1953 zur Spaltung der bis dahin einheitlichen Gemeinde in zwei von einander unabhängiger Jüdischer Gemeinden, die erst nach der politischen Vereinigung wieder zueinander fanden.
Die Zahl der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin beträgt heute etwa 12.000; die Mehrheit kommt aus den heutigen GUS-Staaten, also aus der ehemaligen Sowjetunion.
Seit meiner Kindheit besuche ich am Schabbat und an Feiertagen eine Synagoge im Bezirk Prenzlauer Berg, im Norden der Stadt, in der ich auch, wie eingangs betont, Barmizwah wurde. Wie oft klingelte bei mir am Freitagabend (eigentlich muss man ja die Schabbat-Ruhe einhalten!) das Telefon, und irgendwer bat mich, doch am nächsten Morgen zu kommen, damit zehn Männer da sind. Diese Anrufe bleiben nun aus. Nicht etwa, weil die Beter frommer geworden sind und am Schabbat nicht mehr telefonieren, sondern weil die Synagoge voll ist. Am vergangenen Sonnabend habe ich gezählt: Es waren gut zwanzig Männer. Das ist – zumindest für unsere Verhältnisse – enorm. Die überwiegenden Anzahl der Beter spricht Russisch. Die Gruppe dieser „Russen“ ist sehr heterogen: Die einen kommen aus Moskau und St. Petersburg, andere aus dem Baltikum und wieder andere aus Mittelasien. Das Schicksal hat sie alle nach Berlin verschlagen. Sie sind Russen in Berlin, ihre Kinder und Kindeskinder aber werden Berliner Juden und sind sich – so hoffe ich jedenfalls – ihrer grossen historischen Verantwortung bewusst.
Die Sorge von Rabbiner Riesenburger vor nunmehr fast 42 Jahren war also unbegründet!
* Dr. Hermann Simon ist Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum.
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