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Inhaltsangabe Erziehung Dezember 1993 - Chanukkah 5753

Editorial - Dezember 1993
    • Editorial

Chanukkah 5754
    • Die Pflicht der Erinnerung

Politik
    • Stockender verlauf der verhandlungen
    • Begegnung mit Jack Kemp

Exklusives Interview
    • Verkauft der jüdische Staat seine Seele ?

Interview
    • Jude - Weiss - Südafrikaner

Jerusalem-Judäa-Samaria-Gaza
    • Juden oder Parias in Israel ?

Analyse
    • Vive la différence !
    • Diplomaten und Juden

Junge persönlichkeiten
    • Elli Jaffe, der goldene Dirigentenstab

Kunst und Kultur
    • Identität im Gegenstand
    • Es ist ein Mädchen !
    • 25 Jahre Petit-Palais

Reportage
    • Der Oberste Gerichtshof Israels

Porträt
    • Von Karola zu Dr. Ruth

Erziehung
    • Rüstzeug fürs Leben

Gesellschaft
    • ... der Kampf geht weiter !

Strategie
    • Die strategischen Waffen Syriens

Erinnerung
    • Porträt eines Meisters und Freundes

Ethik und Judentum
    • Gefahr und Verantwortung

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Rüstzeug fürs Leben

Von Roland S. Süssmann
Eine reizende junge Frau, gutaussehend, schlank und elegant, den Kopf mit einem Tuch bedeckt, betritt eine Schulklasse mit kleinen Mädchen. Eine Achtjährige steht auf, geht auf sie zu und zeigt ihr stolz ihre neue Puppe. Die junge Frau lächelt warm und fragt nach dem Namen der Puppe, drückt sie herzlich an sich. Das Kind kehrt strahlend und glücklich an seinen Platz zurück. Diese Szene könnte sich in einem Musical abspielen oder in einem Film für Kinder. In Wirklichkeit gehört sie zum normalen Alltag der Schule AHAVAT ISRAEL von Jerusalem; dieses Schulinstitut ist sehr aussergewöhnlich, denn es ist orthodox und unkonventionell. Die "junge, elegante Frau" ist niemand anderes als RIVKA RAPPOPORT, die Direktorin und Gründerin der Schule, die als diplomierte Pädagogin die grössten amerikanischen Universitäten absolviert hat... und Mutter von neun Kindern ist !
Das Schulsystem in Israel gilt als zugleich einfach und komplex. Für Nichtgläubige erweisen sich die staatlichen Schulen, in welchen das obligatorische Minimum an jüdischen Fächer unterrichtet wird, als zufriedenstellend, da die Lücken in der Religion gegebenenfalls durch die Eltern oder Privatkurse behoben werden können. Die Ultraorthodoxen verfügen über ihre eigenen Schulen, in denen eine antizionistische und antinationale Haltung gelehrt werden. Jom Haatsmauth, der israelische Nationalfeiertag, wird in ihnen nicht begangen, und die Hatikwa, die Nationalhymne, ist selbst im Gesangs- und Musikunterricht unter Strafe verboten. Zwischen diesen beiden Extremen liegt eine dritte Gruppe, die sich mit keinem der oben beschriebenen Systeme identifiziert. Es handelt sich um die aufrichtig und ernsthaft Orthodoxen mit sehr tiefen zionistischen und nationalen Empfindungen. Dieses Zusammenspiel zwischen religiöser und nationaler Erziehung möchten Eltern wie Rivka Rappoport und ihr Mann, eine ausserordentlich wichtige rabbinische Autorität, an ihre Kinder weitergeben. Wie zahlreiche andere Eltern mussten sie sich mit dem ultraorthodoxen System begnügen, da nichts anderes zur Wahl stand. Eines Tages kam ihre älteste Tochter, damals 10 Jahre alt, weinend aus der Schule nach Hause, da sie von der Direktorin der Schule streng bestraft worden war: sie hatte im Pausenhof auf ihrer Querflöte die Hatikwa gespielt ! Dieser Vorfall wirkte als Auslöser. Rivka beschloss zu handeln, und nach dem alten Sprichwort "Selbst ist die Frau" gründete sie vor fünf Jahren ihre eigene Primarschule, Ahavat Israel. Die Schule begann mit drei Klassen, heute zählt sie über 350 Schüler, Knaben und Mädchen, die in getrennten Klassen unterrichtet werden. Nach sehr schwierigen Anfängen hat sich die Schule heute vollständig in das Erziehungssystem des Staates integriert und wird folglich von öffentlichen Geldern finanziert.


Könnten Sie uns in wenigen Worten den Grund Ihrer Initiative erklären ?

Ich hatte damals bereits fünf Kinder im Schulalter, die in verschiedenen Schulen der Stadt eingeschrieben waren. Unter Freunden verglichen wir unsere Erfahrungen mit den diversen Institutionen. Als erstes stellten wir fest, dass unsere Kinder nicht genügend Schulstunden erhielten, da die Kurse mittags aufhörten und die Eltern sich um die Organisation ausserschulischer Aktivitäten für den Rest des Tages kümmern mussten. Neben den Schwierigkeiten bei der Suche nach kompetenten Lehrern für einen fortlaufenden Unterricht in Musik oder Ballett, waren wir ebenfalls gezwungen, zusätzliche Kurse für all jene Fächer zu finden, welche die Schule nicht anbot, und den dort erteilten, bei weitem unzureichenden Unterricht zu ergänzen. Andererseits sollte auch der finanzielle Aspekt bedacht werden, da wir grösstenteils mit kinderreichen Familien zu tun hatten. Die Anzahl Schüler pro Klasse war mit einem Durchschnitt von 40 Kindern viel zu hoch. Eine meiner Töchter besuchte die erste Primarklasse mit 44 anderen Kindern, wobei am Ende des Jahres die Hälfte von ihnen noch nicht lesen konnte ! Dies ist das Ergebnis von überfüllten Klassen und zu wenig Unterrichtsstunden. In den höheren Klassen entsprach der Unterricht demjenigen der Primarschule. Heute ist es nicht mehr von erstrangiger Bedeutung, möglichst viel Wissen auswendig zu lernen, sondern die Daten oder Instrumente kennenzulernen, welche ein Ausschöpfen der jeweiligen Kenntnisse ermöglichen. Die Kinder müssen bereits sehr früh lernen zu denken, Fragen zu stellen, unabhängig oder im Team oder mit einem Freund zusammen zu arbeiten, sich bei Fehlern nicht schuldig zu fühlen, gerne zu arbeiten, beim Erledigen verschiedener schulischer Aufgaben glücklich zu sein und eine angefangene Tätigkeit auch zu Ende zu führen. Alle diese Fähigkeiten sollten gleichzeitig in der Schule und zu Hause schon in den ersten Schuljahren vermittelt werden. Danach ist es zu spät.
Dazu kam ein Problem, mit dem besonders kinderreiche Familien zu kämpfen haben. Solange ich erst zwei oder drei Kinder hatte, konnte ich meine Zeit zwischen ihnen aufteilen, doch mit einer grossen Familie, die Kinder vom Säuglings- bis ins Teenageralter umfasst, war es mir einfach unmöglich, jedem von ihnen ausreichend Zuwendung zu geben. Ich war aus diesem Grund auf eine grössere Kooperation mit der Schule angewiesen.


Wie stellten Sie sich die Schule vor, die Sie gründen wollten ?

Ich wollte, dass die Lehrer den Kindern alle "Arbeitsinstrumente" mitgeben, die ich erwähnt habe. Ein Kind braucht sehr viel Liebe und Aufmerksamkeit. Wir haben daher beschlossen, die Stundenzahl zu erhöhen und die Schülerzahl pro Klasse zu verringern; das Ungewöhnliche liegt jedoch in einer sehr aktiven Mitarbeit der Eltern. Wir geben ihnen "gute Noten", wenn ihre Kinder ausgeruht, gesund, sauber und mit gemachten Aufgaben in die Schule kommen. Diese Noten werden in einer Art Zeugnis in Form von Bemerkungen verliehen, wie z.B. "Bravo, weiter so !". Am Ende des Schulzeugnisses gibt es drei Bewertungen. Die erste betrifft die Beurteilung des Kindes durch die Schule, die zweite die Bemerkungen und die Kritik des Kindes an der Schule und an sich selbst, eine Art Selbstkritik und -lob, die dritte die Kommentare der Eltern. Ähnlich wie Lehrer und Schüler mögen es Eltern, wenn ihre Anstrengungen gewürdigt werden. Sie sind über unsere Bemerkungen und Vorschläge sehr glücklich. In meinem Institut nehme ich keine einzelnen Schüler, sondern eine Familie auf. Zwischen Schule und Eltern herrscht eine enge Zusammenarbeit. Gemeinsam müssen wir uns um die gute Ausbildung und Erziehung des Kindes kümmern, das uns anvertraut wurde. Der Unterricht besteht bei uns nicht ausschliesslich aus der Vermittlung von Wissen, es geht wirklich darum, die Persönlichkeit und die Kenntnisse des Kindes auszubilden (im Sinne von erbauen), sowohl aus akademischer, geistiger und seelischer Sicht. Es ist schwierig, unser System an einer überfüllten staatlichen Schule einzuführen und anzuwenden. Im Rahmen einer neuen Institution besteht hingegen die Möglichkeit, sie gemäss diesen Kriterien zu formen, die uns richtig und gut erscheinen. Das herkömmliche Programm haben wir von der ersten Klasse an mit bestimmten Kursen angereichert, wie beispielsweise mit Unterricht in gutem Benehmen, Moral und aktuellem Geschehen. Wir bilden Erwachsene heran, die Vertrauen und solide, gesunde Gedanken haben, die fähig sind, ihre eigenen Schwächen zu erkennen und über den notwendigen Willen verfügen, an diesen zu arbeiten und ihre Auswirkungen zu vermindern, aber auch Männer und Frauen, die sich ihrer Fähigkeiten bewusst sind und sich selbst dafür loben können. Wir erziehen Menschen, die den Schwierigkeiten des Lebens mit gesundem Verstand und Hellsichtigkeit gegenüberstehen und über eine ausgezeichnete wissenschaftliche und jüdische Bildung verfügen. Unsere Schüler wurden auf das Leben vorbereitet, damit sie sich selbst behaupten und sich für andere einsetzen können. Wir unterrichten die Kinder überdies in der Praxis und im Geiste strikter Observanz. Trotz ihrer Unabhängigkeit und ihrer Freiheit, sich aufgrund ihres sehr grossen und soliden Wissens zu entscheiden, unterliegt ihr Verhalten einer strengen Disziplin sowie den Regeln des Judentums und der Autorität G'ttes. Im Rahmen unseres Unterrichts unterscheiden wir ausserdem nicht zwischen religiösen und nichtreligiösen Fächern. Nichtreligiöse Studien existieren nicht, da die Naturwissenschaften, wie die Geschichte, die Geographie und die Mathematik, Teil der Schöpfung des Allmächtigen sind.


Ihr Konzept der Erziehung, die umfassende Zusammenarbeit Schule-Eltern-Kinder sind in Israel recht neu. Haben es Ihnen andere Schulen in Israel oder in der Diaspora gleichgetan ?

Nichts von dem, was wir an unserer Schule tun, ist an sich revolutionär. Es handelt sich um bekannte Erziehungskonzepte, und die Miteinbeziehung der Eltern ist ein Vorgehen, das sehr viel Fingerspitzengefühl erfordert. Ihr Handeln muss genau definiert werden, da wir es mit der Zusammenarbeit sehr ernst meinen. Jeden Freitag zum Beispiel übergeben die Lehrer den Kindern einen an die Eltern gerichteten Brief, in dem sie die Arbeit der vergangenen Woche erklären und die Eltern darum bitten, den Lehrstoff mit ihnen zu wiederholen. Die Briefe müssen am Sonntag zurückgebracht und mit einer Bemerkung der Eltern versehen werden, in der sie uns über besondere Ereignisse informieren sollen, die in den kommenden Tagen in der Familie erwartet werden: Besuch einer Grossmutter aus dem Ausland, Militärdienst des Vaters, Geburt, Bar-Mitzva eines älteren Bruders usw. Dadurch haben wir die Möglichkeit, ein zerstreutes, müdes oder schlecht arbeitendes Kind besser zu verstehen. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: wir haben in Israel die Tore für jedes nicht konventionelle Erziehungssystem geöffnet, das nicht dem Modell des staatlichen Schulwesens entspricht. DROR, eine weitere, weniger streng religiöse Schule, die jedoch nach denselben pädagogischen Prinzipien funktioniert, wurde ein Jahr nach Ahavat Israel eröffnet. Aus der Diaspora erhalten wir zahlreiche Besucher, wurden jedoch noch nicht nachgeahmt. Hier liegt übrigens eine der grössten Schwächen der jüdischen Schulen, die ich in den Vereinigten Staaten besucht habe. Die daraus hervorgehenden Schüler gleichen wahren "Bibliotheken" oder "Datenbanken" und besitzen ein riesiges Buchwissen, können aber weder träumen, noch spielen oder ganz einfach leben.


Geben Sie Ihren Schülern sehr viele Hausaufgaben ?

Wir gehen davon aus, dass ein Kind wissen muss, dass das Studium ein fortlaufender Prozess ist, der zugleich in der Schule, auf der Strasse und zu Hause stattfindet. Es sollte vermieden werden, dass das Kind nach Schulschluss seine Bücher schliesst und nach Hause geht, um dort nur zu essen und sich zu vergnügen. Trotz den zahlreichen Unterrichtsstunden müssen bestimmte Gebiete zu Hause vorbereitet oder wiederholt werden, was dem Kind auch die Gelegenheit gibt nachzudenken und gewisse Fächer zu vertiefen. Die Hausaufgaben werden sehr überlegt und massvoll verteilt und sind von Fach zu Fach verschieden. Im allgemeinen sollten sie eine Viertelstunde pro Fach nicht übersteigen, und selbstverständlich gibt es nicht für jedes Fach täglich Hausaufgaben.


Rivka Rappoport hat uns noch lange von Ahavat Israel erzählt, von der Funktionsweise der Schule, und hat festgehalten, dass die Kinder bereits in der ersten Klasse Englisch und ab der fünften Klasse Arabisch lernen. Auf dem Programm stehen auch regelmässig sportliche Aktivitäten. Ihr Geist und ihre Atomsphäre werden durchaus im Namen der Schule ausgedrückt, "Ahavat Israel", die Liebe zu Israel, da ihr Ziel darin liegt, eine harmonischere jüdische Gesellschaft zu schaffen, die stolz ist auf ihr Judentum, und deren Grundlagen Bildung und Wissen in der Achtung vor der Diversität sind.

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