Seit mehreren Jahren, vor allem seit dem Beschluss Belgiens, den israelischen Ministerpräsidenten vor belgische Gerichte zu bringen, um ihn wegen «Kriegsverbrechen» zu verurteilen, herrscht der Eindruck vor, dass dieses kleine Land nach dem Vorbild Frankreichs zu einem Wortführer der israelfeindlichen Politik der Europäischen Union geworden ist und die treibende Kraft hinter allen Unannehmlichkeiten darstellt, denen der hebräische Staat in Europa begegnet. Niemand hat die aggressiven und provokanten Erklärungen des damaligen belgischen Aussenministers Louis Michel vergessen, der nicht nur zum Hass gegen Israel, sondern auch gegen die Juden aufrief. Nachdem seine Partei die Wahlen verloren hatte, besitzt Belgien nun einen Aussenminister, der zwar nicht offen pro-israelisch ist, sich jedoch zurzeit nicht negativ über den jüdischen Staat äussert. Um die Beziehungen zwischen Brüssel und Jerusalem zu analysieren, haben wir mit S.E. JEHUDI KINAR gesprochen, dem israelischen Botschafter in Belgien und Luxemburg, der uns sehr herzlich empfangen hat.
Wie würden Sie den aktuellen Stand der Beziehungen zwischen Israel und Belgien definieren, insbesondere seit die so genannte «Sharon-Affäre» beendet ist?
Bevor ich auf Ihre Frage eingehe, scheint es mir sinnvoll, ein wenig in die Vergangenheit zurückzukehren, um die Atmosphäre zu verstehen, die anlässlich meines Amtsantritts hier herrschte. Ich traf im Januar 2003 in Brüssel ein und einige Tage später, nämlich am 13. Februar, fand am Kassationshof ein Prozess gegen unseren Ministerpräsidenten statt, in dessen Verlauf die Klage gegen Ariel Sharon für zulässig erklärt wurde. Er konnte demnach in Belgien verurteilt werden. Zu diesem Zeitpunkt beschloss meine Regierung, mich zu Beratungsgesprächen nach Jerusalem zu rufen. Ich kehrte erst drei Monate später, am 28. April, nach Brüssel zurück. Ein Politiker, der zu den Parlamentariern gehörte und kraft des Gesetzes über die universelle Zuständigkeit vorgeschlagen hatte, Ariel Sharon anzuklagen, schlug ausserdem vor, auch den früheren amerikanischen Präsidenten Georges Bush, Colin Powell und General Schwarzkopf vor Gericht zu bringen. Diese Idee bewirkte eine sofortige Reaktion der USA: die amtierende Administration machte der belgischen Regierung klar, das in Belgien liegende NATO-Hauptquartier könne in ein anderes Land verlegt werden, der Hafen Antwerpen, der hauptsächlich vom Seehandel zwischen Europa und Amerika lebt, könne ohne weiteres durch Rotterdam ersetzt werden, usw. Als die Belgier begriffen, dass ihnen ziemlich viele Probleme blühten, haben sie dieses Gesetz sehr schnell aufgehoben. Am 7. Mai 2003, am Tag von Jom Haazma'ut, konnte ich demnach endlich mein Akkreditiv vorlegen.
Was die Beziehungen zwischen unseren zwei Ländern betrifft, muss ich Sie auf die besondere Situation Belgiens und auf die extrem komplizierte nationale Konstellation des Landes hinweisen. Neben dem allgemein bekannten Sprachproblem ist in Belgien gegenwärtig ein recht interessantes Phänomen zu beobachten: die wachsende Unabhängigkeit und politische Macht der Regionen auf Kosten der Bundesregierung. Dies fällt vor allem in den Bereichen Kultur und internationale Abkommen in Bezug auf Exportfragen auf. Dazu muss man wissen, dass 62% der Bevölkerung flämisch sind und dass 90% der belgischen Exporte nach Israel aus Flandern stammen. Darüber hinaus sind Rohstoffe wie Kohle und Metall, welche noch vor 30 Jahren den Reichtum von Wallonien ausmachten, verschwunden. Diese Tatsache führt zu einer Reihe von internen Spannungen sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Art, welche sich direkt auf die Beziehungen zwischen unseren zwei Ländern auswirken.
In Belgien gibt es drei wichtige Machtebenen: Bund, Regionen und Provinzen. Die grossen Regionen besitzen extrem viel Macht und geniessen eine unglaubliche Unabhängigkeit. Sie können z.B. eine offizielle Vertretung im Ausland haben oder bedeutende bilaterale Abkommen mit einem anderen Staat unterzeichnen. So kann zwischen Israel und Flandern ein grösserer Handelsvertrag vereinbart werden, ohne dass dieser von der Bundesregierung oder Wallonien ratifiziert werden muss. Die Parlamente der Provinzen wiederum verfügen über fast identische beschränkte Befugnisse wie die Kantone in der Schweiz.
Ich glaube nicht, dass die belgische Bevölkerung und die politische Klasse insgesamt speziell israelfeindlich eingestellt sind, auf jeden Fall nicht mehr oder weniger als in anderen europäischen Ländern. Wir haben Freunde, insbesondere in bestimmten christlichen Kreisen, die mit ähnlichen Gruppen in den Niederlanden verbunden sind und uns ihre Sympathie eindeutig zu erkennen geben. Auf Bundesebene bereiten uns jedoch zwei Parteien viele Probleme. Ausserdem unterstützt die Regierung die NGOs (Nichtregierungsorganisationen), die sich nicht direkt gegen Israel wenden, deren einflussreiche Mitglieder jedoch antiisraelische Interessen vertreten. Pierre Galland beispielsweise ist Mitglied des Senats und Präsident der Vereinigung für belgisch-palästinensische Freundschaft?
Gehen wir davon aus, dass die belgische Regierung ein Embargo der Exporte nach Israel beschliesst. Wäre es der einen oder anderen Region möglich, sich diesem Embargo nicht anzuschliessen, ich denke dabei besonders an die berühmten belgischen Waffenfabriken?
Theoretisch und von einem rein juristischen Standpunkt aus wäre dies denkbar. In Wirklichkeit glaube ich nicht, dass eine derartige Situation eintreten könnte, da die Bundesregierung über die Mittel verfügt, solche Unabhängigkeitsdemonstrationen zu unterbinden.
Eine rasche Beurteilung der belgischen Politik in Bezug auf den arabisch-israelischen Konflikt zeigt deutlich eine pro-arabische Tendenz. Ist dies auf die hohe muslimische Bevölkerung in Belgien oder auf den wirtschaftlichen Druck seitens der arabischen Länder zurückzuführen?
Die von Ihnen angesprochene politische Ausrichtung ist kein belgischer Sonderfall, sondern entspricht derjenigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Belgien rechtfertigt übrigens seine Nahostpolitik dadurch, dass es immer wieder seine Anpassung an die EU-Linie betont. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass die Präsenz einer autochthonen muslimischen Bevölkerung mit mehreren hunderttausend Menschen (und folglich auch Wählern) einen Einfluss auf die Politik gegenüber Israel hat. Man muss sich klar machen, dass die 40'000 hier lebenden Juden da kaum ins Gewicht fallen. Dieses Phänomen ist auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten. Meiner Ansicht nach wird von der arabischen Welt kein wirtschaftlicher Druck ausgeübt, da die Handelsbeziehungen ausgezeichnet und sehr hoch stehend sind. Israel steht an 14. Stelle der Wirtschaftspartner von Belgien.
Sie gehen davon aus, dass die belgische Bevölkerung im Allgemeinen nicht speziell israelfeindlich ist. Dennoch hört man immer öfter von einem Anstieg antisemitischer Vorfälle. Wie schätzen Sie diese neue Realität ein?
Ich möchte daran erinnern, dass Belgien während der Schoah fast 50% seiner jüdischen Mitbürger gerettet hat, was in zahlreichen anderen Ländern Europas bei weitem nicht der Fall war. In meiner Eigenschaft als israelischer Botschafter verleihe ich im Schnitt jährlich mehr als 20 Auszeichnungen der Gerechten von Yad Vaschem an Menschen, die während der deutschen Besatzung Juden versteckt oder gerettet haben. Dies berührt mich umso mehr, als auch ich als Baby versteckt wurde und irgendwie jedes Mal meine eigene Geschichte erneut durchlebe. Ich möchte damit nicht die Tragweite der von Ihnen erwähnten Ereignisse herabzusetzen. Die Präsenz einer muslimischen Bevölkerung mit über einer halben Million Menschen sowie die Rückkehr der extremen Rechten sind Quelle ernsthafter Sorgen und werden von den Verantwortlichen der Gemeinde auf effiziente Weise angegangen.
Wie steht es um den wirtschaftlichen Austausch zwischen den beiden Ländern?
Wegen des Diamantenhandels ist der Austausch sehr bedeutend und erreicht knapp eine Milliarde Dollar pro Jahr. Belgien ist der wichtigste Handelspartner Israels innerhalb der EU.
Welches ist Ihre Hauptsorge betreffend die Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern?
Die höchst einflussreichen belgischen Medien spielen leider eine erdenklich negative Rolle bei der Verbreitung des israelischen Image. Deswegen ist die Tätigkeit, für die ich am meisten Zeit aufwende, die Förderung und vor allem Verbesserung des Bildes von Israel in der Bevölkerung. Ich kann glücklicherweise die Presse sowohl in französischer als auch in flämischer Sprache lesen und kann Ihnen sagen, dass die israelfeindlichen Artikel an der Grenze zum Antisemitismus stehen, wenn sie nicht gar durch und durch antisemitisch sind. Eine alte Witzfrage lautet folgendermassen: «Was ist das? Es läuft wie ein Hund, sieht aus wie ein Hund und bellt?». Das kann nur ein Hund sein. Ähnlich ist es bei der Lokalpresse und ihren Publikationen, die angeblich nur anti-israelisch sind, aber nicht als antisemitisch gelten möchten? obwohl sie in jeder Hinsicht so wirken. Im November 2004 veröffentlichte Knack (das Pendant zum deutschen Spiegel) einen Artikel über die «israelische Mafia von Antwerpen». Dieser gut dokumentierte Artikel war gespickt mit antisemitischen Zitaten, die völlig anonym blieben, was im Namen der Ausdrucksfreiheit in Belgien legal ist. Diese Art von wiederholt auftretenden Texten, deren einziges Ziel es ist, das Image Israels und der Juden zu schwärzen, wirkt sich mit der Zeit negativ auf uns alle aus. Die Politiker und Parlamentarier lesen täglich diese völlig unausgewogene und israelfeindliche Berichterstattung in der Presse und werden dadurch beeinflusst, was auf Dauer der Entwicklung unserer Beziehungen nur schaden kann. Ich stehe daher in ständigem Kontakt mit den verschiedenen Redaktionen, die mir anlässlich unserer Sitzungen oft Recht geben? und dennoch nichts unternehmen, um die Situation zu ändern.
Neben Ihrer Aufgabe in Bezug auf die belgische Regierung stellen Sie auch die Verbindung zwischen Israel und der jüdischen Gemeinde Belgiens dar. Wie sehen Sie diesen Aspekt?
Bevor ich genauer auf Ihre Frage eingehe, möchte ich auf ein Problem hinweisen, mit dem wir konfrontiert sind und das sich unmittelbar auf das von mir erwähnte Image Israels in der öffentlichen Meinung bezieht. Jedes Mal, wenn ein Journalist eine jüdische Stimme zu einem in Israel stattfindenden Ereignis hören möchte, wendet er sich ausschliesslich an dieselbe Gruppe von Personen, nämlich an eine offen anti-israelische Vereinigung mit dem Namen Union progressiver Juden. Die jüdische Gemeinde als solche steht jedoch Israel sehr nahe und unterstützt das Land.
Es stellt sich nun die Frage, was die jüdische Gemeinde unternimmt, um das Image von Israel zu verbessern, insbesondere beim Kampf gegen israelfeindliche Propaganda?
Es gibt kein einheitliches Vorgehen. Der grösste Teil der jüdischen Bevölkerung besitzt Angehörige in Israel und ist entsetzt über die ausfälligen Berichte in der Presse. Leider ist, wie überall, eine Art allgemeine Apathie zu beobachten, und ich muss sagen, dass es in Wirklichkeit kaum zu aktiven und effizienten Reaktionen kommt. Es gibt in Brüssel das laizistische jüdische Zentrum, das sich sehr einsetzt? und zwar für die Interessen der israelischen extremen Linken. Yossi Beilin und Yasser Abed Rabo werden regelmässig von diesem Zentrum eingeladen, was aber den Rest betrifft? Wenn die Gemeinde wirklich etwas unternehmen wollte, um die negative Einstellung gegenüber Israel zu verändern, könnte sie meiner Ansicht nach erfolgreich sein. In Antwerpen besteht eine kleine, aktive Gruppe, das Forum, das einige Aktionen bei Bürgermeistern und Politikern unternimmt, um die Situation vielleicht etwas zu verbessern. Ich muss zugestehen, dass die jüdische Gemeinde von Antwerpen sich viel stärker für Israel engagiert. Dies rührt daher, dass sie in der Stadt über eine echte wirtschaftliche Macht verfügt, was in Brüssel nicht der Fall ist. Ausserdem ist die religiöse Motivation in Antwerpen stärker als in Brüssel, und dies spielt eventuell auch eine Rolle.
Wie steht es um die Beziehungen zu Luxemburg?
Seit dem 1. Januar 2005 stellt dieses Land den Vorsitz der EU. Sein Aussenminister ist Mitglied der neuen Regierungskoalition, die im Juni 2003 gewählt wurde, so dass er bis heute noch keine Gelegenheit hatte, nach Israel zu reisen. Wir pflegen bilaterale Beziehungen, die denjenigen mit anderen kleinen europäischen Ländern gleichen. Es gibt eine winzige jüdische Gemeinschaft mit rund tausend Seelen, von denen die meisten in Luxemburg selbst leben, sowie einige Familien in Esch-sur-Alzette, wo auch eine Synagoge steht. Die Handelsbilanz zwischen Israel und Luxemburg weist einen Überschuss von 25,4 Millionen Dollar zugunsten von Luxemburg auf. Die israelischen Exporte belaufen sich auf 4,3 Millionen, während Luxemburg für 29,7 Millionen Güter nach Israel exportiert hat. Dies ist natürlich kein bedeutendes Volumen. Israel führt vor allem Maschinen, elektrische Ausrüstungen, sowie wissenschaftliche und medizinische Instrumente aus. Israel kauft in Luxemburg verschiedene Metalle, diverse Arten von elektrischen Ausrüstungen, Perlen, Edelsteine und Schmuck ein. Dazu muss man wissen, dass sowohl die Bank Leumi als auch die Bank Hapoalim in Luxemburg Büros besitzen.
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