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Inhaltsangabe Holland Herbst 2008 - Tischri 5769

Editorial
    • Editorial [pdf]

Rosch Haschanah 5769
    • Glaube und Leben [pdf]

Politik
    • Wo steckt die Linke? [pdf]

Interview
    • Schutz und Abschreckung [pdf]

Analyse
    • Gefahren ! [pdf]
    • Der Bioterrorismus [pdf]
    • Die Gespenster Von Gestern [pdf]

Reportage
    • Der Sicherheitszaun [pdf]

Wirtschaft
    • Schekel - Quo Vadis? [pdf]

Medizin
    • Die Narbe Vermeiden [pdf]

Holland
    • Jerusalem und den Haag [pdf]
    • Esnoga [pdf]
    • Ets Haim Livraria Montezinos [pdf]
    • Beth Haim Aan de Amstel [pdf]
    • Ablehnung und Anziehungskraft [pdf]
    • Nederlands-isralitisch Kerkgenootschap [pdf]
    • Rosj Pina und Maimonides [pdf]
    • Hollandsche Schouwburg [pdf]
    • Majer – Mattie [pdf]
    • Borie Laufer [pdf]
    • Gestern - Heute - Morgen [pdf]
    • A.F.C. AJAX [pdf]
    • Körper und Geist [pdf]
    • Das Sinai Centrum [pdf]
    • Von Seele Zu Seele [pdf]
    • Das Jüdische Museum [pdf]

Gerechtigkeit
    • Hetzjagd [pdf]

Ethik und Judentum
    • Verzichten, Aber Wann? [pdf]

Das Gute Gedächtnis
    • Die Ereignisse des Monats Oktober [pdf]

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Nederlands-isralitisch Kerkgenootschap

Von Roland S. Süssmann
Die Präsenz zahlreicher Juden in den Niederlanden begann so, wie sie endete: aufgrund tragischer Umstände. Die ersten Juden liessen sich nämlich in Holland nieder, nachdem sie in Spanien des Landes verwiesen worden waren, 350 Jahre später dezimierte die Schoah die einst sehr umfangreiche Gemeinschaft. Die Geschichte der Juden in Holland ist eigentlich ziemlich untypisch, da sie ab dem 17. Jahrhundert ganz in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Welt integriert wurden, was im restlichen Europa nicht der Fall war.
Die protestantische Kirche, die offizielle Staatsreligion, ärgerte sich, dass die Juden so viele Freiheiten besassen, da sie der Meinung war, der Protestantismus sei die einzige Religion, die offen ausgeübt werden dürfe. Doch die staatlichen Behörden hatten gar keine Lust, die Juden zu „bestrafen“, die es zu bedeutenden Geschäftsleuten gebracht hatten. Um diesen Streitigkeiten in Glaubensdingen ein Ende zu setzen, führten die Behörden im Jahr 1619 neue Vorschriften betreffend die Religionsfreiheit ein. Diese räumten den Gemeindevorständen jede Entscheidungsbefugnis gegenüber den Juden ein. So erklärte beispielsweise Amsterdam, die Juden seien willkommen, zwar nicht als Staatsbürger - in dieser Hinsicht konnten sie ihre politischen Rechte nur beschränkt wahrnehmen -, sondern als freie Geschäftsleute (mit nur wenigen Einschränkungen). Einige Städte schlossen sich dem Beispiel von Amsterdam an, andere gewährten den Juden alle Rechte ohne Einschränkungen. Dieser Schritt führte dazu, dass die Juden sich sofort nach eigenem Gutdünken um ihre internen Angelegenheiten kümmern konnten. Diese unterstanden der Kehilah (mit dem Status einer Art halb autonomen Behörde), deren Leitung von den Gemeindemitgliedern gewählt wurde; juristische Fragen wurden im Rahmen des Beth Din (religiöses Gericht) beigelegt, Erziehungs- und Bildungsfragen organisierte man im Rahmen der Gemeinde.
Heute bleibt nur ein Bruchteil von dem übrig, was einst eine imposante Gemeinschaft darstellte und 1940 insgesamt 140'000 Juden zu ihren Mitgliedern zählte, darunter ca. 34'000 Flüchtlinge aus Nazideutschland, Österreich, Böhmen und Morawien, die in den Niederlanden mit offenen Armen aufgenommen wurden. Am 2. Oktober 1942 wurden 12'296 Juden in die Vernichtungslager deportiert, später wurde das Prozedere weiter beschleunigt. 1946 lebten nur noch rund 30'000 Juden in Holland, d.h. nur noch knapp 20% der vor dem Krieg hier ansässigen Bevölkerung.
Das jüdische Leben der Gegenwart in den Niederlanden ist eine direkte Folge des Massakers an der jüdischen Bevölkerung. Obwohl es in allen zwölf Provinzen jüdische Gemeinden gibt, leben die meisten holländischen Juden eigentlich in Amsterdam und in deren Vororten. Die jüdische Gemeinschaft hat sich in einer zweiteiligen Struktur organisiert, die aus der NIK (Nederlands-Israëlitisch Kerkgenootschap), einem Dachverband, in dem alle jüdischen Kultusgemeinden zusammengefasst sind, sowie aus der CJO (Centraal Joods Overleg) besteht, einer Art jüdischem Koordinationskomitee, dem alle jüdischen Organisationen angehören, einschliesslich der Wohltätigkeitsvereine. Das letztgenannte Organ vertritt die jüdische Bevölkerung auch gegenüber der Regierung, bekämpft den Antisemitismus, verteidigt die Positionen Israels usw. Diese Organisation steht für alle Aspekte des Kampfes zugunsten der jüdischen Sache, mit Ausnahme der religiösen Themen wie Schächtung, Verwaltung der Friedhöfe u. A.
Das Gemeindezentrum von Amsterdam liegt in einem grünen Wohnquartier inmitten herrlicher Villen mit Umschwung, wo ein Grossteil der jüdischen Gesellschaft lebt. Hier haben wir RUBEN E.VIS getroffen, der als Generalsekretär sowohl der NIK als auch des CJO fungiert und der uns erklären soll, wie das jüdische Leben in Holland heute organisiert ist.

Können Sie kurz die Aufgaben der NIK erläutern?

Wir unterstützen die Gemeinden in erster Linie bei allen Fragen rund um das Finanzmanagement, die Gebäude im Gemeindebesitz, die verschiedenen Gemeinschaften usw. Unser Beitrag ist rein technischer und religiöser Natur. Uns steht übrigens in der NIK ein Rabbiner zur Verfügung. Jede Gemeinde besitzt eine eigene Finanzstruktur, doch wir helfen ihnen, wenn es um die Wahl eines Rabbiners, die Errichtung eines neuen Schoah-Mahnmals oder so geht. Wir greifen den Gemeinden ebenfalls bei ihren Beziehungen zu den lokalen Behörden unter die Arme, was nicht immer ganz einfach ist. Wir verfügen ausserdem über eine ganze Abteilung, die sich ausschliesslich um die Entwicklung und Publikation von jüdischen Lehrmitteln für jene Kinder kümmert, die keine jüdische Schule besuchen, d.h. für jene ca. 300 Jugendliche, die nicht in Amsterdam und den Vororten der Stadt wohnen. Diese Kinder gehen in einen Talmud Torah, dessen Unterricht normalerweise am Sonntag stattfindet. Im Idealfall besuchen sie zwei Stunden Unterricht pro Woche, oft aber nur zwei Mal im Monat. Zur Durchführung dieser Kurse sind Pädagogen und Bücher im weitesten Sinne erforderlich. Qualifizierte Lehrpersonen lehnen diese Arbeit ab, da sie nur an einem Tag oder gar nur an einem Nachmittag pro Woche stattfindet. Manchmal erklärt sich ein Rabbiner einverstanden, den Unterricht zu erteilen, doch im Grossen und Ganzen sind unsere Lehrpersonen nicht wirklich kompetent. Daher waren wir gezwungen, eigene Lehrmittel zu produzieren, mit denen schlecht ausgebildete Lehrer arbeiten können und die attraktiv genug sind, dass die Kinder sie auch ausserhalb der sonntäglichen Kurse gern ansehen. Uns ist das derart gut gelungen, dass wir dafür den Israel-Preis für die jüdische Erziehung in der Diaspora gewonnen haben. Wir haben Fachleute einbezogen, die in der Lage waren, die Kursunterlagen auf das pädagogische System und die moderne Denkweise von Holland auszurichten. Dies ist ein sehr wichtiger Aspekt, denn wenn die Kinder heute ein Lehrbuch oder –heft zur Hand nehmen, wissen sie genau, was und wie sie suchen müssen und wo sie die benötigte Information finden. Sie erkennen sofort, was die Lehrer von ihnen erwarten. Alles ist genau geplant und ausgetüftelt, die Abbildungen, die Piktogramme, die Art und Weise, wie die Fragen in den Übungen gestellt werden, die Wahl der Farben, der Schriftarten usw. Unsere Publikationen befassen sich mit sehr unterschiedlichen Themen, von der Parascha der Woche über die Erklärung der jüdischen Feiertage bis zur Bedeutung der Kaschruth und vieles mehr. Ausserdem geben wir religiöse Werke in niederländischer Sprache heraus, die wir übersetzen lassen. Wir mussten uns irgendwann selbst um dieses Material kümmern, weil es sonst niemand tat. Wir haben Gebetsbücher, die Mischnah, den Kitzur Schulchan Aruch (Quintessenz der Gesetze und Vorschriften für das jüdische Leben) verlegt, und diese Werke werden oft verlangt und verkaufen sich sehr gut. Wir haben vor kurzem eine Purim-Megilah für Kinder herausgegeben, und zwar in Form eines Faltbuchs, so wie auch eine echte handschriftliche Megilah gefaltet ist, wenn man sie in der Öffentlichkeit liest. Auf der Vorderseite jedes Blatts steht der hebräische Text, auf der Rückseite eine illustrierte Erklärung in einer für Kinder verständlichen Sprache.
Die Pflege der 250 im ganzen Land verstreuten Friedhöfe macht einen weiteren wichtigen Aspekt unserer Tätigkeit aus, wobei einige von ihnen nur 60 m2 umfassen und andere riesig sind. Wir können sie weder schliessen noch verkaufen. Diese Friedhöfe liegen zumeist in Regionen, in denen keine Juden mehr leben. In Holland besagt ein Gesetz, dass das Schliessen von Friedhöfen, die jemand anderem gehören, verboten ist, sofern die Grundstücke tatsächlich noch als Friedhöfe genutzt werden. Um zu beweisen, dass sie uns gehören und dass wir sie pflegen, haben wir einen Vollzeitangestellten, der nichts anderes tut, als auch in die abgelegensten Winkel des Landes zu reisen und dort die Friedhöfe zu inspizieren. Die politischen Gemeinden beteiligen sich an den Kosten für den Unterhalt, indem sie vier Mal im Jahr das Gras mähen lassen. Wir bemühen uns darum, die Fläche unserer Friedhöfe klar abzugrenzen und mit einem Zaun zu umgeben, damit niemand auf die Idee kommt, sich den Boden anzueignen und ihn für ein Immobilienprojekt zu nutzen. Ich weiss, dass in den osteuropäischen Ländern und in Deutschland sehr oft Probleme daraus entstanden sind, dass die Besitzverhältnisse am Grundstück des Friedhofs nicht eindeutig waren. Hier gehört jeder von uns umzäunte Friedhof der NIK. Ausserdem gibt es im Süden des Landes Friedhöfe, die der jüdischen Gemeinde von Antwerpen gehören, da es in Belgien kein Anrecht auf unabhängige Friedhöfe einer bestimmten Religion gibt.

Wie schätzen Sie den Antisemitismus in Holland ein?

Wir sind zwar nicht der Grund für neue Vorschriften, die uns einschränken, müssen jedoch deren Folgen tragen. Gegenwärtig kämpfen wir mit einem komplizierten Problem im Zusammenhang mit der Schechitah (rituelle Schächtung). Die ganze Aufmerksamkeit ist auf uns gerichtet, obwohl die jüdische Methode bei der Schlachtung der Tiere völlig schmerzfrei und rasch vonstatten geht und von sehr erfahrenen Fachleuten ausgeführt wird, was beim Hallal-Fleisch keineswegs immer zutrifft. Es steht gegenwärtig ernsthaft zur Debatte ein Gesetz einzuführen, das die Betäubung der Tiere vor der Schlachtung vorschreibt. Für uns ist dies natürlich inakzeptabel, denn die jüdische Bevölkerung, die koscher isst (ca. 3’000 Personen), würde dieses Fleisch nicht mehr kaufen. Doch auch die nicht koscher essenden Juden wären emotional schockiert, da eine derartige gegen uns gerichtete Massnahme zuletzt während der deutschen Besetzung verhängt wurde. Ich spreche nicht einmal davon, dass die Behörden sich dadurch auf dieselbe Stufe wie die Deutschen stellen würden. Es handelt sich um eine Situation, die für Holland völlig untypisch ist, sich jedoch allmählich auf die gesamte Europäische Union ausweitet.
Es existiert eine neue, extrem aggressive und extremistische Gruppierung holländischer Neonazis, die Hitler verherrlicht und zum Hass gegen die Juden aufruft. Sie ist zwar noch klein, doch wir müssen sie genau beobachten und dürfen sie nicht verharmlosen. Es ist unsere Pflicht als Gemeinde, die Öffentlichkeit auf diese Gefahren aufmerksam zu machen. Die Gruppe wurde übrigens schon mehrmals von der Justiz verwarnt. Weil es aber in Holland die totale Demonstrationsfreiheit gibt, darf jedermann in schwarzen Kleidern voller Nazi-Symbole und -Abzeichen herumlaufen. In meinen Augen ist der Antisemitismus in Holland eng mit Fragen der Kritik an Israel verknüpft, und wir bemühen uns nach Kräften, diese beiden Strömungen zu bekämpfen.

DIE KASCHRUTH
Das Oberrabbinat von Holland muss sehr unterschiedliche Aufgaben erfüllen, doch das Thema Kaschruth verkörpert wahrscheinlich den umfangreichsten Teil seiner Tätigkeit. Neben der Fragen der Schlachtung und der koscheren Speisen im Allgemeinen gibt es jedoch einen Aspekt, der trotz seiner Bedeutung kaum erwähnt wird. In Holland stellt die Produktion von Grundstoffen wie z. B. Kakao, Aromen, Geschmacksverstärkern und natürlichen Nahrungszusätzen eine riesige Industrie dar. Damit diese Produkte nach Israel und in bestimmte Fabriken für koschere Nahrungsmittel in den USA exportiert werden können, müssen sie ein Kaschruth-Zertifikat erhalten. Dieses wird vom Oberrabbinat von Holland ausgestellt, das Kontrolleure in die grossen Produktionsstätten wie beispielsweise Unilever entsendet, um die Ware zu beaufsichtigen und zu testen. Die Kaschruth-Aufsicht des holländischen Oberrabbinats erstreckt sich auch auf die Herstellung koscherer Produkte aus China.
Eine weitere Tätigkeit des Oberrabbinats ist auf die Vervielfachung der religiösen Scheidungen zurückzuführen. Vor dem Krieg, als noch fast 80'000 Juden in Amsterdam lebten, gab es pro Jahr vier oder fünf Scheidungen. Heute zählt man bei einer Bevölkerung von 20'000 Juden ungefähr 25 bis 30 religiöse Scheidungen jährlich. Das Oberrabbinat von Holland wird gegenwärtig mit einem neuartigen Phänomen konfrontiert, die keinen „holländischen Spezialfall“ darstellt, sondern wahrscheinlich das Ergebnis der Emanzipation der Frau ist. Immer mehr Frauen lehnen nämlich die Scheidung ab, die ihnen gemäss dem jüdischen Gesetz nicht aufgezwungen werden kann.
Anlässlich eines Gesprächs mit Rabbi EDDY MAARSEN, dem Verantwortlichen für die oben aufgeführten Bereiche, erfuhren wir Folgendes: „Alle Probleme im Zusammenhang mit der Kaschruth oder einer Scheidung können verhältnismässig einfach geregelt werden. Unsere grösste Sorge ist hingegen die Zahl der gemischten Ehen, welche die wahrscheinlich höchste Europas ist, noch höher als in den skandinavischen Ländern. Wir stehen vor schweren Entscheidungen, wenn die Personen, die solche Ehen eingegangen sind, ihre Kinder in die jüdische Schule schicken möchten, Mitglieder der Gemeinde werden wollen oder eine jüdische Bestattung wünschen. In diesen Fällen brauchen wir all unsere Autorität und Diplomatie, was nicht immer einfach ist oder verstanden wird.“

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