"Körperliche und sexuelle Gewalt, Pädophilie, Brutalität und Zwangausübung in der Ehe, Drogen, Banden..." sind Begriffe, die niemand im direkten Zusammenhang mit den Kreisen gläubiger oder orthodoxer Juden erwartet. Wie gross war nicht mein Erstaunen, als eine Freundin mir mitteilte, es gebe in Israel eine Notanlaufstelle für gläubige und orthodoxe Jüdinnen in Krisensituationen ! Ich nahm sofort mit der Verantwortlichen dieser Organisation, dem "CRISIS CENTER FOR RELIGIOUS WOMEN", Kontakt auf, und da Diskretion eines ihrer Hauptanliegen ist, wurde mir ein Termin in der anonymen Halle eines grossen Hotels gegeben. Hier traf ich DEBBIE GROSS, die mir eine abstossend dreckige Welt zeigte, wie ich sie mir nicht hätte träumen lassen, in der aber die Solidarität unter Frauen eine Quelle der Hoffnung und der Erleichterung darstellt.
Wie und weshalb wurde das "Crisis Center for Religious Women" gegründet ?
1992 erfuhr eine Gruppe von gläubigen Frauen, dass Kinder aus der orthodoxen Gemeinschaft eine Reihe von sexuellen Misshandlungen erlitten hatten. Diese Frauen mussten feststellen, dass die Mütter der belästigten Kinder sich nie hilfesuchend an entsprechende öffentliche Stellen wenden, da diese nicht unter der Aufsicht eines Rabbiners stehen. Dasselbe trifft auf die Personen zu, die der sogenannten "nationalreligiösen" Gesellschaft angehören und auch keine Unterstützung in öffentlichen Zentren suchen, da sie davon ausgehen, dass nichtgläubige Frauen sie nicht verstehen können. Aufgrund dieser Tatsachen entstand die Idee, eine Anlaufstelle für gläubige Frauen in Not zu gründen, um für alle Probleme, nicht nur im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch, denen sie gegenüberstehen können, eine Lösung zu finden.
Wie sind Sie vorgegangen ?
Wir haben damit begonnen, innerhalb der orthodoxen Gemeinde darüber zu informieren, dass ein solches Zentrum geschaffen werden sollte und dass wir auf der Suche nach Freiwilligen seien, die für uns tätig sein wollten. Wir wählten zwölf Frauen aus, die wir dazu ausbildeten, unser Nottelefon zu bedienen. Ich habe diese Kurse persönlich gegeben, da ich eine Ausbildung als Psychologin besitze und während fünf Jahren als freiwillige Mitarbeiterin im Krisenzentrum für Vergewaltigung in Jerusalem tätig gewesen war. Nach der Ausbildung unserer freiwilligen Helferinnen nahmen wir Kontakt mit den orthodoxen Rabbinern auf, um ihre Unterstützung und Bewilligung für die Eröffnung eines Notzentrums für gläubige Frauen in Krisensituationen zu erhalten. Kein einziger Rabbiner hat sich, unabhängig vom Grad seiner Orthodoxie, gegen unser Projekt ausgesprochen, wobei als einzige Bedingung ein diskretes Vorgehen gefordert wurde. Unser Informationsblatt ist übrigens völlig neutral gehalten und verwendet nur untendenziöse Formulierungen wie "Das Zentrum wurde gegründet, um gläubigen oder orthodoxen Frauen in Krisenzeiten zu helfen und sie zu beraten...", oder "Ziel des Zentrums ist es, jeder Frau ihr Selbstvertrauen zurückzugeben und sie zu befähigen, richtig zu reagieren und mit ihrer Situation fertigzuwerden..." usw. Begriffe wie "Brutalität" oder "Vergewaltigung" werden nie gebraucht. In orthodoxen Kreisen ist die Terminologie sehr eigen, nie würden wir von "geschlagenen Frauen", jedoch höchstens vom "Familienfrieden" (shalom bayit) sprechen. Zur Lösung der praktischen Probleme hat uns das Spital Shaare Tsedek kostenlos einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem wir unsere Telefonzentrale eingerichtet haben. Wir haben uns bewusst für die Arbeit in einer Krankenhausumgebung entschieden, und Shaare Tsedek ist bei den Orthodoxen nicht nur bekannt, sondern wird auch respektiert. Bis heute beschäftigen wir 150 freiwillige Mitarbeiter, die mehrsprachig sind und von denen 80 sozusagen ganztags arbeiten. Wir haben unsere Tore im Januar 1993 geöffnet, und seither haben sich über 3000 Frauen an uns gewendet.
Wie haben Sie in diesen sehr geschlossenen Kreisen auf sich aufmerksam gemacht ?
Wir haben Visitenkarten drucken lassen, die wir an Orten hinterlegt haben, die von Frauen häufig aufgesucht werden, wie z.B. im rituellen Bad, in Synagogen, Krankenhäusern, Wartezimmern von Ärzten usw. Unsere Mitarbeiterinnen haben sich dann an die Telefone gesetzt und auf die ersten Anrufe gewartet, die auch bald eintrafen. Wir werden mit sehr unterschiedlichen Fragen konfrontiert: postnatale Depression, misshandelte Frauen, Vergewaltigung, Pädophilie, Kindererziehung, Entdecken eines Knotens in der Brust, kurz, mit allen Problemen, mit denen eine Frau fertigwerden muss. In orthodoxen und gläubigen Kreisen haben die Leute grosse Angst davor, dass die Nachbarn davon erfahren könnten, was bei ihnen passiert. Das Geheimnis ist sehr verbreitet, denn jeder öffentlich bekannte Makel befleckt den Ruf der Familie und vernichtet auf immer die Aussicht, jemanden aus diesem Milieu zu heiraten. Aus genau diesem Grund erdulden viele Frauen ihr Schicksal und ihr Leid, ohne nach Hilfe zu suchen. Dank unserem Zentrum können sie bei uns anrufen und dennoch anonym bleiben. Ausserdem haben wir es so eingerichtet, dass eine Frau, die uns anruft, immer dieselbe Gesprächspartnerin erhält, die ihrerseits unter einem Pseudonym arbeitet. Dies ist unerlässlich, damit unsere freiwilligen Mitarbeiterinnen ihr Privatleben schützen können, keine Anrufe zu Hause erhalten und vor allem vor rachsüchtigen Ehemännern sicher sind.
Was bieten Sie ausser der telefonischen Hilfe an ?
Wir besitzen eigentlich drei Programme. Das erste, die telefonische Unterstützung, ist vollständig anonym. Wir begegnen unseren Schützlingen fast nie, obwohl wir in bestimmten Fällen Treffen an öffentlichen und neutralen Orten veranstalten, die im allgemeinen jungen Mädchen unter 18 Jahren vorbehalten sind. Wenn beispielsweise eine Fünfzehnjährige von einem Familienmitglied vergewaltigt wurde und sie darüber nicht mit ihren Eltern sprechen will, kümmern wir uns um sie. Unsere Telefonlinie ist zwischen 8.00 und 22.00 Uhr geöffnet. Nach 22 Uhr gibt ein Beantworter die Nummer eines Piepers an, und eine Mitarbeiterin ruft in den Minuten nach dem Eintreffen des Notrufs zu jeder Tages- oder Nachtzeit das Opfer zurück. Unser Ziel ist es zu helfen, und zu diesem Zweck hören wir den Frauen zu, wir versuchen zu verstehen, unter welchen Bedingungen sie ihr Leben weiterführen möchten. Wenn sie professionelle Hilfe benötigen, schicken wir sie zu einem Spezialisten (Arzt, Psychologe, Anwalt usw.), mit dem wir ständig in Kontakt stehen. Die Umstände sind nie nur schwarz oder weiss, wir müssen uns von Fall zu Fall anpassen. Man muss sich im klaren sein, dass unsere Mitarbeiterinnen in Krisensituationen eingreifen, jedoch keine Therapie anbieten können. Unser zweites Programm ist ebenso optimistisch wie ehrgeizig und hat ein erzieherisches Ziel. Wir glauben daran, dass wir über die Information eine Reihe von Tragödien verhindern können. In unseren Ausbildungsseminaren wenden wir uns an alle Altersgruppen bereits ab drei Jahren. Dabei handelt es sich um eine Neuheit innerhalb der orthodoxen Gemeinschaft, denn wir bringen den Kindern das Nein-Sagen bei und sprechen über die Tatsache, dass nicht jeder Mensch, der sie berührt, dies mit einer guten Absicht tut. Dabei erwähnen wir niemals den Körper oder den sexuellen Missbrauch. Die Kinder lernen, dass es ein Gebot G'ttes ist, sich zu schützen, und dass nicht alle Menschen ihre bösen Instinkte ("yetzer harah") kontrollieren können. Wir bieten auch Kurse für junge Mädchen der nationalreligiösen Gemeinschaft an, die im Gegensatz zu denjenigen aus orthodoxen Kreisen mit Jungen ausgehen dürfen. Wir lehren sie, welche Vorsichtsmassnahmen sie treffen können, um anlässlich eines Rendezvous nicht vergewaltigt zu werden, dass sie sich im Zweifelsfall nie von dem Jungen allein nach Hause begleiten lassen sollen usw. Wir bringen ihnen ebenfalls bei, einen potentiell gewalttätigen Mann zu erkennen, der sich als Ehemann entpuppen könnte, der seine Frau schlägt. Wir haben eine Liste mit 22 eindeutigen Anzeichen erstellt, und wenn ein Ehekandidat sieben oder acht davon aufweist, raten wir den Mädchen, sich die Fortsetzung dieser Beziehung sehr gut zu überlegen. In zahlreichen Fällen kann die Gewalttätigkeit eines Mannes vor der Hochzeit aufgedeckt werden. Unsere Informationsveranstaltungen für Mütter beziehen sich insbesondere auf die Frage, wie ihre Kinder gewarnt werden können, was zu tun ist, wenn ein Kind sexuell missbraucht wurde, wenn sie in der Ehe brutalisiert werden, wenn sie ihre Nachbarin in der Nacht schreien hören usw. Die orthodoxen Mädchen lehren wir, welche Fragen sie einem zukünftigen Ehemann zu stellen haben und wie sie ihn beobachten können. Man muss sich auch klar machen, dass viele Frauen sich nicht bewusst sind, dass sie misshandelt werden. Wenn sie beispielsweise von Zeit zu Zeit geohrfeigt werden, denken sie ganz einfach, ihr Mann habe "ausnahmsweise" die Geduld verloren, was nicht wirklich schlimm sei. Bei uns lernen sie, dass niemand das Recht besitzt, die Hand gegen sie zu erheben oder sie zu erniedrigen, auch wenn dies nur ein einziges Mal geschieht. Sollte dies einmal passieren, müssen sie unverzüglich um Hilfe bitten. Wir informieren auch die Mütter, deren Töchter sich darüber beklagen, geschlagen zu werden. Wir sagen ihnen, wie sie mit ihnen reden sollen und vor allem wie sie sie dazu bringen Hilfe zu suchen. Wir raten allen Familienmitgliedern, die über eine Misshandlung ihrer Angehörigen Bescheid wissen, sofort mit uns Kontakt aufzunehmen. Unser drittes Programm besteht aus der konkreten Hilfestellung (finanzieller Art, Unterkünfte usw.), die wir ab und zu in verzweifelten Situationen leisten.
Sind Unterschiede zwischen den aschkenasischen und sephardischen Gemeinschaften festzustellen?
Die Gewalt ist überall, der einzige Unterschied besteht im Zeitpunkt, da eine Frau sich als misshandelt betrachtet. Handelt es sich um die erste Ohrfeige, die psychologische Isolation oder um schwerwiegende körperliche Misshandlung ? In der äthiopischen Gemeinschaft wird allgemein akzeptiert, dass der Ehemann seine Frau schlagen darf. Wir unternehmen bedeutende erzieherische Anstrengungen, um diese stillschweigend hingenommene traurige Tatsache zu bekämpfen.
Was hält die Welt der Rabbiner von Ihrer Tätigkeit ?
Wir haben, wie ich bereits erwähnte, den "Segen" aller orthodoxen Rabbiner erhalten. Es ist klar, dass dies eine grundlegende Veränderung in dieser Gemeinschaft verkörpert. Noch vor zehn Jahren besass eine Organisation wie die unsrige keine Chance akzeptiert zu werden. Die Rabbiner haben verstanden, dass es sich um schwerwiegende Probleme handelt und dass wir dabei eine positive Rolle spielen können. Wir fungieren oft als Vermittler zwischen den Frauen, welche das Opfer mancherlei Aggressionen sind, und den orthodoxen Rabbinern. Dadurch wird oft verhindert, dass die Frauen, die im Sinne der "Halacha" (die jüdische Gesetzgebung) zu handeln glauben, sich aus Unwissenheit Einschränkungen auferlegen und sinnlos leiden, obwohl ein einfacher rabbinischer Rat sie erleichtern könnte, ohne dass sie die Anonymität aufgeben müssen. Zur Veranschaulichung meiner Worte möchte ich das Beispiel eines jungen dreizehnjährigen Mädchens anführen, das von einem Mitglied ihrer Familie vergewaltigt worden war und schwanger wurde. Wir haben mit einem Rabbiner Kontakt aufgenommen, der von der gesamten orthodoxen Welt anerkannt wird und uns seine Zustimmung gab, bei diesem Mädchen eine Abtreibung durchzuführen. Wir haben diesen Eingriff völlig legal bei einem ausgezeichneten Arzt durchführen lassen, der im Norden Israels in einer Region praktiziert, wo niemand das junge Mädchen oder seine Familie kennt. In einigen Jahren wird sie heiraten können, ohne dass ihre Familie unter den Folgen dieser Tragödie zu leiden hat. Wir veranstalten auch Kurse und Konferenzen für die Rabbiner und ihre Frauen, in denen wir ihnen erklären, wie sie in Krisenfällen eingreifen und vor allem Druck auf die Ehemänner ausüben können, die ihre Frauen schlagen, damit sie einer Behandlung zustimmen.
Mit welchen Problemen haben sie neben der Gewalt in der Familie vor allem zu kämpfen ?
Man muss sich bewusst sein, dass in der gläubigen Gemeinschaft ein ernsthaftes Drogenproblem existiert. Dafür gibt es vielfältige Gründe, und in den meisten Fällen konsumieren die Jugendlichen Marihuana oder Kokain, da beide Drogen in Jerusalem sehr leicht aufzutreiben sind. Die orthodoxe Welt ist absolut nicht darauf vorbereitet, mit dieser Problematik fertigzuwerden. Wir werden ein neues Ausbildungsprogramm für Eltern und Erzieher anbieten, damit sie den Umgang mit diesen Fragen lernen. Nicht selten stehen Jugendliche (Jungen und Mädchen) auf der Strasse, nachdem ihr Vater sie infolge sexueller Probleme vor die Tür gesetzt hat. Sie werden dann Mitglied einer religiösen Jugendbande und versinken in Prostitution, Drogen usw.
Wie finanzieren Sie sich ?
Wir haben ein recht kleines und bescheidenes Budget. Wir müssen dem Shaare Tsedek keine Miete zahlen, und ausser mir erhält niemand einen Lohn, da unsere gesamte Tätigkeit auf der freiwilligen Mitarbeit beruht. Ich habe meine Arbeit in einem Spital aufgegeben, um mich ganztags der Organisation widmen zu können, was im Klartext bedeutet, dass ich mich um alle unangenehmen Aufgaben kümmern muss, welche die Freiwilligen nicht übernehmen wollen. Wir erhalten Unterstützung von verschiedenen Stiftungen und Privatspenden, wir sammeln regelmässig Geld (Fund Raising) usw.
Sie werden eigentlich mit allen schwerwiegenden Problemen konfrontiert, die im Verlauf eines Lebens auftreten können. Können Sie sie anteilsmässig aufteilen ?
Das ist recht einfach: 50% der Anrufe, die wir erhalten, betreffen die Gewalt in der Familie oder Eheprobleme aller Art; 20% betreffen den sexuellen Missbrauch von Kindern, der Rest beinhaltet alle anderen Probleme. Man muss sich vor Augen führen, dass die Pädophilie ein besonders gravierendes Problem darstellt, denn die orthodoxe Gemeinschaft ist aufgrund des in dieser Gesellschaft krampfhaft gewahrten Geheimnisses nicht bereit, sich dieser Frage zu stellen. Dazu möchte ich erzählen, dass vor der Gründung unserer Organisation z.B. eine Mutter, deren kleines sechsjähriges Mädchen vom Vater vergewaltigt wurde, es nie gewagt hätte, sie medizinisch oder psychologisch betreuen zu lassen: sie tat, was "das Beste für ihre Tochter" war, damit sie zwölf Jahre später ohne Schwierigkeiten heiraten konnte, da das "Geheimnis" gewahrt worden war. Heute kann diese Frau uns anrufen, mit uns über das Geschehene sprechen und entscheiden, ob die Polizei darüber informiert werden soll; wir können sie an einen auf dieses Problem bei Kindern spezialisierten Gynäkologen verweisen, der in einem anderen Landesteil praktiziert usw. Das "Geheimnis" bleibt weiterhin unangetastet, aber das Kind wird nicht mehr geopfert.
Abschliessend kann ich sagen, dass wir dank unserer täglichen Arbeit ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielen, indem wir mit Geduld eine allmähliche Veränderung der Mentalität in einer verschlossenen und wenig progressiven Welt herbeiführen.
Wir legen Ihnen sehr ans Herz, diese Organisation zu unterstützen. Sie können Ihre Spenden an folgende Adresse richten:
CRISIS CENTER FOR RELIGIOUS WOMEN
First International Bank of Israel
Branch Kiryat Moshe Nr.114
JERUSALEM /Israel
Konto-Nr. 409 18 32 61
Wenn Sie Ihren Bekannten die Nummer des Nottelefons mitteilen möchten:
(02) 655 57 44/5
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