Editorial - Herbst 1998
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Rosch Haschanah 5759
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Ethik und Judentum
• Schmerzen lindern - Mit welchem Risiko ?
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Rosch Haschanah, das Fest, das im allgemeinen als das "jüdische Neujahr" bezeichnet wird, bedeutet im Grunde viel mehr als nur den Zeitabschnitt des Jahreswechsels. Es geht darum, sich von Grund auf in Frage zu stellen und sein Gewissen tiefgreifend zu überprüfen. Während dieser Zeitspanne wird unser Schicksal im kommenden Jahr und dasjenige jeden Staates vom Ewigen bestimmt. Um diese besondere Phase im jüdischen Kalender gründlicher zu verstehen, haben wir in Jerusalem mit ISRAEL MEIR LAU gesprochen, dem aschkenasischen Grossrabbiner von Israel.
Man muss sich darüber im klaren sein, dass die Entwicklung, die vom ersten Tag der "Selichot" (Bittgebete) bis zu Hoschanah Rabbah führt, eine Belastung darstellt, schwierig ist und meist nicht verstanden wird. Die "Selichot" sind oft unbekannt und viele von uns begnügen sich damit, in die Synagoge zu kommen, um das Schofar (Erklingen des Schafshornes) zu hören oder um zu Beginn oder am Schluss der Gottesdienste von Jom Kippur einfach eine kurze Zeit anwesend zu sein. Wäre es nicht einfacher und vielleicht effizienter, den gesamten religiösen Aspekt der "Jamim Noraïm" (ehrfurchtreichen Tage) auf einen einzigen feierlichen Gottesdienst zu konzentrieren und dann "Neujahr zu feiern", wie dies die anderen Völker tun ?
Der Prophet Amos hat Ihre Frage bereits auf meisterhafte Weise beantwortet: "... so bereite dich, Israel, und begegne deinem G'tt." (IV - 12).
Wie kommt es, dass die Trainer der Finalmannschaften der Fussballweltmeisterschaft dasselbe Gehalt bekamen wie ihre berühmtesten Spieler, z.B. Zidane oder Ronaldo ? Weder der Franzose Aimé Jacquet noch der Brasilianer Zagalo haben Tore geschossen, sie haben den Ball auf dem Feld nicht einmal berührt. Aber sie haben die Mannschaften derart vorbereitet, dass sie bis in das Finalspiel gelangen konnten, indem sie sie auf technischer, taktischer und vor allem psychologischer Ebene trainierten. In gewissem Sinne trugen diese Trainer eine grössere Verantwortung als die Spieler, die sich in der Hitze des Gefechts befanden. Der Mensch ist in Wahrheit in seinen Möglichkeiten sehr eingeschränkt. Er ist nicht dazu geschaffen, rasche und drastische Veränderungen in heftiger Weise zu erleben, weder auf körperlicher noch auf seelischer oder geistiger Ebene. Wenn wir beispielsweise abrupt aus der Dunkelheit ins Licht treten, schliessen wir die Augen und brauchen eine Zeit der Anpassung, umgekehrt ist dies ebenso gültig. In dieser Hinsicht kann interessanterweise festgestellt werden, dass wir G'tt jeden Abend dafür danken, dass er die Nacht nicht auf einen Schlag hereinbrechen, sondern ganz allmählich herannahen lässt. Dies gilt auch für die Feste zum Neujahr. Wenn wir den Übergang von unserem Alltagsleben zu den Feierlichkeiten von Jom Kippur abrupt vornehmen würden, wären wir nicht in der Lage, die Bedeutung und die Tragweite dieses Tages des Urteils zu ermessen oder zu schätzen. Wir müssen uns darauf vorbereiten und aus diesem Grund ist es notwendig, diese erste Phase zu durchlaufen, in der jeder von uns sein eigener "Trainer, sein eigener Jacquet oder Zagalo" ist. Unsere Tradition besagt, dass wir während mindestens einer Woche vor Rosch Haschanah jeden Morgen früh aufstehen und beten, an die zukünftige Welt, die Strafe, die Belohnung und an den Tag des Urteils denken sollten. Wir sollten uns ohne Umschweife eingestehen, dass "wir schuldig sind und uns dem göttlichen Willen widersetzt haben", indem wir "Aschamnu, Bagadnu", usw. sagen. Rufen wir den Ewigen an und flehen wir ihn an uns zu erhören, "Schema Kolenu". Wenn wir uns auf diese Weise vorbereiten, sind wir an den entscheidenden Tagen, nämlich Rosch Haschanah und Jom Kippur, schliesslich in der Lage, diese in höchstem Masse zu nutzen, ihren wahren Wert zu erkennen und unsere Gedanken, unsere Reue und unser Flehen in vollem Bewusstsein der Situation und mit der richtigen geistigen Einstellung an G'tt zu richten. Aus allen diesen Gründen ist es nicht möglich, diese so intensive Zeit in einem einzigen Gottesdienst zu erleben, und sei er noch so feierlich. Man muss sich bewusst sein, dass der Ewige uns liebt und möchte, dass unser Gebet erhört und erfüllt wird und Er uns deswegen die Zeit gibt uns auf den Tag des Urteils vorzubereiten. Er hat uns sogar durch die "Selichot" und den Klang des Schofars, der uns weckt und die tägliche Routine und unser übliches Wohlergehen aufhebt, den Weg angegeben, den wir gehen müssen, um diese Zeit der Überlegung und des Insichgehens zu erreichen.
Auf rein religiöser und geistiger Ebene erscheint diese Vorbereitung, von der Sie sprechen, in der Tat sehr logisch. Wenn es um die praktische Umsetzung geht, wohnen allerdings die meisten Gläubigen den "Selichot"-Gottesdiensten nicht bei, sondern begnügen sich damit, das Erklingen des Schofars zu hören oder an den Gottesdiensten von Kol Nidreï (Eröffnungsgottesdienst von Kippur) oder Neïla (Schlussgottesdienst von Kippur) teilzunehmen. Wie stehen Sie zu dieser Tatsache ?
Wie Sie wissen, nehmen Hunderttausende von Juden überall in der Welt auf die eine oder andere Weise an den Traditionen dieser Feste teil. Darüber hinaus sind die Riten verschieden; die Sepharden beginnen üblicherweise damit, die "Selichot" während der ganzen Nacht sofort zu Beginn des Monats Elul zu sagen, während wir, die Juden europäischer Abstammung, ein wenig "fauler" sind und uns damit begnügen, die "Selichot"-Gottesdienste eine Woche oder einige Tage, gemäss den Gegebenheiten des Kalenders, vor Rosch Haschanah zu lesen. Auf pädagogischer und psychologischer Ebene ist es jedoch von höchster Bedeutung, sich über die Notwendigkeit im klaren zu sein, sich geistig auf das Erleben der so grundlegenden Tage von Rosch Haschanah und Jom Kippur vorzubereiten. Ohne selbstgefällig erscheinen zu wollen muss ich dazu sagen, dass die Statistiken beweisen, dass dort, wo der Beginn des neuen Jahres nur auf materielle Art gefeiert wird, die darauffolgenden Tage auf schreckliche Weise durch Verkehrsunfälle infolge von Alkoholmissbrauch überschattet werden, was bei uns nicht der Fall ist.
Nach jüdischem Glauben verkörpert Rosch Haschanah den Geburtstag der gesamten Menschheit. Dabei muss man sich bewusst sein, dass ein Geburtstag nicht nur "gefeiert oder begossen" werden soll, sondern dass eine Gewissensprüfung betreffend die Vergangenheit durchgeführt und eine Reihe von verantwortungsbewussten Verpflichtungen für die Zukunft eingegangen werden müssen.
Wie ich bereits sagte, ist es sehr wichtig, sich auf diese "ehrfurchtreichen Tage" von Rosch Haschanah und Jom Kippur richtig vorzubereiten. Die "Teschuwah", die Reue, muss tief und aufrichtig sein. Es ist selbstverständlich ausgeschlossen mit dem Gedanken zu sündigen: "Ich kann jetzt so handeln, da ich es an Jom Kippur bereuen werde." Meiner Ansicht nach ist es besser, dass jemand nur einmal pro Jahr in die Synagoge kommt, selbst wenn es nur eine kurze Zeit ist, als überhaupt nicht zu erscheinen. Für mich ist das keine Heuchelei, ganz im Gegenteil. Es beweist, dass im Herzen eines jeden Juden noch eine kleine jüdische Flamme brennt, auch wenn er meilenweit von der Torah und der religiösen Praxis ("Mitswoth") entfernt ist. Dieser Bezug, dieser Kontakt, der nur einmal jährlich durch die Präsenz in der Synagoge für Kol Nidreï oder das Gebet zur Erinnerung an die Verstorbenen ("Yiskor") zum Ausdruck kommt, besitzt für mich enormen Wert. Zu dieser Frage lehrt uns der Zohar übrigens folgendes: "G'tt sagte zu den Menschen: Gewährt mir in eurem Herzen eine Öffnung gross wie ein Nadelöhr und ich werde euch die Tore eines Palastes öffnen." Mit anderen Worten : "Tut den ersten Schritt". Ein Besuch der Synagoge, oft begleitet von der Sehnsucht nach dem Haus der Eltern oder der Grosseltern, sei es nur einmal im Jahr, stellt eben diese Öffnung gross wie "ein Nadelöhr" dar. Dies reicht natürlich nicht aus, aber es ist bereits etwas Positives.
Sie sagen, dass die Reue und die Gewissensprüfung tief und aufrichtig sein müssen. Gemäss der jüdischen Tradition bestimmt der Ewige unser Schicksal an Jom Kippur, doch Er heisst die letzte Bestätigung Seiner Entscheidungen für uns erst am Tag von Hoschanah Rabbah (Tag vor Schemini Atzeret und Simchat Torah) gut. Können Sie uns in einigen Worten erklären, wodurch sich die Zeit zwischen Rosch Haschanah und Jom Kippur (die Tage der Reue) und diejenige zwischen Jom Kippur und Hoschanah Rabbah grundlegend voneinander unterscheiden ?
Während den zehn Busstagen wenden wir uns in Furcht an G'tt, während wir nach Jom Kippur und bis Hoschanah Rabbah in einem Gefühl der Freude zu G'tt beten. Dies wird uns am Abend von Kol Nidreï deutlich gemacht, an dem wir sagen: "Das Licht erstrahlt auf den Gerechten ..." (Bezug auf die Tatsache, dass wir bis zum Ende von Jom Kippur vom göttlichen Licht geprüft werden), "... und für diejenigen, die ein aufrichtiges Herz besitzen, wird Freude herrschen." Es sind zwei ganz verschiedene Arten, uns an den Ewigen zu wenden: zuerst in Furcht, dann in Freude !
Denken Sie, dass Rosch Haschanah im Jahr des fünfzigjährigen Bestehens des jüdischen Staates von besonderer Bedeutung ist ?
Im 25. Kapitel des Levitikus spricht die Torah vom biblischen Erlassjahr: "Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen im Lande für alle, die darin wohnen ; es soll ein Erlassjahr für euch sein. Da soll ein jeder bei euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Familie kommen." Ich möchte diesen Satz aus der Bibel auslegen. Ich denke, dass es sich heute um einen Appell an die Juden der Diaspora handelt, damit sie zu "ihrer Habe kommen", mit anderen Worten, dass sie zu uns nach Israel kommen. Doch der Schluss des Satzes, jeder solle "zu seiner Familie kommen", wendet sich an das gesamte jüdische Volk. Der Begriff "Familie" symbolisiert heute die Rückkehr zu unseren Wurzeln und zu unseren grundlegenden Werten. Wenn man das Wort Israel Buchstabe für Buchstabe analysiert, kommt man zu folgendem Schluss: Das "Yod" bedeutet Yitzchak und Yaakov; das "Sin" Sarah; das "Resch" Riwkah und Rachel; das "Aleph" Awraham und das "Lamed" Leah. Das Wort Israel, der Name unseres Landes, unserer Nation, unseres Volkes und unseres Staates beinhaltet die Initialen derjenigen, welche die Grundlagen des Judentums gelegt haben, unsere drei Vorväter und unsere vier Mütter.
Ich denke, dass in diesem Jahr des fünfzigjährigen Bestehens von Israel die Rückkehr ins Land und zu den Wurzeln diesem besonderen Jahr eine tiefere Bedeutung verleihen. Vergessen wir nicht, dass es uns in fünfzig Jahren der jüdischen Unabhängigkeit gelungen ist, die Bevölkerung trotz aller erlittenen Kriege von 600'000 auf über 5 Millionen Juden aus aller Welt zu erhöhen. Die Welt der jüdischen Gelehrsamkeit stand seit der Zeit von Chiskiahu, dem König von Judäa, noch nie in so schöner Blüte und wies noch nie einen so schillernden geistigen Reichtum auf, ganz zu schweigen von unseren wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften oder von unserer beeindruckenden Armee. Bemerkenswert sind jedoch in erster Linie unsere sozialen Erfolge. Trotz aller Schwierigkeiten darf man nicht vergessen, dass die meisten Einwanderer fast mittellos in Israel eintrafen. Wie haben sie ernährt, wir haben ihnen Unterkünfte, Kleider und Arbeit verschafft. Doch zum ersten Mal in der Geschichte hat eine Flut von Frauen und Männern schwarzer Hautfarbe Afrika verlassen und sind nicht zu Sklaven, sondern zu freien und würdigen Menschen geworden. Dieses Phänomen ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit !
In diesem Zusammenhang denke ich, dass der Appell des biblischen Erlassjahres seine ganze Bedeutung und Tragweite erlangt, insbesondere in diesem Jahr des fünfzigjährigen Bestehens unseres Staates.
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