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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Herbst 1998 - Tischri 5759

Editorial - Herbst 1998
    • Editorial

Rosch Haschanah 5759
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Politik
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Ethik und Judentum
    • Schmerzen lindern - Mit welchem Risiko ?

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Schmerzen lindern - Mit welchem Risiko ?

Von Rabbiner Shabtaï A. Rappoport *
MIT WELCHEM RISIKO ?
K. ist Physiker, 45 Jahre alt und leidet seit geraumer Zeit an Lungenkrebs - nach Ansicht der Ärzte befindet er sich im Endstadium. Vor kurzem litt er unter unerträglichen Schmerzen im Brustbereich, die ihn viel stärker quälten als das Wissen um sein baldiges Ende. K. wird auf oralem Weg Morphium verabreicht, um seine Schmerzen zu lindern.
Schon zu Beginn der Therapie wurde festgestellt, dass überdurchschnittlich hohe Dosen notwendig seien, um die erwünschte betäubende Wirkung zu erzielen. Gemäss den vom Arzt gegebenen Erklärungen ist die Schwelle der Blutübertragung ins Gehirn individuell sehr unterschiedlich, so dass es bei K. möglich ist, dass nur ein Bruchteil der verabreichten Dosis die Schmerzrezeptoren erreicht. Bei fortschreitender Krankheit musste die Morphiumdosis erhöht werden. Zur Zeit fürchtet man bereits, dass die eingenommene Morphiumquantität dem Körper zu schaden droht oder gar den Tod herbeiführen könnte. Als aufrichtiger Jude lehnt K. den Gedanken an Selbstmord oder Euthanasie trotz seiner unerträglichen Schmerzen strikte ab; jeder Gedanke an Mord ist für ihn von vornherein ausgeschlossen. Er steht folglich vor einem Dilemma: darf er sein Leben aufs Spiel setzen - obwohl er sowieso dem sicheren Tod entgegengeht - um seine Leiden zu lindern ?
Der Talmud (Avoda Zara 27b) erlaubt es, ein "nicht dauerhaftes" - auch "einstündiges Leben" genannt, wenn es sich um eine Person im Endstadium handelt - zu gefährden, wenn es um die Entscheidung geht eine Therapie zu versuchen oder die Person zu retten. Im Verlauf eines solchen Versuchs "besitzt das einstündige Leben keinen Wert". Diese Schlussfolgerung beruht auf der biblischen Erzählung (2. Könige 7, 3-4) der vier Leprakranken, die beschliessen, sich aufgrund folgender Überlegung dem sie belagernden Feind zu ergeben: "Warum warten wir hier auf den Tod? Wenn wir beschliessen, in die Stadt zu gehen, die unter Hungersnot leidet, werden wir sterben; wenn wir hier bleiben, sterben wir ebenfalls. Dringen wir doch in das Lager der Syrer ein ; wenn sie uns am Leben lassen, werden wir leben, wenn sie uns töten, werden wir sterben." Der Talmud schliesst: "Es handelte sich dabei um das einstündige Leben [das sie in Gefahr bringen durften] ! Dies bedeutet demnach, dass das einstündige Leben nicht berücksichtigt werden muss."
Darüber hinaus hält der Talmud fest (Ketuboth 33 a-b), dass eine endlos fortgesetzte Folter als schlimmer angesehen werden kann als der Tod. "Raw Aschi fragt sich: wie können wir wissen, ob die Todesstrafe strenger ist als die Folter durch Peitschenhiebe? Die Peitschenhiebe sind vielleicht eine schlimmere Bestrafung, weil Rab gesagt hat: Hätte man Chananiah, Mischael und Asariah (Daniel, 3, 15) ausgepeitscht, hätten sie dann vielleicht das goldene Bildnis angebetet?" Der Talmud antwortet: Unterscheidest du nicht zwischen einer zeitlich begrenzten Folter (die Anzahl der vom Gericht verordneten Peitschenhiebe ist auf vierzig beschränkt) und einer Folter, die kein Ende hat (wenn Chananiah, Mischael und Azariah diese Strafe erlitten hätten, wären die verabreichten Schläge nicht beschränkt gewesen) ?
Man hätte sich also folgendes überlegen können: da es erlaubt ist, das "einstündige Leben" aufs Spiel zu setzen, um dem Tod zu entgehen, und da eine zeitlich unbeschränkte Folter schlimmer ist als der Tod, kann man daraus schliessen, dass es erlaubt ist, das "einstündige Leben" zu gefährden, wenn man einer Folter entgehen möchte, vor allem wenn ein unerträglicher Schmerz vermieden werden soll. Diese Argumentation ist jedoch falsch. Das Töten eines Menschen, dessen Leben nur noch ein "einstündiges Leben" ist, entspricht einem Mord an einer vollständig gesunden Person. Es ist verboten, sein eigenes Leben in Gefahr zu bringen, weil dies Verachtung für das Heilige des menschlichen Lebens zum Ausdruck bringt und daher in gewissem Sinne eine Tat darstellt, die dem Mord gleicht. Nimmt man aber dieses Risiko auf sich, um sein Leben zu bewahren oder zu retten, drückt diese Tat keinesfalls Verachtung aus, sondern beweist vielmehr die höchste Hochachtung vor dem Leben. Der Mensch gefährdet in diesem Fall sein "einstündiges Leben", weil er die Hoffnung hegt, viele Jahre eines gesunden und normalen Lebens zu erlangen. Man sieht, dass die Ermächtigung, ein nicht dauerhaftes Leben aufs Spiel zu setzen, nicht zu dem Zweck erteilt wurde, dem betreffenden Menschen einen Vorteil zu verschaffen oder die Qualität seines nicht dauerhaften Lebens zu erhöhen, sondern einzig und allein mit dem Ziel, das Leben selbst zu erlangen.
Der Talmud (Avoda Zarah 37b) berichtet von der entsetzlichen Hinrichtung von Rabbi Chanina Ben Teradion durch die Römer: "Sie packten ihn, wickelten ihn in eine Torahrolle, stellten Reisigbündel um ihn herum auf und zündeten sie an. Dann brachten sie Wollbüschel herbei, die sie mit Wasser getränkt hatten und auf sein Herz legten, damit er nicht allzu schnell stürbe. Seine Schüler schrien: 'Rabbi, öffne den Mund, damit das Feuer in dich hinein gelange [und deiner Folter ein Ende bereite]'. Er antwortete ihnen: 'Derjenige, der mir meine Seele gab, nimmt sie mir wieder, doch niemand darf sich selber Schaden zufügen'. Da sprach der Henker zu ihm: 'Rabbi, wenn ich die Flamme verstärke und die Wollbüschel von deinem Herzen nehme, kannst du mir das Tor zum Reich der Zukunft öffnen ?'; 'Ja', sagte er. 'Schwöre es mir', [beharrte der Henker]. Er schwor es ihm. Daraufhin verstärkte [der Henker] die Flamme und entfernte die Wollbüschel vom Herzen [des Rabbi Chanina], der bald sein Leben aushauchte. In diesem Moment warf sich der Henker ins Feuer. Und eine himmlische Stimme ertönte: Rabbi Chanina und der Henker sind in das Reich der Zukunft aufgenommen worden."
Rabbiner Mosche Feinstein (Igrot Mosche Yore Deah Bd. II responsa 174c, Choschen Mischpat Bd. II responsa 73) schliesst daraus, dass keine aktive Massnahme zulässig ist, die den Tod des Patienten beschleunigen könnte, selbst wenn dieser grosse Schmerzen leidet. Es ist nicht klar, weshalb Rabbi Chanina dem Henker erlaubte, die Wollbüschel wegzunehmen. Rabbiner Feinstein schlägt als mögliche Erklärung vor, dass ein Nichtjude das Recht besitzt, solche Massnahmen zu ergreifen. Gemäss einer anderen Hypothese handelt es sich hier um eine aussergewöhnliche Entscheidung, was erklärt, weshalb Rabbi Chanina dem Henker schwören musste, er werde ins Reich der Zukunft aufgenommen.
Daraus folgt, dass die willkürliche Herbeiführung des Todes des Patienten verboten ist. Darüber hinaus wird in der Halacha die Natur einer Tat nicht nur vom Motiv oder von der Absicht der Handlung bestimmt, sondern auch von der Wahrscheinlichkeit ihres Ausgangs. Im Fall eines feststehenden Ausgangs (der juristische Begriff des Talmud ist "Pesik Reischa"), wird die Tat als absichtlich angesehen, selbst wenn diese Absicht zu Beginn nicht bestand. Auch wenn also ein Arzt den Tod eines Patienten nicht schneller herbeiführen, sondern nur seine Schmerzen lindern möchte, bleibt die Verabreichung eines Beruhigungsmittels in gefährlichen Dosen verboten, wenn die Wahrscheinlichkeit, seinen Tod zu beschleunigen, sehr hoch ist (fast feststehender Ausgang). Ist diese Wahrscheinlichkeit hingegen eher sehr gering (unbestimmter Ausgang), ist eine solche Tat gestattet, vor allem wenn die Linderung der Schmerzen des Patienten seinen allgemeinen Zustand verbessern und sein Leben verlängern könnte - in diesem Fall handelt es sich um einen heilenden Eingriff.
Das Lindern der Schmerzen bei einem Kranken ist eine Tat des äussersten Mitgefühls und die oberste Pflicht eines Arztes. Die Verabreichung von Medikamenten jedoch in Mengen, die mit Sicherheit den Tod des Patienten schneller herbeiführen würden, ist verboten.

* Rabbiner Shabtaï A. Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-mail-Adresse: shrap@mofet.macam98.ac.il.

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