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Inhaltsangabe Reportage Frühling 2004 - Pessach 5764

Editorial - April 2004
    • Editorial [pdf]

Pessach 5764
    • Verantwortung – Grosszügigkeit – Freiheit [pdf]

Politik
    • Besinnung auf sich selbst [pdf]

Exklusives Interview
    • Gaza - eine realistische Idee ? [pdf]

Bericht
    • Mitgefühl Ja - Mitleid Nein [pdf]

Junge Leader in Israel
    • Yuval Steinitz [pdf]

Judäa – Samaria - Gaza
    • Alfe Menasche [pdf]

Umfrage – Ergebnisse
    • „Und der gewinner ist…“ [pdf]

Shalom Tsedaka
    • Zu Essen und zu Trinken… [pdf]

Reportage
    • Die Falaschas Muras [pdf]
    • Krav Maga [pdf]

Medizin
    • Es ist mitternacht Dr. Chouraqui! [pdf]

Deutschland
    • Jerusalem und Berlin [pdf]
    • Jude in Deutschland – nicht deutscher Jude [pdf]
    • Eine riesige Herausforderung [pdf]
    • Jüdische Gemeinde zu Berlin [pdf]
    • Die Jüdische Oberschule [pdf]
    • Beit Midrsasch d’Berlin [pdf]
    • Juden in Berlin [pdf]
    • Die Villa am Wannsee [pdf]
    • Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 [pdf]
    • Das jüdische Museum Berlin [pdf]
    • Entschlossenheit Und Strafverfolgung [pdf]

Gesellschaft
    • Konflikt der Gesetze ? [pdf]

Ethik und Judentum
    • Gefangene zurückkaufen? [pdf]

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Die Falaschas Muras

Von Roland S. Süssmann
Der Aufschwung des Staates Israel besteht mittel- und langfristig weiterhin aus der Förderung der Einwanderung, der Aliyah. Die Ankunft von rund einer Million Menschen aus der ehemaligen UdSSR hat eine Reihe von grundlegenden Gegebenheiten in Israel radikal verändert. Es gilt heute jedoch trotz der viel versprechenden potenziellen Entwicklung der Zahlen als Tatsache, dass die Aliyah selbst nicht besonders positiv aussieht, da nur wenige neue Immigranten zu verzeichnen sind.
Es existiert aber eine grosse, insgesamt ca. 26'000 Seelen umfassende Gesellschaft, die sich nichts sehnlicher wünscht als eine rasche Auswanderung nach Israel. Es handelt sich um die Falaschas Muras, diesen Zweig der jüdischen Gemeinschaft in Äthiopien, der über ein Jahrhundert lang offiziell zum Christentum übergetreten war, doch dabei seine jüdische Identität bewahrt hatte. Diese Konvertierungen erfolgten oft unter gesellschaftlichem Druck jeder Art, infolge von Glaubenskriegen, Pogromen, Hungersnöten usw. Zu einem bestimmten Zeitpunkt war es jedem Nichtchristen untersagt Land zu besitzen, so dass ungefähr 30% der jüdischen Bevölkerung offiziell zum Christentum übertraten.
Über zehn Jahre lang stellten die Falaschas Muras sowohl für die israelische als auch für die Jewish Agency und für die rabbinische Instanzen ein Problem dar. Im Verlauf dieser Zeitspanne hielt das Grossrabbinat von Israel fest, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaft in jeder Hinsicht Juden seien und alle Bedingungen erfüllten, um das Rückkehrgesetz zu ihren Gunsten auszulegen. Für diejenigen, die sich von der Gesellschaft der frommen Juden in Israel nicht voll akzeptiert fühlten, organisierte das Rabbinat eine so genannte «Konvertierung nach strenger Observanz», Giur Chamur, der sich die in Israel lebenden äthiopischen Juden Falaschas Muras unterziehen. Dazu besuchen sie eine Reihe von Kursen über das Judentum.
Nach der Operation Moses in den Jahren 1984-85 und der Operation Salomon (1990), dank denen die übrige Mehrheit der äthiopischen Juden in Israel niederlassen konnte, wurde in Israel ein Ausschuss gegründet, um die Falaschas Muras zu ermitteln, die für eine Auswanderung nach Israel in Frage kommen würden. 1992 wurde der israelischen Regierung eine Liste mit rund 30'000 Namen übergeben. Diese Liste und einige juristische Schritte haben es ermöglicht, dass ca. 25'000 Falaschas Muras sich nach und nach in Israel niederlassen konnten. Als man sich bewusst wurde, dass ein Teil der in abgelegenen Regionen Äthiopiens lebenden Falascha-Muras-Gemeinschaft nicht berücksichtigt worden war, gründete man 1999 einen Ausschuss, bestehend aus Vertretern des Innenministeriums, der Jewish Agency, des Grossrabbinats von Israel und mehrerer humanitärer Organisationen, um eine neue Liste zu erstellen. Man entdeckte im ganzen Land weitere 26'000 Menschen, die den notwendigen Bedingungen für eine Niederlassung in Israel entsprachen.
Nach ihrer Auflistung verliessen diese Menschen ihre Region und lebten unter sehr schwierigen Umständen in Addis Abeba und in Gonda. Heute haben sie wieder einen durch und durch jüdischen Lebensstil angenommen und verfügen über eine jüdische Schule, die täglich von über sechstausend Kindern besucht wird. Man muss sich klar machen, dass diese Personen nun in Äthiopien zu «inneren Flüchtlingen» geworden sind. Sie haben ihre Häuser und ihre Arbeitsplätze verlassen mit dem Ziel, nach Israel auszureisen, doch bis heute sitzen sie in Äthiopien fest. Unnötig zu erwähnen, dass diese Menschen von der lokalen Bevölkerung belästigt, misshandelt und ausgenutzt werden. Sie überleben nur dank der Hilfe von aussen, die insbesondere von bereits in Israel lebenden Familien stammt. Letztere sparen sich oft einen Teil ihres mageren Einkommens oder ihrer finanziellen Unterstützung vom Mund ab, um ihren im Land verbliebenen engen oder ferneren Verwandten etwas Geld zukommen zu lassen. Auf internationaler Ebene sammelt eine unabhängige amerikanische Organisation, die «North American Conference on Ethiopian Jewry», Geld, um die grundlegenden Bedürfnisse der Falaschas Muras in Addis Abbeba zu decken; das American Joint Distribution Committee leistet ebenfalls finanzielle Unterstützung. Es stellt sich nun die Frage, warum diese Juden seit fast elf Jahren in dieser Situation belassen werden.
Aus unerklärlichen Gründen scheint die israelische Regierung einige der eigenen Beschlüsse nicht umzusetzen. Es sind alle Bedingungen erfüllt worden, damit diese Menschen nach Israel einwandern können, und die Fortsetzung dieser Situation bewirkt, dass in den Kreisen der aus Äthiopien eingewanderten Juden immer drängendere Fragen auftauchen, deren häufigste lautet: Werden sie links liegen gelassen, weil sie arm und ungebildet sind? Eine rassistische Komponente kann eigentlich ausgeschlossen werden, da Israel ja die Operationen Moses und Salomon durchgeführt hat, die jede für sich einen grossen Erfolg darstellten. Auch die Kosten einer derartigen Integration dürften keinesfalls ein Hindernis verkörpern, da schon bedeutendere Budgets für die Integration mittelloser Gemeinschaften aufgewendet wurden. Seltsamerweise wird in Israel demnächst ein spezielles Bildungsprogramm für die aus Äthiopien stammenden Juden gestartet, das vom Amercican Jewish Committee, Keren Hayessod, der Jewish Agency und der israelischen Regierung organisiert und finanziert wird. In diesem Programm ist nichts für die Falaschas Muras vorgesehen, die sich immer noch in Äthiopien befinden. Das äthiopische Gesetz gewährleistet die Freizügigkeit der Personen, jeder ausreisewillige Einwohner darf das Land ungehindert verlassen. Aufgrund des Drucks aus dem arabischen Lager wäre es schwer, erneut eine umfangreiche Aktion zu planen, in deren Verlauf Hunderte von Flugzeugen innerhalb von 24 oder 48 Stunden Tausende von äthiopischen Juden abholen würden.
Auf praktischer Ebene ist natürlich auch festzuhalten, dass die Systeme zur Aufnahme von Einwanderern nach Israel, insbesondere von Menschen aus Äthiopien, perfekt eingespielt sind. Es steht heute ein riesiges Team von Ärzten, Erziehern, Psychologen usw. bereit, die selbst aus Äthiopien stammen und fliessend Hebräisch sprechen. Darüber hinaus haben die meisten von ihnen das Integrationsverfahren selbst durchlaufen und wissen, wie die Probleme im Alltag gelöst werden können.
Wir haben uns nach Mevassereth in der nahen Umgebung von Jerusalem begeben, wo wir mit einigen Falaschas Muras sprechen konnten. Wir haben uns von ihren Problemen berichten lassen, die man eigentlich auf einen einzigen gemeinsamen Nenner bringen kann: die Unmöglichkeit der Familien¬zusammenführung. Zahlreiche Frauen sind ohne ihre Männer eingereist, zahlreiche Familien haben ihre erwachsenen Kinder in Äthiopien zurückgelassen. Mit ihren bescheidenen Möglichkeiten unternehmen diese Menschen alles, um wieder mit ihren Lieben zusammenzukommen, doch im Moment sind ihre Bemühungen kaum von Erfolg gekrönt. Im Verlauf eines Gesprächs mit Avraham Négousse, einem der dynamischsten Aktivisten der jüdisch-äthiopischen Gesellschaft in Israel, hat er uns Folgendes mitgeteilt: «Es trifft zu, dass monatlich 50 bis 60 (offiziell 300) Personen in Israel einreisen, was angesichts der Gesamtzahl von fast 26'000 Menschen natürlich sehr wenig ist. Wir begreifen die Bedenken und das Zögern des Staates angesichts der Lage der Falaschas Muras nicht, doch wir setzen unsere Anstrengungen fort, damit sie letztlich alle nach Israel kommen können». Bei unserer Abfahrt sagte uns ein älterer Mann: «Ich glaube nicht, dass Israel ein rassistisches Land ist, doch ich bin weiterhin überzeugt, dass unser Problem schon lange geregelt wäre, wenn wir reich, gebildet… und europäisch wären». Alles weist darauf hin, dass er mit seiner Ansicht Unrecht hat, obwohl man ihm fast beipflichten würde, wenn man einmal diese Frauen und Männer kennen gelernt hat, die unnötigerweise unter der Trennung von ihrer Familie leiden.

ÜBERLEGT VORGEHEN
Parallel zu unserem Zusammentreffen mit Herrn Negousse haben wir auch TZIPI LIVNI befragt, die Einwanderungs- und Integrationsministerin des Staates Israel. Wir diskutierten zunächst die Frage der Aliyah (Immigration) im Allgemeinen und anschliessend diejenige der Falaschas Muras im Besonderen.
Livni sprach von ihrer Besorgnis angesichts der Tatsache, dass einige jüdische Gemeinschaften in der Diaspora vor einer Förderung der Aliyah zurückschrecken, aus Angst, die Ausreise herausragender Mitbürger würde das Gemeindeleben auf geistiger und finanzieller Ebene verarmen lassen. Sie geht davon aus, dass die Zukunft und die zunehmende Stärke Israels auf der Förderung der Einwanderung beruhen werden, weil dies dem Land garantiert, dass es weiterhin über eine mehrheitlich jüdische Bevölkerung verfügt und das Gleichgewicht des jüdischen Staates bewahrt – die Demokratie. Mit diesem Ziel vor Augen hat ihr Ministerium in direkter Zusammenarbeit mit der Jewish Agency für Israel, ein neues Programm für Einwanderung und Eingliederung ausgearbeitet, das gegenwärtig vor allem in der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich positiv aufgenommen wird. Es handelt sich um die Organisation der Einwanderung in Form von Gruppen: die aus derselben Region oder Gemeinde stammenden Familien lassen sich gemeinsam in Israel nieder. Auf diese Weise wird die Integration erleichtert, da die Neuankömmlinge von Menschen umgeben sind, die ihre Sprache sprechen, dieselbe Mentalität besitzen und die gleichen Sorgen teilen. Zur Ermunterung der Jugend zur Aliyah bietet das Ministerium ihnen während den ersten drei Jahren ein kostenloses Hochschul¬studium an.
In Bezug auf die Falaschas Muras hat uns die Ministerin bestätigt, dass es sich um ein äusserst komplexes Problem handelt. Gegenwärtig treffen jeden Monat 300 Menschen in Israel ein. Jeder einzelne Fall wird jedoch gründlich überprüft, und zwar aufgrund der Forderungen des Rückkehrgesetzes, das sehr klar bestimmt, wer ein Anrecht auf Niederlassung in Israel besitzt und dadurch gleichzeitig berechtigt ist, automatisch die israelische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Livni ist überzeugt, Israel brauche keine zusätzlichen Einwohner, sondern mehr Juden. Trotz der Erklärung des sephardischen Grossrabbiners von Israel, Rabbi Shlomo Amar, für den jedes Mitglied dieser Gemeinschaft jüdisch ist, geht das Ministerium davon aus, dass diese vielschichtige Frage nicht mit Hilfe einer massiven Aliyah gelöst werden kann, wie dies bei den Operationen Moses und Salomon der Fall war. «Sie müssen verstehen, dass das Rückkehr¬gesetz in Bezug auf die Hautfarbe der Einreisekandidaten blind ist. Es ist jedoch ausgesprochen streng bei der Anwendung der Basiskriterien, und ich muss zugeben, dass in vielen Fällen die Situation der Falaschas Muras nicht den im Gesetz vorgesehenen Mindestanforderungen entspricht. Ich weiss, dass es dramatische Einzelfälle gibt und dass die Lage in Äthiopien sehr schwer ist, doch wir müssen in Übereinstimmung mit den Regeln vorgehen, die in diesem Gesetz enthalten sind. Sehen Sie, für mich stellt die israelische Staatsbürger¬schaft ein Zusammenspiel von Religion, Nationalität und Bürgerrechten dar. Diese drei Elemente bestimmen unsere jüdische Identität, und in diesem Sinne müssen wir unser Land aufbauen und unsere Tore denjenigen öffnen, die israelische Bürger werden möchten.

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