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Inhaltsangabe Belgien Frühling 2005 - Pessach 5765

Editorial - April 2005
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Pessach 5765
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Politik
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Interview
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Strategie
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Judäa - Samaria - Gaza
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Analyse
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Reportage
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Belgien
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    • Jüdisches Leben in Brüssel [pdf]
    • Vertrauen und Vorsicht [pdf]
    • Wenn nicht ich - Wer sonst? [pdf]
    • «Échevin» und Jiddische Mama! [pdf]
    • Die Magie der Diamanten [pdf]
    • Das Jüdische Museum Von Belgien [pdf]
    • Die Schoah in Belgien [pdf]

Ethik und Judentum
    • Ein Zigarettchen Gefällig? [pdf]

Das Gute Gedächtnis
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Die Magie der Diamanten

Von Roland S. Süssmann
Nach der Begegnung mit der sowohl eklektischen wie auch laizistischen jüdischen Gemeinschaft von Brüssel versetzt einen der Besuch von Antwerpen in eine völlig andere Welt. Zunächst hat man den Eindruck, das letzte europäische «Stetl» der Geschichte zu betreten. Beim Herumschlendern in den Gassen des Ghettos, das die Diamantenhändler beim Bahnhof bewohnen, vermeint der Besucher ein sehr herzliches jüdisches Heim zu betreten, in dem die Hausherrin dabei ist, die «Kneidlech» für die Hühnersuppe vorzubereiten, die am Freitagabend am Familientisch aufgetragen werden soll, um den Beginn von Schabbat zu feiern.
Die Atmosphäre in Antwerpen atmet ein im Alltag empfundenes Judentum, das tief im Herzen sitzt, das nach leckerer Suppe, nach Tschulend, Gefilte Fisch und Dafina duftet und wo die Grundwerte der Familie, des jüdischen Studiums auf höchstem Niveau und des gegenseitigen Respekts keine politischen Schlagworte sind, sondern täglich gelebte, einfache Tatsachen verkörpern. In den Schaufenstern der jüdischen Elektriker entdeckt man Gegenstände, die man sonst nirgends sieht, wie z.B. Schaltuhren, mit denen man am Schabbat das Licht einstellt, Trauerlämpchen, Heizplatten zum Warmhalten der Mahlzeiten für den Schabbat usw.
Sofort nach dem Verlassen des Bahnhofs befindet man sich demnach in einer Welt, in der jüdische Orthodoxie und Diamanten ganz offensichtlich eng miteinander verknüpft sind. 80% der jüdischen Bevölkerung von Antwerpen arbeiten denn auch tatsächlich in der Industrie dieses herrlichen Edelsteins, 80% der vier Diamantbörsen befinden sich in jüdischer Hand. Um die Bedeutung dieser Aktivität wirklich zu verstehen, muss man wissen, dass 65% der weltweiten Rohdiamantenproduktion über Antwerpen verläuft und hier geschliffen, gefasst und verkauft wird. Am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen sind die Diamantbörsen geschlossen, zwei von ihnen besitzen ein koscheres Restaurant. Eine interessante Tatsache besteht darin, dass die Juden ihre Toten nicht in Antwerpen begraben können, da das Gesetz vorschreibt, dass diese nach zwanzig Jahren wieder exhumiert werden - und das Gesetz gilt für alle. Aus diesem Grund befindet sich der Friedhof der Juden von Antwerpen in einer kleinen Stadt in den Niederlanden, gleich hinter der belgischen Landesgrenze (Es gibt in Belgien jüdische Friedhöfe mit zeitlich befristeten Konzessionen, die alle 20 Jahre eventuell verlängert werden können).
Ungeachtet der Tatsache, dass die meisten Juden in Antwerpen das sind, was die Behörden der Gemeinschaften als «erkennbare Juden» bezeichnen - mit Bart, Kaftan und schwarzen Hüten -, werden sie von der lokalen Bevölkerung recht gut akzeptiert. Obwohl die rechtsradikale Partei Vlaams Blok, der zahlreiche Schoah-Negationisten angehören, an den jüngsten Wahlen vor dem Hintergrund eines eindeutig fremdenfeindlichen Programms fast 30% der Stimmen erhielt, sind in der lokalen Bevölkerung keine oder nur wenige Zeichen von Feindseligkeit zu beobachten. Die antisemitischen Handlungen werden meist von Nordafrikanern verübt. Dazu muss aber auch hervorgehoben werden, dass die flämische Regierung beschlossen hat, jede wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Israel einzustellen. Vor kurzem schloss überdies ein flämischer Choreograph seine Aufführung mit der Verbrennung zweier Flaggen: der israelischen und der amerikanischen.
Auch wenn es extrem schwierig ist, irgendwelche Schätzungen zu formulieren, und keine einzigen Daten veröffentlicht werden, gehen bestimmte Quellen davon aus, dass der jährliche Umsatz der Diamantindustrie in Antwerpen 2003 bei rund 36 Milliarden Dollar lag. Sollte dies wirklich zutreffen, versteht man problemlos, dass die Stadt den bedeutenden Beitrag der Diamantenhändler zum finanziellen Wohlergehen ihres Wohnorts zu schätzen weiss?
Die am häufigsten gesprochene Sprache ist jiddisch, darauf folgen französisch und hebräisch. Die Mehrheit der Juden spricht ebenfalls flämisch und niederländisch.
Die Liebesgeschichte zwischen Antwerpen und den Diamanten reicht ins 15. Jahrhundert zurück, zu diesem Thema existiert eine sehr reichhaltige Literatur. In historischer Hinsicht werden wir uns damit begnügen, ein Werk von 1447 zu zitieren, in dem in Antwerpen unter Androhung von Bussen der Handel mit Imitationen von Diamanten, Rubinen, Smaragden oder Saphiren verboten wurde. In dem Dokument wird ausserdem präzisiert, die Busse betrage 25 Dukaten, von denen ein Drittel dem Regenten ausgezahlt werde, ein weiteres Drittel der Stadt und das letzte dem Informanten? (das Denunzieren wurde ganz offensichtlich belohnt, auch wenn nirgendwo erwähnt wird, wie 25 Dukaten durch 3 geteilt werden?).
Um ein historisches und zugleich aktuelles Bild von der jüdischen Gesellschaft der Antwerpener Diamanthändler zu vermitteln, haben wir uns mit einem jungen Unternehmer getroffen, LAURENT TRAU, dessen Familie seit über einem Jahrhundert im Diamantenhandel tätig ist. Trau ist Anhänger der modernen Orthodoxie, Mitglied des Verwaltungsrats der Synagoge Schomrei HaDat, Zionist und Traditionalist strenger Observanz, verheiratet und Vater von vier Kindern. Er leitet sein Unternehmen mit Gelassenheit, Entschlossenheit und viel Erfolg.
1890 liess sich Chaim Trau aus Krakau kommend in Antwerpen nieder, wo er das Diamantengeschäft seines Schwiegervaters übernahm. Zu jener Zeit stammten die Diamanten ausschliesslich aus Südafrika und es dominierten die zwei Märkte in Amsterdam und in London, wo 1890 De Beers eröffnet wurde. Antwerpen galt damals als zweitrangiger Markt. Wie die grosse Mehrheit der Juden, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Antwerpen niedergelassen hatten, war Chaim Trau vor allem als «Spalter» tätig, wobei diese Arbeit darin besteht, den Diamanten nach dem natürlichen Verlauf seiner Schichten zu spalten und so den besten Schliff vorzugeben. Mit der Zeit weitete sich das Geschäft immer mehr aus, so dass sich Chaim Trau vermehrt um den eigentlichen Diamantenhandel kümmerte und Spalter einstellte. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs besass er bereits rund zwanzig Angestellte. Während des Kriegs wurde das Geschäft in Antwerpen eingestellt, die Familie zog in das damals neutrale Holland. Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Antwerpen zurück und nahm die Geschäfte wieder auf, allerdings in sehr viel reduzierterem Umfang. Chaim Trau hatte fünf Kinder, vier Söhne (darunter Charles, den Grossvater von Laurent, sowie Emmanuel, der deportiert wurde) und eine Tochter. Er hatte, wie die anderen Händler, seine Fabrik für Diamantschliff in Antwerpen selbst infolge der internationalen Wirtschaftskrise von 1929 geschlossen und arbeitete «auf dem Land». Zu jener Zeit war eine ganze Reihe von kleinen Diamantschleifereien in der Provinz entstanden. Diese winzigen Familienunternehmen funktionierten im Wochenrhythmus. Am Sonntag gingen die Besitzer an die Diamantbörse in Antwerpen, um dort die wenigen Rohdiamanten zu kaufen, die sie während der Woche schleifen würden. Am darauf folgenden Sonntag verkauften sie diese an der Börse für geschliffene Diamanten und erwarben mit dem Erlös wieder ein wenig Rohware. Im Verlauf der Woche handelten die Juden an der Börse mit den geschliffenen Edelsteinen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, nahm Charles Trau, der als Offizier in der belgischen Armee diente, seinen Militärdienst wieder auf, um gegen Deutschland zu kämpfen. Da Belgien nach zwei Wochen kapitulierte, verbrachte er den Krieg als Kriegsgefangener in Deutschland.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Amsterdam an Bedeutung auf dem Diamantenmarkt; nun war es die Stadt Antwerpen, die sich mit Hilfe des Unternehmens De Beers rasant entwickelte. Man muss sich vor Augen führen, dass damals fast alle weltweit verkauften Diamanten aus Afrika, insbesondere aus Südafrika, stammten. De Beers führte alle Edelsteine in London zusammen. Dort wurden sie nach Qualitätskriterien sortiert und in die ganze Welt verkauft. Noch heute gilt De Beers als der weltweit wichtigste Lieferant für Rohdiamanten, da die Firma ca. 50% des Marktes beherrscht.

Wie erklären Sie sich, dass ein so grosser Teil der jüdischen Bevölkerung in der Diamantenindustrie tätig ist?

Historisch gesehen war Amsterdam nicht nur ein wichtiges Zentrum für den Diamantenhandel, sondern auch eine bedeutende jüdische Metropole. Die Kombination beider Elemente mag vielleicht erklären, dass sich so viele Juden mit dem Diamanten auseinandergesetzt haben. Der alte Werbeslogan einer Diamantengesellschaft vermittelt die damals herrschende Einstellung perfekt: «Ein Vermögen in der Hand halten». Wenn die Juden vertrieben wurden oder flüchten mussten, konnten sie ihre Diamanten, d.h. ihren gesamten Besitz, ihr Arbeitswerkzeug und somit ihren Broterwerb, mitnehmen, und anderswo ein neues Leben beginnen. Es ist wissenswert, dass vor dem Krieg nur 13% der Unternehmensdirektoren und 22% der Angestellten im Diamantgewerbe Juden waren. Bis zu Beginn der 60er Jahre befand sich die Diamantindustrie eher in flämischen Händen als in jüdischen. Die meisten Menschen waren nach dem Krieg in Antwerpen eingetroffen, und da sie nicht hatten studieren können, erwies sich die Diamantindustrie als der bequemste Weg. Man brauchte keine Diplome oder viel Kapital. Der Beruf des Spalters existierte noch, im Gegensatz zu heute, wo das Spalten der Edelsteine aufgrund der neuen Lasertechniken nicht mehr manuell, sondern mit Hilfe modernster Geräte erfolgt. Früher dauerte das Spalten eines Steins einen Tag, während mit der heutigen Ausrüstung täglich rund hundert Diamanten gespalten werden können. Dieser Beruf wurde gut entlöhnt und galt als interessant. Zahlreiche Personen, die als Spalter in diesem Gewerbe angefangen haben, sind heute immer noch in der Branche tätig, doch die junge Generation zeigt deutlich weniger Interesse. Für Antwerpen zieht diese neue Entwicklung wesentliche Veränderungen nach sich.

Wie ist Ihr Unternehmen so bedeutend geworden?

Wir wurden 1947 zu Kunden von De Beers. Mein Grossvater und sein jüngster Bruder wurden Geschäftspartner und erhielten als frühere Armeeangehörige das Privileg dort einzukaufen, was De Beers eine «Sicht» nennt. Alle ehemaligen belgischen oder englischen Offiziere, die Diamantschleifer waren, erhielten nach dem Krieg auf diese Weise Zugang zu einer «Sicht» von De Beers. Dieses System von «Sichten» besteht eigentlich aus einem Angebot, das De Beers zehn Mal pro Jahr ausgewählten Kunden macht, denen die Firma einen Satz Diamanten vorlegt, damit sie ihn kaufen. Bis heute hat De Beers nur 80 Diamantschleiferunternehmen für diese Käufe akkreditiert. G'tt sei Dank hat sich das Geschäft immer mehr entwickelt, so dass in den 60er Jahren ein dritter, in New York lebender Bruder ebenfalls in die Firma einsteigen konnte. Seit einigen Jahren ist nun die junge Generation am Ball. Heute werden die Steine nicht mehr ausschliesslich in Antwerpen geschliffen: die kleinen Diamanten (weniger als ein Karat) erhalten ihren Schliff hauptsächlich in Indien, wo es über eine Million Schleifer gibt, während die grössten Edelsteine in Antwerpen, Israel und New York bearbeitet werden. Unser Unternehmen besitzt auch eine Schleiferei in Israel und wir handeln an der Börse von Ramat Gan. Unsere Kundschaft ist über den ganzen Erdball verstreut, unter anderem in gewissen arabischen Ländern. Seit drei Jahren haben wir eine Schmucklinie namens Scintilla Monaco (dort befindet sich unser Zentrum für Schmuckdesign und -herstellung) lanciert, die zurzeit in erster Linie im Nahen Osten, insbesondere in Dubai und in Saudi Arabien, sowie in Japan verkauft wird. Ich reise ein Mal im Jahr persönlich nach Dubai, wo ich nie irgendwelche Schwierigkeiten hatte, trotz der vielen israelischen Stempel in meinem Pass. Wir beschäftigen gegenwärtig rund 250 Personen.

Ihr Unternehmen gehört zum letztendlich sehr exklusiven Klub der Firmen, die bei De Beers akkreditiert sind. Ist diese Zulassung gültig, solange Ihre Firma existiert?

Die Akkreditierungen werden jeweils nur für zwei Jahre vergeben. Nach Ablauf dieser Frist erfolgt eine erneute Selektion gemäss einer ganzen Serie von Kriterien, deren wichtigste sind: Marketing, kommerzielle Strategie der Gesellschaft, Verkaufs-, Herstellungs-, Innovationskapazitäten im Diamantenhandel, Kapitalausstattung und Präsenz auf den internationalen Märkten. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Transparenz des Unternehmens in Bezug auf zwei Aspekte: Herkunft der finanziellen Mittel und Verfolgbarkeit jedes verkauften Steins. Es existiert nämlich ein völlig parallel funktionierender Markt, derjenige der so genannten «Blutdiamanten», die aus bestimmten afrikanischen Ländern stammen und deren Erlös dem Erwerb von Waffen und der Finanzierung von oft innenpolitischen Rivalitäten dient. Ein Inhaber von «Sichten» ist selbstverständlich nicht berechtigt, mit solchen Diamanten Handel zu treiben, und muss den Weg jedes einzelnen Steins von der Mine bis zum Schmuckgeschäft nachweisen können. Es gibt auf dem Markt jedoch russische Diamanten, die von der staatlichen Gesellschaft Alumrossa vertrieben werden, welche das Monopol besitzt und ohne Akkreditierungssystem an jeden beliebigen Interessenten verkauft.

Die jüdische Diamantenhändlergesellschaft von Antwerpen durchlebt gegenwärtig viele Umwälzungen, da sich die junge Generation nicht sehr für diese Branche zu interessieren scheint. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen und wie sehen Sie die Zukunft?

Die neue Generation betrachtet den Beruf des Diamantenhändlers als eine lästige Pflichtarbeit, die den Eltern durch widrige Lebensumstände aufgezwungen wurde. Die Jugend, die nun studieren kann, zieht es vor, sich den freien Berufen, wie z.B. Anwalt oder Arzt, zuzuwenden. Doch auch die Welt der Diamanten hat sich verändert. Bei der effizienten Führung eines Unternehmens, für die Lagerverwaltung und zahlreiche andere Aufgaben ist heute der Computer unerlässlich, und für unsere Geschäfte beschäftigen wir ganztags einen Rechtsanwalt. Natürlich ist es heute auch viel schwieriger als früher, eine Firma zu gründen und ins Diamantengeschäft einzusteigen. Eine neue Struktur verschlingt auch viel Geld und ist bei der Einführung sehr aufwendig. Gegenwärtig kämpfen wir demnach in Antwerpen mit einem grossen Problem, das sich durch eine Tatsache ergibt, die noch zusätzlich zu den oben erwähnten Schwierigkeiten hinzukommt. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Antwerpen praktisch keine Chassidim. Sie liessen sich erst nach dem Krieg hier nieder und verdienten sich dank den Diamanten recht schnell und in ausreichendem Ausmass ihren Lebensunterhalt, um ihre vielköpfigen Familien zu ernähren. Heute, nachdem zwei bis drei Generationen im Diamantgeschäft tätig waren, sehen die jungen Leute, wie schwer der Beruf geworden ist und welch hohe Anforderungen gestellt werden, und wollen oder können daher nicht in die Branche einsteigen. Ein grosser Teil der jungen Generation lebt folglich unter sehr harten Bedingungen und bezieht Sozialhilfe.

Was erwarten Sie als junger Jude, hohe Persönlichkeit in der Gemeinde und Unternehmer in Belgien von der Zukunft?

In meinen Augen steht dem Diamantgeschäft eine blühende Zukunft bevor, unter der Voraussetzung, dass man über eine sehr solide Struktur verfügt. Als Antwerpener Jude sehe ich die Zukunft nicht durch eine rosarote Brille. Es ist noch keine Angst zu spüren, aber doch beginnende Unsicherheit. Die meisten jungen Leute in meinem Alter haben an der Universität studiert, sind nicht ins Diamantgeschäft eingestiegen und leben nicht mehr in Antwerpen. Einige sind nach Brüssel gezogen, wo sie Arbeit gefunden haben, doch die meisten leben heute in den USA oder in Israel. Die Zahlen sprechen für sich: von meinen Klassenkameraden an der Schule Tachkemoni haben von insgesamt zwanzig nur drei das Familiengeschäft mit den Diamanten übernommen. Die andern, deren Familien ebenfalls mit Diamanten zu tun hatten, haben beschlossen, etwas ganz anderes zu tun als ihre Eltern. Viele kleinere Unternehmen wurden geschlossen oder von grossen indischen Konzernen aufgekauft. Einige Hindus wohnen sein 40 Jahren in Antwerpen, wie beispielsweise unsere Büronachbarn, die Besitzer des Unternehmens Rosy Blue, einer der bedeutendsten Diamantkonzerne Indiens. Antwerpen ist zum Hauptsitz ihrer Tätigkeit geworden. In dieser Enklave in der Welt der Diamanten ist ein fröhliches Durcheinander von schwarzen Hüten, europäischen Strassenanzügen und hinduistischen Gewändern zu beobachten. Als Sprache dominiert jiddisch, und wenn Hindus untereinander ein Geschäft abschliessen, sagen sie «Mazal und Brachah», die jüdische Wendung, mit der seit Jahrhunderten jede Transaktion in der Welt der Diamanten unwiderruflich besiegelt wird.

Ermutigen Sie Ihre Kinder, Diamantenhändler zu werden?

Ich werde sie weder dazu entmutigen noch sie dazu drängen. Da ich aber vier Kinder habe, würde es mich glücklich machen, wenn eines von ihnen das Familienunternehmen fortführen würde. Doch im Moment sind sie noch etwas jung, um derartige Zukunftspläne zu schmieden.


Das jüdische Leben in Antwerpen

Das Gemeindeleben teilt sich in Antwerpen auf zwei grosse Institutionen auf: Schomrei HaDat, deren Mitglieder sich mit der modernen Orthodoxie identifizieren, und Machsiké HaDass, eine streng orthodoxe Gemeinde. Dazu kommen eine sephardische Synagoge nach portugiesischem Ritus sowie eine Flut von Gebetshäusern und Bateï Midraschim (Studien- und Gebetszentren), die chassidischen Gruppen angegliedert sind und deren wichtigste Bobow, Sadz, Klausenburg, Berditchew, Chassideï Alexander, Belz, Gur, Lubawitsch, Satmar, Thortkow und Wiznitz sind.
Die Geschichte der jüdischen Gemeinde reicht weit vor die Unabhängigkeit Belgiens im Jahr 1832 zurück. In diesem Jahr wird jedoch eine Synagoge eingeweiht, eine zweite entsteht 1844, nachdem die erste zu klein geworden ist. In den Jahren nach der Erlangung der Unabhängigkeit gewinnt Antwerpen an Bedeutung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fallen zahlreiche jüdische Gemeinden Osteuropas den Pogromen zum Opfer und es ziehen viele Juden nach Antwerpen? auf der Durchreise nach Amerika, wohin sie aber nie aufbrechen werden. Die jüdische Gemeinde von Antwerpen sah sich gezwungen, Infrastrukturen zu schaffen, die mit ihrem Aufschwung Schritt hielten. Wir haben ein kurzes Gespräch mit Willy Kahan, dem stellvertretenden Präsidenten der Gemeinde Schomrei HaDat, geführt, um ein paar Einzelheiten über das Gemeindeleben in Antwerpen zu erfahren.

Können Sie uns mit wenigen Worten das heutige jüdische Leben und die Tätigkeit der Gemeinde in Antwerpen beschreiben?

Die Stadt umfasst zwei orthodoxe Hauptgemeinden und zwei weitere wichtige Gemeinden, von denen die eine sephardisch, die andere georgisch ist und die in Bezug auf die Dienstleistungen der Kaschruth usw. Übereinkommen mit unserer Gemeinde abgeschlossen haben. Alle in einer Antwerpener Gemeinde registrierten Juden sind Mitglieder einer orthodoxen Gemeinschaft, auch wenn sie persönlich nicht orthodox sind. Unsere Gemeinde weist eine hervorragende Infrastruktur auf, wir besitzen qualitativ hoch stehende Gemeindeeinrichtungen. 2004 feierten wir das 50-jährige Jubiläum nach dem Wiederaufbau der Gemeinde Schomrei HaDat, auch von der Van Nestleistraat genannt, deren Synagoge Romi Goldmuntz heisst. Ich möchte daran erinnern, dass das jüdische Viertel neben dem Bahnhof am 14. April 1941, an einem Ostermontag, von einer Bande jugendlicher Sympathisanten mit Deutschland angegriffen wurde, zumeist Mitgliedern der flämischen SS. Sie marschierten in Richtung der Synagogen in der Osttenstraat und verwüsteten auf dem Weg jüdische Geschäfte. Dann plünderten sie die Synagogen der Van Nestlei und der Oostenstraat, schändeten Kultgegenstände und legten Feuer in den Synagogen sowie im Haus des Rabbiners. 1954 wurde die vollständig renovierte Synagoge an der Nestleistraat wieder eröffnet. Unsere Gemeinde betreut ebenfalls die grösste jüdische Schule von Antwerpen, die Tachkemoni, die weltweit für das hohe Unterrichtsniveau, vor allem der hebräischen Sprache, bekannt ist. Wir verfügen auch über ein recht grosses Altersheim und einen Sozialdienst namens «Wohltätigkeitszentrale», der leider immer öfter in Anspruch genommen wird. Diese Institution besitzt einen Heimlieferservice für koschere Mahlzeiten, der ebenfalls jüdische Häftlinge versorgt, falls es welche gibt. Daneben existiert eine aussergewöhnliche Sonderschule für rund vierzig geistig oder physisch behinderte Kinder, in der auf jedes Kind praktisch eine Lehrperson kommt. Und abschliessend möchte unser Gemeindezentrum Romi Goldmuntz mit dem grossen Festsaal, der Krippe und den Sporteinrichtungen nicht unerwähnt lassen, zu denen auch ein Stadion, ein Tennisplatz und die Mehrzweckhalle unseres Maccabi-Clubs gehören.

Wie wir sehen, bietet das jüdische Leben in Antwerpen alle Voraussetzungen für ein angenehmes Dasein, darunter auch einige koschere Restaurants, in denen traditionelle jüdische und qualitativ hoch stehende Gerichte auf der Karte stehen. Gibt es aber deshalb eine Zukunft für die Juden in Belgien ?


Die jüdischen Schulen in Antwerpen

Eine der Besonderheiten des jüdischen Lebens in Antwerpen besteht darin, dass praktisch 90% der Kinder eine jüdische Schule besuchen. Es gibt in Antwerpen zwei grosse Schulen, Tachkemoni, die unter der Leitung der Gemeinde Schomrei HaDat steht, und Yesodei HaTorah, die von der streng orthodoxen Gemeinde Machsiké Hadass abhängig ist und eine gesonderte Abteilung für die Knaben sowie einen Beth Yacov für die Mädchen aufweist. Ausserdem existiert ein kleineres Institut namens Yavnéh. Alle drei Schulen sind staatlich anerkannt. Darüber hinaus verfügt jede der chassidischen Dynastien über ihre eigene kleine Privatschule, von denen einige nur Religionsunterricht erteilen, andere wiederum auch laizistischen Unterricht anbieten.
Tachkemoni war Chef der königlichen Garde von König David (2. Samuel 23,8). Die heute weltweit bekannte und im Bereich der jüdischen Erziehung als Vorbild und Referenz dienende Schule Tachkemoni wurde 1920 als reine Jungenschule mit einer einzigen Grundschulklasse gegründet. Obwohl die Schule 1928 in grosszügige Räumlichkeiten umzog, nahm sie erst ab 1939 auch Mädchen auf. Ab 1942 wurde das Gebäude zu anderen Zwecken verwendet. Erst im Jahr 1947 konnte Tachkemoni so zu sagen ein zweites Mal eingeweiht werden. Mit der Zeit wuchs die Schule immer mehr, und seit 2001 stehen ihr zahlreiche neue Einrichtungen zur Verfügung. Rund 800 Schüler gehen heute hier zur Schule, wobei der Unterricht dem staatlichen Lehrplan entspricht. Sie zeichnet sich durch einen hochkarätigen Hebräischunterricht aus, damit die Absolventen problemlos in hebräischer Sprache an jeder beliebigen Universität in Israel studieren können, sofern sie die dort erforderlichen psychometrischen Tests bestehen. Im Verlauf eines kurzen Gesprächs mit der Schuldirektorin, Frau Gladys Lehrer, erklärte sie insbesondere: «Unser Ziel ist es, dass sich unsere Schüler nach dem Abschluss ihrer Schulzeit ebenso gut in der belgischen wie in der jüdischen Kultur auskennen. Wir glauben, dass die Identifizierung mit Israel und die Stärkung der jüdischen Identität über vertiefte Kenntnisse der hebräischen Sprache erfolgen. Mit dieser Einstellung bereiten wir die neuen Generationen auf das Leben vor».



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