Während unserer Reise durch die jüdische Welt war es uns immer ein besonderes Anliegen, den lokalen Friedhof aufzusuchen, und jedes Mal beeindruckte er uns durch ein ganz typisches Merkmal. In Zagreb entdeckten wir Grabmäler für Ehepaare unterschiedlicher Religion, wobei neben dem Namen des jüdischen Ehepartners ein Davidstern, beim nichtjüdischen Partner ein Kreuz stand; in Berlin fanden wir ein Versteck, in dem sich die jüdischen Widerstandskämpfer Unterschlupf fanden, als sie von den Nazis verfolgt wurden. Nachdem man sie aufgespürt hatte, wurden sie im Friedhof gehängt und neben ihrem Versteck begraben; in Warschau konnten wir nur einen winzigen Teil des jüdischen Friedhofs mit seinen 250'000 Gräbern besichtigen; in Aserbeidschan ist auf dem Grabstein jeweils ein Abbild des Verstorbenen angebracht; und in Amsterdam haben wir den Friedhof BETH HAIM aufgesucht, der immer noch benutzt wird und in dem seit 1614 die Mitglieder der portugiesischen jüdischen Gemeinde beerdigt werden!
Dem Besucher, der den Anblick jüdischer Friedhöfe gewohnt ist, fällt als Erstes auf, dass die Grabsteine nicht aufrecht stehen, sondern horizontal liegen, wie dies in nichtjüdischen Friedhöfen in Portugal auch heute noch üblich ist.
Die Geschichte des Beth Haim ist eng verwoben mit der vielschichtigen Vergangenheit der portugiesischen jüdischen Gemeinde von Amsterdam, die immerhin fast 400 Jahre zurückreicht und auf diese Weise sowohl für das jüdische Leben als auch für die Stadt und ihre Bevölkerung eine Art Goldenes Zeitalter darstellt. Im Jahr 1614 erwarb die Gemeinde ein Grundstück in Ouderkerk am Ufer der Bullewijk, einem Nebenfluss der Amstel.
Beth Haim verkörpert ein umfangreiches Kulturgut, das aufgrund der hier wachsenden zahlreichen seltenen Pflanzen originellerweise auch als Naturreservat gilt. Man zählt rund 28'000 Gräber, von denen die Hälfte immer noch unter Erde versteckt liegen. Im Verlauf der letzten 400 Jahre hat man den Friedhof zwar gepflegt, aber ansonsten überhaupt nichts verändert. Die Nachfahren der hier beerdigten Menschen suchen den Friedhof regelmässig auf, um nach der Herkunft ihrer Familie zu forschen. Zahlreiche jüdische Persönlichkeiten, die nicht nur die Geschichte der Gemeinschaft, sondern auch diejenige der Niederlande allgemein geprägt haben, liegen in Beth Haim begraben, unter ihnen Michael de Epinoza, Vater des berühmten Benedictus Baruch Spinoza, der selbst nicht hier beerdigt ist, da man ihn 1656 aus der jüdischen Gemeinde ausschloss.
Die Grabsteine sind besonders interessant, denn sie sind mit allen möglichen Symbolen verziert, u.a. mit menschlichen Gesichtern aller Art, Szenen aus der Bibel oder aus der Mythologie, mit dem Symbol des Todes oder auch mit einem Skelett, das eine grosse Sense trägt. Das Verzieren von Grabsteinen gehört zu den Traditionen, welche die aus Portugal eingewanderten Juden beibehalten haben, da sie während der Zeit als Marranen wie Katholiken lebten und offensichtlich auch starben. Eine Familie stellte beispielsweise auf dem Grabstein eines Kindes die Szene von der Opferung Isaaks dar. Ein weiterer, besonders interessanter Stein gehört Samuel Pallache, dessen Vater um 1560 Oberrabbiner von Fez war. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war er an den Königshöfen Europas tätig. Doch die Inquisition in Madrid war der Ansicht, er helfe den Marranen, zum Judentum zurückzukehren und ins Ausland zu fliehen. Er flüchtete in die Residenz des französischen Botschafters und verliess das Land. Nach Ansicht einiger Historiker liess er sich als erster Jude in Holland nieder und soll derjenige gewesen sein, der für die Juden das Recht erwirkte, in die Niederlande zu ziehen. In seinem Haus fand 1596 der erste Jom-Kippur-Gottesdienst statt. Im Nationalarchiv der Niederlande ist nachzulesen, dass man ihm 1608 das Recht auf Niederlassung entzog, er im selben Jahr aber zum Botschafter des Sultans von Marokko, Muley Sidan, in Den Haag ernannt wurde. 1610 unterschrieb er den ersten Allianzvertrag der Geschichte zwischen einem muslimischen (Marokko) und einem christlichen Staat (Holland). Im Jahr 1614 übernahm er das Kommando einer kleinen marokkanischen Flotte, die aufgrund des Kriegs zwischen Marokko und Spanien spanische Schiffe beschlagnahmte. Während eines Aufenthaltes in London wurde er auf Antrag des spanischen Botschafters verhaftet und der „Piraterie“ angeklagt. Nach seinem Freispruch kehrte er nach Holland zurück, wo er sich mit dem Prinzen Moritz von Nassau aus der Königsfamilie anfreundete. Nach seinem Tod (1616) wurde er mit quasi nationalen Ehren und unter Anwesenheit des Prinzen bestattet. Posthum erhielt er zu Ehren der Freundschaft zwischen Marokko und Holland sowie zwischen dem Hause Oranien und der portugiesischen jüdischen Gemeinde von Amsterdam den Titel eines „Don“. Bei der allerersten Beerdingung in Beth Haim wurde ein Kind zu Grabe getragen: es war Josef Siniora, Sohn eines Parnass (Gouverneur), und der Grabstein ist mit einem Gedicht in hebräischer Sprache versehen, was damals üblich war und auch belegt, wie hoch das Bildungsniveau der Juden war. Etwas weiter stösst man auf das Grab von Dr. Eliahu Montalto, dem Arzt der Maria von Medici.
In Ouderkerk sind ebenfalls zahlreiche rabbinische Persönlichkeiten beerdigt, wobei Menasseh Ben Israel sicher der berühmteste ist. Er stammte aus einer Familie, die sich nach ihrer Flucht vor der Inquisition in Amsterdam niedergelassen hatte, als er noch ein Kind war. Als Rabbiner leitete er die Gemeinde Neweh Shalom, bevor er bis Chanukkah 1655 zum Oberhaupt der vereinigten Gemeinde Talmud Torah wurde. Menasseh Ben Israel hat seine Zeit nachhaltig geprägt, denn er gründete die hebräische Druckerei in Amsterdam. 1655 forderte er von Cromwell persönlich die erneute Zulassung der Juden in England, die 1290 von dort vertrieben worden waren. Er pflegte einen regen intellektuellen Austausch mit den grossen Gelehrten seiner Zeit, wie z.B. Kaspar Barlaeus und Gerhard Johan Vossius. Zu seinen Nachbarn gehörte Rembrandt, der einen Kupferstich anfertigte, von dem vermutet wird, er stelle sein Porträt dar. Es steht allerdings fest, dass Rembrandt eines seiner Büchlein mit dem Titel „Piedra Gloriosa de la estutua de Nebuchdnesar” illustriert hat. Menasseh Ben Israel wurde am 14. Kislev 5418 (20. November 1657) auf dem Friedhof Beth Haim begraben.
Auch das Bestattungshaus weckt das Interesse des Friedhofbesuchers. Hier wurden früher auch die Toten gewaschen, was heute nicht mehr der Fall ist. Von aussen gleicht es einem Fischerhäuschen, wie sie zu Tausenden in Holland existieren. Innen besteht es aus einem grossen leeren Raum mit Bänken rund herum an den Wänden. Das Haus ist, wie die Esnoga, nicht an das Stromnetz angeschlossen und wird ausschliesslich mit Kerzen beleuchtet. In der Tradition der portugiesischen Sephardim heissen die Beerdigungen „Mitzwah“, und einer der Bräuche verlangt, dass man sieben Mal in einer Prozession um den Sarg herum geht und dabei einen heiligen Text spricht. Ein anderer Brauch besagt, dass alle Teilnehmer einer Beerdigung nach der Grablegung in dieses Haus zurückkehren, wo man ein besonderes Gebet (Haschkawah) sagt, und zwar nicht nur für den Verstorbenen, sondern auch für seine Eltern, seine Grosseltern oder ein vielleicht schon verstorbenes Kind. Damit beginnt die eigentliche Trauerzeit.
Unmittelbar vor dem Häuschen liegt am Ufer der Bullewijk der Bereich, in dem die Kohanim begraben sind.
Ein Stückchen weiter steht man vor dem einzigen aufrecht stehenden Stein auf diesem Friedhof. Es handelt sich nicht um ein Grabmal, sondern um eine Gedenkstätte, die von 40 kleinen Marmorplatten umgeben ist. Auf den ersten Blick könnte man glauben, dass es sich um Kindergräber handelt. Während der Schoah wurden in Westerbork im Durchgangslager zu den KZ vierzig Menschen gegen ihren Willen eingeäschert. Die deutschen Behörden liessen die Urnen mit ihrer Asche an die Gemeinde schicken. Obwohl eingeäscherte Personen gemäss jüdischer Gesetzgebung nicht auf einem jüdischen Friedhof beigesetzt werden können, hat man ihnen hier in einem abgetrennten Bereich eine letzte Ruhestätte gewährt.
Nach dem Rundgang erklärt uns Dennis Ouderdorp, der Verantwortliche des Friedhofs, in einem Gespräch Folgendes: „Dieser Friedhof symbolisiert die ganze Tragödie unserer tollen Gemeinschaft. Bei einer Abklärung durch die Gemeindebehörden im Jahr 1920 kam man zum Schluss, dass der Friedhof gross genug sei, um die verstorbenen Gemeindemitglieder bis ins Jahr 1960 aufzunehmen. Das Massaker an der portugiesischen jüdischen Gemeinschaft während der Schoah und die Ermordung von 95 % unserer Mitglieder in den Todeslagern, wo sie ohne Anrecht auf eine letzte Ruhestätte starben, hat dazu geführt, dass es hier heute noch lange Platz geben wird…“.
Ein Besuch des Friedhofs Beth Haim aan de Amstel lässt niemanden unberührt. Beim Betrachten der Grabsteine, viele von ihnen aus Marmor, beim Lesen der Namen der Menschen, die das Leben dieser Gemeinschaft geprägt haben, kann man die Bedeutung einer für immer versunkenen Welt erfassen: diejenige der portugiesischen jüdischen Gemeinde in Holland, deren enorme Vielfalt im intellektuellen, wirtschaftlichen und künstlerischen Bereich vier Jahrhunderte lang zum Aufschwung der Niederlande beigetragen hat.
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