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Inhaltsangabe Holland Herbst 2008 - Tischri 5769

Editorial
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Rosch Haschanah 5769
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Holland
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Gestern - Heute - Morgen

Von Roland S. Süssmann
Die Geschichte der Schoah in Holland ist recht erschütternd, da hier von ganz Westeuropa am meisten Juden ermordet wurden. Während des ersten Jahres der deutschen Besetzung waren die Juden gezwungen, sich auf Regierungslisten einzutragen, die judenfeindlichen Gesetze bezogen sich vor allem auf die Berufsausübung. Ab Januar 1942 wurden viele Juden aus Amsterdam direkt nach Westerbork deportiert, ein Konzentrationslager in der Nähe des Dorfes Hooghalen.
Ursprünglich handelte es sich um ein Zufluchtslager für Juden, die vor den Naziverfolgungen in anderen europäischen Ländern geflohen waren. Letztendlich fanden von hier aus die Transporte in die Vernichtungslager statt. Nach Westerbork wurden auch alle Juden geschickt, die nicht Holländer waren, gleichzeitig sandte man 15'000 Juden in andere Arbeitslager in ganz Europa. Die Deportationen begannen am 15. Juni 1942 und endeten am 13. September 1944. Insgesamt wurden in 98 Transporten von Westerbork aus 102'000 Juden in folgende Lager deportiert: 62'026 Menschen verteilt auf 68 Transporte nach Auschwitz; 34'313 verteilt auf 19 Transporte nach Sobibor; 4'894 verteilt auf 8 Transporte nach Bergen-Belsen; 3'751 verteilt auf 6 Transporte nach Theresienstadt. Und schliesslich wurden 6'000 Juden auch von anderen Orten aus nach Mauthausen oder in andere deutsche oder polnische Lager, wie z.B. Vught, geschafft. Es gab nur 5'200 Überlebende.
Ein geschickt verbreiteter Mythos besagt, dass die Bevölkerung und die staatliche Verwaltung von Holland die dort lebenden Juden in grossem Ausmass geschützt und gerettet hätten. Dazu muss man aber wissen, dass die Stadtverwaltung von Amsterdam sehr eng mit der deutschen Besatzungsmacht zusammenarbeitete, dass die Polizei und die Angestellten der nationalen Eisenbahngesellschaft aktiv an der Verhaftung und Deportation der Juden mitwirkte. Die Realität zeigt eindeutig, dass zwischen 1940 und 1945 fast 80% der in Holland lebenden jüdischen Gemeinschaft unter Mithilfe von Tausenden von alteingesessenen Holländern ermordet wurden, wobei die Bevölkerung dem Schicksal ihrer jüdischen Mitmenschen völlig gleichgültig gegenüberstand.
Ausserdem – und auch dies widerspricht einem hartnäckigen Mythos – wurden die zurückkehrenden Überlebenden nicht voller Mitgefühl und mit offenen Armen empfangen, sondern mussten mit der Feindseligkeit und Gleichgültigkeit der holländischen Regierung fertig werden.
Doch Zahlen, Statistiken und historische Untersuchungen ergeben ein völlig unzureichendes Bild im Vergleich zu den Berichten und Tragödien der einzelnen Familien. Zur konkreteren Veranschaulichung der Schoah in Holland möchten wir daher heute die Geschichte von HARRY BRIL s. A. erzählen, dem Vater von Frau Claire Tugendhaft aus Genf.

Können Sie uns in knappen Worten die Geschichte Ihrer Familie zusammenfassen?

Vor dem Krieg war Amsterdam eine sehr jüdische Stadt mit einem umfangreichen und sehr armen Proletariat. Mein Vater stammte aus einer aschkenasischen Familie, die seit 1715 in Holland ansässig war und dieser proletarischen Schicht angehörte. Da die Familie kaum genug zu essen hatte, musste er im Alter von 14 Jahren anfangen zu arbeiten. Er war der jüngste Spross einer Familie mit sieben Kindern, die alle schon von zu Hause ausgezogen waren und geheiratet hatten. Der vor ihm geborene Bruder war 13 Jahre älter als er. Bei Ausbruch des Kriegs war mein Vater 16 Jahre alt. Die armen Juden von Amsterdam hatten keine Chance zu entkommen, vor allem da der jüdische Rat den Deutschen die Liste der Juden in der Hoffnung „gegeben“ hatte, dadurch ihre eigene Haut sowie ihre Freunde zu retten. Meinem Vater gelang es unterzutauchen, doch seine Schwester, deren Mann und Kinder sowie drei seiner Brüder wurden 1942 sehr rasch geschnappt. Diese drei Brüder und seine Schwester hatten insgesamt zehn Kinder! Ich verlor also 10 Cousins und Cousinen im Alter von wenigen Monaten bis zehn Jahren! Nach dem Krieg hat mein Vater erfahren, dass es neben den drei sofort verhafteten Brüdern noch einen vierten Bruder erwischt hatte, der bei der Stadtverwaltung Amsterdam angestellt war. Als diesem zu Ohren kam, dass sein jüngerer Bruder Jacob in ein Arbeitslager geschickt werden sollte, verliess er sein Versteck und sagte: „Jacob ist nicht sehr kräftig, seine Gesundheit ist schwach, ich werde ihn begleiten und ihm bei der Arbeit helfen“. Dieses Arbeitslager gab es natürlich gar nicht. Er wurde nach Mauthausen deportiert, wo er später starb. Ein weiterer, älterer Bruder war schon früher verhaftet und nach Bergen-Belsen gebracht worden. Dessen Frau hatte einen Onkel in den USA, den sie als ihren Vater ausgeben konnte. Sie wurden befreit und sind nach Algerien gezogen, wo sie die Kriegsjahre verbrachten. Man muss sich klar machen, dass diese armen Familien viele Kinder hatten und dass meine Grosseltern alle aus Familien mit elf oder zwölf Kindern stammten. Am Ende des Kriegs blieben von dieser riesigen Verwandtschaft einzig mein Vater, der nach Algerien geflüchtete Bruder und ein Cousin übrig.

Und wo hat Ihre Mutter den Krieg erlebt?

Meine Mutter hielt sich nicht in Amsterdam, sondern in Utrecht auf, wo sie mit meinen Grosseltern und ihren drei Schwestern lebte. Die ganze Familie konnte untertauchen, und meine Mutter, deren äussere Erscheinung nicht typisch jüdisch war, überlebte, indem sie mit 14 Jahren als Hausmädchen bei einer Familie arbeitete. Die Familie meiner Mutter hat die Schoah überstanden, indem sie immer wieder das Versteck wechselte. Mit Ausnahme eines Onkels und einer Tante, die deportiert wurden. Dies ist übrigens bezeichnend für das, was in den verschiedenen Provinzen Hollands geschah, in denen die Deportationen sehr unregelmässig stattfanden. In Groningen beispielsweise wurden 90% der jüdischen Bevölkerung deportiert, während es in Eindhoven 40% waren. Zusammenfassend könnte man also sagen, dass die Familie meiner Mutter gerettet wurde, während diejenige meines Vaters nur zu einem kleinen Teil überlebt hat.

Wie und wo hat Ihr Vater den Krieg überstanden?

Er überstand den Krieg, indem er fast ständig bei lebendigem Leibe begraben in einem Versteck von 1 m2 unter dem Parkett verbrachte. Mit seinem sehr typischen jüdischen Äusseren durfte er sich auf der Strasse nicht mehr blicken lassen. Während der Zeit in dem Versteck aber ist es ihm, der nicht zur Schule hatte gehen dürfen, gelungen, sich Bücher zu verschaffen und Englisch sowie Buchhaltung zu lernen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt war sein Versteck zu riskant geworden, so dass er woanders untertauchen musste. Er schloss sich der Widerstandsbewegung an und wurde 1944 verhaftet. Widerstandskämpfer wurden in der Regel nicht deportiert, sondern erschossen. Er kam in ein Gefängnis bei Dribergen in der Nähe von Utrecht. Eines Tages öffnete sich die Tür seiner Zelle und ein Trupp von Deutschen holte ihn ab, um ihn zum Exekutionspfahl zu bringen. In Wirklichkeit waren diese Deutschen aber Widerstandskämpfer, die einen Lastwagen und Uniformen gestohlen hatten, um ihn zu befreien.
Da er Englisch gelernt hatte, wurde er nach der Befreiung von der amerikanischen Armee als Dolmetscher eingestellt und erhielt auch eine weitere Aufgabe. Er musste allen Frauen, die eine Affäre mit einem Deutschen gehabt hatten, die Haare abrasieren. Dies brachte ihm bei seinen Freunden den Spitznamen „Frisör von Dribergen“ ein.
Am Ende des Kriegs besass er gar nichts mehr, seine Familie existierte nicht mehr, das Quartier und sein früheres Wohnhaus waren zerstört worden. Aufgrund seines starken Willens und dank dem, was er in den Jahren des Untertauchens gelernt hatte, konnte er zu arbeiten anfangen und übernahm alle möglichen Jobs. 1947 lernte er meine Mutter kennen, sie heirateten 1948. Leider diagnostizierte man ab 1949, als meine Mutter mit mir schwanger war, bei ihm Morbus Hodgkin. Ich denke, diese Krankheit wurde durch die verschiedenen Schocks ausgelöst, die er in seiner Jugend erlitten hatte, wobei das Schlimmste die Tatsache war, dass er mit 21 Jahren allein und völlig verarmt da stand und erfahren musste, dass alle seine Angehörigen ermordet worden waren. In Yad Vachem haben wir Hinweise auf den Verbleib der ganzen Familie und auf die Daten gefunden, an denen die verschiedenen Familienmitglieder deportiert worden waren und in welchen Lagern sie gestorben sind. Die meisten von ihnen wurden in Sobibor ermordet, einige wenige in Auschwitz und zwei Brüder in Mauthausen.

Der Einfluss der Schoah auf die zweite Generation, der auch Sie angehören, ist ein häufig wiederkehrendes Thema. Wie haben Sie das tragische Schicksal Ihrer Familie verarbeitet?

Es hat mich zutiefst erschüttert. Ich wuchs ja ohne Grosseltern auf, da die Grosseltern väterlicherseits schon vor dem Krieg verstorben waren. Ich hatte Verwandte auf Mutters Seite, denn die Schwestern meiner Mutter hatten überlebt, doch väterlicherseits waren mit Ausnahme eines Cousins und eines Onkels praktisch keine Angehörigen übrig geblieben.
In meiner Jugend habe ich sehr unter der Abwesenheit der Grosseltern gelitten, da alle meine Freundinnen regelmässig Besuche abstatteten, die eine bei der Oma, die andere beim Grossvater. Uns fehlte dieses familiäre Umfeld schmerzlich. Doch andererseits war es herrlich, dass uns der Vater davon erzählte, wie das jüdische Leben vor dem Krieg in Amsterdam ausgesehen hatte, was er alles erlebt hatte, wie seine Brüder und Schwestern gewesen waren. So hatte ich irgendwie das Gefühl, diese Familie doch etwas gekannt zu haben, auch wenn dies auch den Schmerz über den Verlust noch verstärkte, da ich sie gerne persönlich getroffen hätte.

Glauben Sie, dass diese tragische Familiengeschichte die Art und Weise beeinflusst hat, wie Sie Ihr Judentum leben?

Natürlich. Mein Vater, der eine jüdische Schule besucht hatte und in einem rein jüdischen Umfeld aufgewachsen war, war nicht fromm, weil er einerseits nicht aus einer frommen Familie stammte und andererseits wegen der Schoah ein wenig seinen Glauben verloren hatte. Er hat uns also erzogen, ohne seine Religion aktiv auszuüben, aber indem er uns ein tief im Innern verankertes jüdisches Empfinden mitgab. Für ihn war es ein wesentlicher Teil seiner Identität, und deshalb haben mein Bruder und ich den Talmud Torah besucht. Eine Zeitlang hatte ich wegen der Schoah ziemliche Zweifel an der Existenz G’ttes, was heute natürlich nicht mehr der Fall ist. Dank einiger ausserordentlicher Menschen, denen ich begegnet bin, in erster Linie dank meinem Mann Joe, bin ich zu einer gläubigen und frommen Frau geworden und werde es immer mehr.

Sie sind nicht nur eine gläubige Frau, Sie setzten sich auch sehr stark für Israel ein. Warum?

Für mich sowie für meinen Mann und meine Tochter ist dieses Engagement für Israel, unsere Verantwortung gegenüber dem jüdischen Staat, etwas ganz Selbstverständliches. Ich bin überzeugt, dass alles nicht passiert wäre, wenn wir schon vor der Schoah den Staat Israel gehabt hätten. In Israel haben wir unsere Wurzeln, das Land vereint uns und schützt uns vor der eventuellen Wiederholung der schrecklichen Ereignisse der Schoah. Israel lebt in mir. Ausserdem denke ich, dass ich irgendwie in der Schuld derjenigen Familienangehörigen stehe, die gestorben sind. Indem ich mich an der Entwicklung des Staates beteilige, erwecke ich sie wieder zum Leben.

Sie haben der Synagoge des jüdischen Krankenhauses von Amsterdam einen Sefer Torah geschenkt, auf dessen Mantel die Namen aller Familienmitglieder stehen, die während der Schoah ermordet wurden. Warum?

Das Überreichen des Sefer Torah in Amsterdam war natürlich ein sehr bewegender Moment. Doch in Wirklichkeit ging es um weit mehr. Für mich war es der Höhepunkt einer inneren Entwicklung. In mir schloss sich ein Kreis, denn ich spürte sehr deutlich, dass die Einweihung eines Sefer Torah in Amsterdam, an dem Ort, von wo meine Familie deportiert wurde, um dann ermordet zu werden, eine entscheidende Handlung von grundlegender und ganz eigener Bedeutung war: es war wie ein eindrückliches Symbol, das eine schreckliche Vergangenheit mit einer hoffentlich wunderbaren Zukunft verband.

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