Die jüdische Gemeinschaft von Holland leidet infolge der Schoah unter einem schweren Trauma, und jedes Mal, wenn ich Fragen zum jüdischen Leben der Gegenwart stellte, begann die Antwort mit „Vor dem Krieg…“. Wir sprachen mit einem versteckten Kind, hörten uns den Bericht eines Angehörigen der zweiten Generation an und trafen schliesslich die jüngste bekannte Überlebende in Holland, BORIE MAARSEN, geborene LAUFER, deren Geschichte an ein Wunder grenzt.
Doch nun gilt es zu schweigen und dem Bericht von Borie zu lauschen.
„Ich war anderthalb Jahre alt, als ich zusammen mit meiner Mutter und meinen beiden älteren Schwestern (3 ½ und 5 ½ Jahre alt) nach Ravensbrück in Deutschland deportiert wurde. Mein Vater war bereits nach Buchenwald geschafft worden.
Am Weihnachtsabend 1944 richtete die Lagerorganisation ein Fest für unsere Henker aus und verlangte, dass alle Kinder für sie Weihnachtslieder vorsängen. Meine Mutter s. A. und eine Frau Moskovits lehnten dies rundweg ab und sagten, jüdische Kinder dürften keine Weihnachtslieder singen, vor allem nicht für Nazis. Keine Ahnung, wie sie es geschafft haben, uns zu verstecken, doch wir nahmen tatsächlich nicht an dieser Feier teil. Das hat uns letztendlich gerettet. Am Ende des Abends verliessen nämlich die SS-Leute die Baracke, verschlossen die Türen und zündeten das Gebäude an. Über 200 Kinder verbrannten bei lebendigem Leibe!
Sie fragen sich bestimmt, wie ich als kleines Kind in einem Konzentrationslager überlebt habe. Die Antwort ist ganz einfach: Meine Mutter hat sich für mich geopfert. Sie hatte eine Freundin, die mit ihr zusammen interniert war, die mir bei jedem Kaffee, den sie trank, das Stück Zucker gab. Als ich aus dem Lager kam, litt ich allerdings an Typhus und an der Ruhr und musste anderthalb Jahre im Krankenhaus verbringen.“
Wie hat sich diese Erfahrung auf ihr Leben ausgewirkt?
Erst als ich selbst zu einer echt jüdischen Mutter wurde, begriff ich das ganze Ausmass dessen, was meine Mutter durchgemacht, gelitten und für uns ertragen hatte. Ich stellte mir immer wieder dieselbe Frage, es war wie eine Obsession: „Wie hat sie das bloss geschafft?“. Meine Mutter weigerte sich zu sprechen und sagte mir nur: „Man sollte nicht in die Vergangenheit blicken, sondern in die Zukunft, sonst wird das Leben unmöglich“. Da ich es aber trotzdem wissen wollte, reiste ich nach Amsterdam, wo es eine Gedenkstätte für Ravensbrück gibt und wo ich Überlebende traf. Als ich meine Geschichte erzählte, haben sie mir zunächst nicht geglaubt und sagten, alle Kinder seien doch getötet worden. Als ich es ihnen mit Hilfe von Dokumenten aus Yad Vaschem aber bewies, dass es tatsächlich so war, hat man mir etwas mehr erzählt. Diese schreckliche Erfahrung verfolgt mich natürlich noch heute unaufhörlich, und das wird wohl bis an mein Lebensende weitergehen. Vor einigen Jahren habe ich allerdings gelernt, das Thema wieder etwas gelassener anzugehen. Ich fand 50 Jahre danach den Mut, nach Ravensbrück zu reisen, denn ich wollte wissen, wie es aussieht. Vor Ort traf ich eine Überlebende, der ich in einem Gespräch meine Geschichte erzählte. Sie sagte: „Sie sind doch die kleine Laufer! Sie müssen wissen, dass Ihr Kinder uns damals jeden Tag wieder Hoffnung gabt, uns aufgemuntert habt, denn Ihr wart unsere einzige Quelle des Lebens und des Lichts“. Nach all den Jahren haben mich diese Worte wirklich aufgebaut.
Meine beiden Eltern sind aus dem KZ zurückgekehrt, und mein Vater ist trotz allem, was er erleiden musste, fast hundert Jahre alt geworden. Er hatte G’tt versprochen, dass er, falls er es schaffen würde das Lager zu überstehen, sich sein Leben lang für das Judentum einsetzen würde. Zusammen mit meiner Mutter hat er die jüdische Gemeinde von Rotterdam zu neuem Leben erweckt und sie ist mit der Zeit wieder recht aufgeblüht. Mein Bruder, der nach dem Krieg geboren wurde, hat soeben ein Buch auf Holländisch über unsere Familiengeschichte geschrieben, es trägt den Titel „Durch das Feuer gerettet“. Er stützt sich darin auf die Berichte meines Vaters, der uns im Gegensatz zur Mutter von seiner Vergangenheit im Lager berichtete, wenn auch nie in Gegenwart meiner Mutter.
Ich persönlich habe beschlossen, dass es einen guten Grund dafür geben musste, dass ich überleben durfte, und dass ich mich daher für die Anliegen von Kindern aus unterprivilegierten Kreisen einsetzen würde. Vor 18 Jahren erkrankte einer meiner Enkel in Israel schwer und ich verbrachte viel Zeit an seinem Bett im Krankenhaus Shaare Tsedek. Dort lernte ich Herrn und Frau Ehrental kennen, die in Erinnerung an ihren Sohn, der 14 Jahre lang gegen den Krebs ankämpfte, die Organisation Zichron Menachem gegründet haben. Diese wunderbare israelische Institution, die sich um kranke Kinder, aber auch um ihre Familien kümmert, unterstützt die Betroffenen nach Kräften, damit sie den unerträglichen körperlichen und emotionalen Leidensdruck im Verlauf dieser Krankheit überstehen können. Ich beschloss, ihnen in jeder Hinsicht dabei zur hand zu gehen. Seither veranstalte ich Fundraisings, diverse Anlässe usw., da ich davon ausgehe, dass es nichts Wichtigeres gibt, als einem Kind zu helfen.
Ich bin überzeugt, dass ich vielleicht letztendlich von G’tt gerettet wurde, damit ich meinen Auftrag für Zichron Menachem erfüllen kann.
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