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Inhaltsangabe Politik Frühling 2005 - Pessach 5765

Editorial - April 2005
    • Editorial [pdf]

Pessach 5765
    • Flucht aus Ägypten? [pdf]

Politik
    • In die Sackgasse [pdf]

Interview
    • Friede - Sicherheit - Wohlstand? [pdf]
    • Shalom Tsunami! [pdf]

Strategie
    • Wie ein Seiltänzer? [pdf]

Judäa - Samaria - Gaza
    • Über den Rückzug Hinaus

Analyse
    • Ein muslemisches Europa ? [pdf]

Gerechtigkeit
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Medizinische Forschung
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Porträt
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Kultur
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Reportage
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Belgien
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    • Jüdisches Leben in Brüssel [pdf]
    • Vertrauen und Vorsicht [pdf]
    • Wenn nicht ich - Wer sonst? [pdf]
    • «Échevin» und Jiddische Mama! [pdf]
    • Die Magie der Diamanten [pdf]
    • Das Jüdische Museum Von Belgien [pdf]
    • Die Schoah in Belgien [pdf]

Ethik und Judentum
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Das Gute Gedächtnis
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In die Sackgasse

Von Emmanuel Halperin, unserem Korrespondenten in Jerusalem
Niemand hat uns gesagt oder gar erklärt, warum Sharon beschlossen hat - und hartnäckig an seinem Beschluss festhält -, 8'000 Juden aus ihren Dörfern im Gazastreifen zu vertreiben. Trotz unzähliger Reden und Artikel, Petitionen, Demonstrationen, Abstimmungen und Gegenreferenden wissen die Israeli (ohne sich dessen immer bewusst zu sein) das Wesentliche nicht: weshalb ist dies alles so wichtig, worauf führt dieser Plan hinaus, was ist der Zweck der Übung, was soll das Ganze?
Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, welche Gründe den israelischen Premierminister bewegt haben, so plötzlich seine Meinung zu ändern, um fast wortwörtlich die Politik zu betreiben, die seine Rivalin, die Arbeitspartei, an den letzten Wahlen proklamiert hatte. Die Wähler hatten den Vorschlag eines einseitigen Rückzugs damals massiv abgelehnt, um Sharon ihre Unterstützung zu beweisen, um vor allem nachdrücklich zu zeigen, wie sehr sie hinter seiner Ablehnung jeder Konzession und gar jeder Verhandlung standen, solange die Palästinenser sich für die Logik der Bomben entscheiden und die Mörder gewähren lassen würden.
Diese Weigerung - die darüber hinaus international als legitim galt und von der Road Map gebilligt worden war - war von bestechender Logik: welcher Staat hätte anders gehandelt? Dem Terrorismus nicht nachgeben, keine Massnahmen ergreifen, die irgendwie den Eindruck erwecken könnten, dass sich Attentate letztendlich auszahlen. Denn jedes durch Gewalt entrissene Zugeständnis wird unweigerlich zu neuen Gewalttaten führen. Wie kann man aber heute diese Politik der festen Hand, die offiziell immer noch betrieben wird, mit der Evakuierung von 8'000 Israeli aus dem Gazastreifen und aus vier jüdischen Siedlungen in Samaria vereinbaren? Es fehlt nicht nur die Gegenleistung, der Premierminister scheint sich ausserdem in seiner Rolle als unabhängiger Akteur zu gefallen: «Wir tun dies, weil wir es beschlossen haben», sagt er im Wesentlichen, ohne aber irgendjemanden um seine Zustimmung zu bitten. Es ist ein Akt der reinen Willkür. «Sollten die Palästinenser Massnahmen ergreifen, um die Evakuierung zu koordinieren, umso besser. Und sonst ist es auch egal. Im Grunde ist es ja unsere Angelegenheit».
Die Ergebnisse einer Umfrage, die von einem israelischen und einem palästinensischen Institut gemeinsam durchgeführt wurde, legen dar, wie wenig Verständnis man für die Sharon'sche Logik aufbringt. Knapp die Hälfte der Israeli ist der Ansicht oder gibt zu, dass der geplante Rückzug das Resultat von vier Jahren Terror ist. Nicht weniger als 75% der Palästinenser sind derselben Ansicht. In ihren Augen hat der Kampf demnach zu einem extrem positiven Ergebnis geführt. Daraus kann man nur etwas schliessen: «Die Juden verstehen nur die Sprache der Gewalt». Ein erstes Beispiel, der überstürzte Abzug aus dem Südlibanon nach einem jahrelangen, von der Hisbollah aufgezwungenen Abnützungskrieg, soll die Intifada ausgelöst haben, denken einige. Heute, da der starke Mann, der General ohne Furcht und Tadel, selbst in die Knie geht, gilt der Beweis als erbracht, als hieb- und stichfest. Aus diesem Grund ist die Zerschlagung von terroristischen Netzwerken, der Verzicht auf den bewaffneten Kampf gar kein Thema. Die Israeli erhalten allerhöchstens einen Waffenstillstand. Eigentlich erweisen wir ihnen ja gar keinen grossen Dienst, denn die Terroristen sind müde, sie müssen sich neu organisieren, andere Führungsleute aufbauen, nachdem die israelische Armee und der Nachrichtendienst diese ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen haben. Wenn die Stunde gekommen ist, nach der Krise, die Israel bevorsteht - die umso schmerzhafter ausfallen wird, da sie selbstverschuldet ist -, wird man immer noch zum Terror zurückkehren können, falls dies nötig ist, um die Israeli gefügig zu machen. Und ohne wesentliche Forderungen aufzugeben.
Die Taktik hat sich vielleicht effektiv verändert, doch Abu Mazen und seine wichtigsten Helfer haben absolut nichts am Credo der PLO und der Strategie Arafats verändert: die Lösung des «israelischen Problems» in Etappen - in der bewährten Salamitaktik. Diese Strategie wurde bereits in den Osloer Verträgen eingesetzt, sie wird nun durch die geplante Evakuierung israelischer Zivilpersonen aus der Region von Gaza auf seltsame Weise bestätigt.
Um sein Ziel zu erreichen - seine Entscheidung von der Regierung und vom Parlament gut heissen zu lassen - hat Sharon jetzt erfolgreich einen langen Hindernislauf hinter sich gebracht. Er hat dabei alle Waffen der republikanischen Legalität eingesetzt, und zwar mit einer verblüffenden Skrupellosigkeit und einem Machiavellismus, den die Politologen weltweit zweifellos mit Begeisterung in ihren Instituten analysieren werden.
Denn es braucht eine unglaubliche Unverfrorenheit, um sich für eine Politik zu entscheiden, die der vor zwei Jahren vom Stimmvolk gewählten Richtung nicht nur entgegengesetzt ist, sondern ihr völlig widerspricht. Dies zu tun, ohne die erneute Einwilligung der Israeli einzuholen. Ein Referendum abzulehnen, weil das Ergebnis zu unsicher wäre. Sich keinen Deut um die Beschlüsse der obersten politischen Instanzen seiner eigenen Partei zu scheren, weil sie ihm nicht in den Kram passen. Minister kalt zu stellen, deren Präsenz in der Regierung seine Mehrheit gefährdet. Sich auf die Opposition abzustützen, um seine Politik durchzubringen. Sich die Unterstützung dieser oder jener Partei - noch dazu in aller Öffentlichkeit - zu erkaufen. Ohne dabei, vergessen wir es nicht, gegen das Gesetz zu verstossen. Wen erstaunt es da noch, dass unter diesen Umständen die endlose Debatte um Legalität und Legitimität wieder aufflackert?
Es stimmt, dass die Meinungsumfragen eine massive Befürwortung der Rückzugspolitik durch die Israeli (fast 70%) ergeben. Denn die Besiedlung von Gusch Katif war nie sehr beliebt und die allzu einfache Idee, sich dieses Klotzes am Bein zu entledigen, den Gaza darstellt, wurde immer wohlwollend aufgenommen: sie nicht mehr sehen, nichts mehr von ihnen hören, nichts mehr zu tun zu haben mit diesen grösstenteils elenden und vor allem feindlich gesinnten Einwohnern. Jeder Israeli, der irgendwann in den letzten 38 Jahren einen Teil seines Militärdienstes in den Gassen von Gaza und den Flüchtlingslagern abverdienen musste, kennt dieses gewiss nicht sehr edelmütige, aber verständliche Gefühl. Das Dumme ist nur, dass es natürlich gar nicht zur Debatte steht, sich wirklich von Gaza zu trennen. Israel wird der palästinensischen Bevölkerung weiterhin Strom, Konsumgüter und Arbeit zur Verfügung stellen müssen, und eine militärische Präsenz wird nicht nur an der ägyptischen Grenze notwendig sein, um dort den Waffenschmuggel zu verhindern zu versuchen, sondern auch jedes Mal, wenn von dieser Region aus Gewaltakte verübt werden. Was zweifellos geschehen wird.
Hätte Sharon seine Politik erklärt, hätte er diese inneren Widersprüche erkennen müssen, er hätte zugeben müssen, dass der Rückzug keinen Bruch darstellt und dass der Abzug nicht ungefährlich ist. Doch erstaunlicherweise hat niemand ernsthaft versucht, diese Initiative - die heute von der internationalen Gemeinschaft als natürlich und unumgänglich angesehen wird - zunichte zu machen, weder die israelischen Medien, nicht einmal die Akteure auf dem politischen Parkett. Es gab die Argumente «dafür», und zwar aus verschiedenen Gründen, wobei der wichtigste darin bestand, dass man den Status quo absolut satt hatte, während die Linke das angenehme Gefühl empfand, dass Sharon Oppositionspolitik betrieb. Und es gab die Argumente «dagegen», wobei der wichtigste der diversen Gründe hier aus der unerschütterlichen Unterstützung der jüdischen Präsenz überall dort bestand, wo sie vom Staat beschlossen und bewilligt worden war. Doch der springende Punkt besteht darin, dass Israel zum ersten Mal in seiner Geschichte beschliesst, eine seit über dreissig Jahren völlig rechtmässig angesiedelte Zivilbevölkerung zu evakuieren, ohne einen Friedensvertrag zu unterschreiben, ohne eine endgültige oder partielle Regelung zu vereinbaren, ohne Verhandlungen zu führen und ohne Gegenleistung zu verlangen.
Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Ungeachtet der Tatsache, ob die Entwurzelung zustande kommt oder nicht stattfinden kann, wird jedoch die israelische Gesellschaft Tage des Zorns erleben, auf die sie gegenwärtig durchaus hätte verzichten können. Und die eine verantwortungsbewusste Regierung ihr gegenwärtig auch hätte ersparen müssen.


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