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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Frühling 1995 - Pessach 5755

Editorial - April 1995
    • Editorial

Pessach 5755
    • So einfach wie die Teilung des Roten Meeres

Interview
    • Die Abkommen von Oslo - Nichts als leere Worte
    • Den Hass bekämpfen

Politik
    • Die Kunst des Nullfortschritts

Analyse
    • Schürung des Judenhasses durch die arabische Presse
    • Wem gehört das Land ?

Judäa - Samaria - Gaza
    • Weder Frieden noch Sicherheit !

Kunst und Kultur
    • Prag - Eine lange jüdische Vergangenheit
    • Alice Halicka (1894-1975)
    • Wiederentdeckung des jüdischen Lvov
    • Ribak - Spiritualität und Künstlertum

Reportage
    • Beit Haschoah - Museum of Tolerance

Erziehung
    • Sich selbst sein

Ethik und Judentum
    • Das Schicksal der befruchteten Eizelle ?

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Das Schicksal der befruchteten Eizelle ?

Von Rabbiner Shabtai A. Rappoport *
In der vorangehenden Ausgabe haben wir den Fall K. und H. besprochen, die mit ca. dreissig geheiratet und mehrere Jahre lang vergeblich versucht hatten, ein Kind zu bekommen. Als bei H. im Alter von vierzig Jahren anlässlich einer medizinischen Untersuchung Gebärmutterkrebs festtgestellt wurde, musste sie sich einer Hysterektomie unterziehen. Von diesem Zeitpunkt an war jede Hoffnung auf ein eigenes Kind sinnlos geworden.
Man erklärte dem Paar, dass man den Eierstöcken von H. Eizellen entnehmen und danach in vitro mit den Samen ihres Ehemannes K. befruchten könne. Eine oder mehrere Zygoten (zur Erhöhung der Erfolgsaussichten) würden hinterher in den Uterus einer Leihmutter eingepflanzt, welche das genetische Kind von H. und K. austragen und zur Welt bringen würde, damit letztere es dann aufziehen könnten. Für H. war dies die einzige Möglichkeit, ihren Wunsch nach Mutterschaft zu erfüllen. H. und K. beschlossen, es auf diesem Weg zu versuchen. Sie wurden sich aber sehr schnell bewusst, dass dies gar nicht so einfach war: die staatliche Krankenversicherung übernimmt die (extrem hohen) Kosten einer In-vitro-Fertilisation nur in zwei bestimmten Fällen: wenn die befruchtete Eizelle in den Uterus der genetischen Mutter eingepflanzt wird, oder wenn eine Spenderin einer anderen Frau, deren Eierstöcke nicht regelmässig Eizellen produzieren, eine Eizelle überlässt, wobei im letztgenannten Fall die Frau, die das Kind austrägt, es letztlich auch behält und aufzieht. Da der Staat den Einsatz einer Leihmutter nicht gestattet, übernimmt er auch nicht die Kosten der Behandlung. K. und H. gaben sich jedoch nicht geschlagen und versuchten die Öffentlichkeit auf ihr Problem aufmerksam zu machen, indem sie die Sympathie für eine Frau zu erheischen suchten, die keine andere Möglichkeit mehr besass ihr eigenes Kind aufzuziehen. Ihre Aktion war von Erfolg gekrönt und der Staat gab schliesslich nach. Im Verlauf des folgenden Jahres musste H. eine Reihe von unangenehmen chirurgischen Eingriffen über sich ergehen lassen, bei denen ihren Eierstöcken Eizellen entnommen wurden. Nach der Befruchtung mit den Samen von K. konnten die Eizellen nun in den Uterus einer Frau eingesetzt werden, welche die Rolle der Leihmutter übernehmen würde.
In diesem Moment änderte K. seine Meinung. Im Verlauf desselben Jahres hatte er sich in eine andere Frau verliebt, war mit ihr zusammengezogen und hatte sogar ein Kind mit ihr gezeugt. K. erklärte also H. gegenüber, er wolle kein Kind mehr mit ihr haben, obwohl sie noch miteinander verheiratet waren. Er verlangte sogar vom Krankenhaus, in dem die befruchteten Eizellen aufbewahrt wurden, diese zu vernichten, mit dem Argument, ein Mann könne nicht zur Zeugung eines Kindes gezwungen werden, wenn er dieses Kind gar nicht wolle. H. hingegen war der Ansicht, diese gemeinsam getroffene Entscheidung könne nicht mehr rückgängig gemacht werden, vor allem angesichts des von ihr erduldeten langwierigen und schmerzhaften Verfahrens zur Entnahme von Eizellen und der darauffolgenden Befruchtung. Dem ersten Anschein nach schien K. im Recht zu sein. Da tiefe Gefühle für H. nicht mehr vorhanden waren, konnte er nur schwerlich als durch seine ursprüngliche Zustimmung zum Leihmutterverfahren vertraglich gebunden betrachtet werden. Wie John Berger eines Tages schrieb: Das Mitleid hat keinen Platz in der natürlichen Weltordnung, die von den Gesetzen der Notwendigkeit regiert wird. Das Mitleid widerspricht dieser Ordnung und muss daher als irgendwie über-natürlich angesehen werden.
Untersuchen wir den Fall anhand dreier wichtiger Grundsätze.
Der erste bezieht sich auf die Tatsache, dass für das Aussprechen der Scheidung nach jüdischem Recht die ausdrückliche Zustimmung des Ehemannes notwendig ist. In seiner Einführung in die Scheidungsgesetze erklärt Maimonides, es handle sich hierbei um eine spezifische biblische Bedingung. Die Torah beschreibt eine zur Scheidung führende Situation, indem sie folgendes festlegt: Wenn er (der Ehemann) sie (die Ehefrau) nicht angenehm findet (Deut. XXIV,4). Dies bedeutet, dass die Scheidung nur dann wirksam wird, wenn der Ehemann seine Gattin aus eigenem Willen verstösst. Die für eine Scheidung geforderte Willensbezeugung unterscheidet sich von der Zustimmung, die für jede andere juristische Handlung verlangt wird und auch passiv erfolgen oder von den Umständen auferlegt werden kann, auf die das Individuum keinen Einfluss besitzt. So kann es vorkommen, dass eine Person infolge von Schulden oder materieller Not dem Verkauf ihres Grundstücks zustimmt, wobei dieser Handel gültig ist, auch wenn der Grundstückbesitzer nicht wirklich damit einverstanden war. Eine Scheidung wäre unter ähnlichen Umständen nicht gültig, da der Mann die Trennung von seiner Frau wirklich wünschen muss, wie dies am Beispiel der Torah gezeigt wird.
Bei der Frage, ob ein Mann unter gewöhnlichen Umständen zur Scheidung gezwungen werden kann, gehen die Meinungen zweier grosser Halacha-Gelehrter auseinander: Rabbenu Tam (Rabbi Yacov ben Meir, Enkel von Raschi, der zu Beginn des 12. Jahrhunderts in Frankreich lebte) sagt das Gegenteil von Maimonides. Die von späteren Autoritäten festgehaltenen juristischen Entscheidungen folgen der Ansicht Rabbenu Tams und besagen, das Gericht zwinge den Mann nur unter sehr speziellen Umständen zur Scheidung. Insbesondere im Fall unheilbarer, ansteckender Krankheiten oder in ähnlichen Fällen, in denen keine Frau verpflichtet werden kann, das Leben ihres Mannes zu teilen. Diese Situationen werden in der Mischna Ketubot, Kap. 7,10 beschrieben und im Schulchan Aruch Even Haezer, Sektion 154, Abs.1.
Zweitens muss untersucht werden, unter welchen Umständen die oben genannte Regel zur Anwendung gelangt. Rabbi Yitzhak Bar Scheschet, eine berühmte Halacha-Koryphäer des 14. Jhds. (er lebte zunächst in Spanien, dann in Algerien), unter dem Namen Rivasch bekannt, beschreibt den Fall eines Ehemannes (Schut Rivasch Resp.127), der seine Frau verlassen hatte, ihr aber die Scheidung verweigerte. Rivasch hält fest, dass der Mann aufgrund dieses Rechtsentscheids nicht zur Scheidung gezwungen werden kann. Er kann hingegen gemäss der Forderung der Halacha zum Zusammenleben mit seiner Frau verpflichtet werden. Beschliesst er die Scheidung hingegen aus eigenem Willen, um nicht mit seiner Frau zusammenleben zu müssen, gilt die Scheidung als vollzogen.
Ein anderer Fall einer erzwungenen Scheidung erwähnt einen Ehemann, der seine Frau nicht schwängern kann. Nach den Worten der Gemara in Yevamot 65b wird das Begehren der Frau, welche das Gericht mit dem Argument anfleht, sie brauche ein Kind, das sie im hohen Alter versorgt, angenommen und die Scheidung dem Ehemann auferlegt. Dieses Urteil wird im Schulchan Aruch Even Haezer, Teil 154, Abs.6 erwähnt. Der Schulchan Aruch betont, dass das Gericht davon überzeugt sein muss, dass die betreffende Frau seines Mitgefühls würdig ist und nicht aus anderen Beweggründen handelt (z.B. aus plötzlicher Neigung für einen anderen Mann).
Da dieser Fall einer erzwungenen Scheidung in der Mischna Ketubot, in der die einzigen, zum Scheidungszwang führenden Situationen aufgezählt sind, nicht erwähnt wird, lässt sich daraus schliessen, dass der Gedankengang demjenigen von Rivasch entspricht. Es wird vom Ehemann erwartet, dass er seine Frau schwängert. Da er dazu nicht in der Lage ist, kann er nicht zu einer Sache verpflichtet werden, die er nicht vollbringen kann. Um nicht zu einer für ihn unmöglichen Aufgabe gezwungen zu sein, willigt der Mann - aus freien Stücken - in die Scheidung ein. Man kann den Beweis erbringen, dass es durchaus legal ist, von einem Ehemann die Erfüllung gewisser Pflichten zu verlangen, selbst wenn sie für ihn ein Ding der Unmöglichkeit darstellen. Möchte er sich dieser Pflicht entziehen, kann er sich scheiden lassen. Ein Mann, der sein Land verlassen muss, weil sein Leben in Gefahr ist, wird ebenfalls zur Einwilligung in die Scheidung gezwungen; auch dies wird durch das Argument Rivaschs begründet (Schulchan Aruch, ibid.Abs.9 und Kommentar des Gra), obwohl es ihm unmöglich ist, der Forderung der Halacha nachzukommen (bei seiner Frau zu leben). Diese Forderung ist aber durchaus berechtigt, und die einzige Möglichkeit, sich von ihr zu befreien, besteht darin, sich aus eigenem Willen von seiner Frau scheiden zu lassen.
Das dritte grundlegende Prinzip betrifft einen Menschen, der sich einverstanden erklärt hat, eine moralische Pflicht zu erfüllen, die ihm aber nicht auferlegt werden kann. Sobald er diese moralische Verpflichtung - selbst ganz informell - akzeptiert hat, wird sie rechtlich bindend. Hat sich beispielsweise jemand verpflichtet, eine Sache zu verwahren, die ihm ohne Fahrlässigkeit seinerseits gestohlen wird, ist er von jeder Schadenersatzpflicht gegenüber dem Besitzer befreit und muss auch den Dieb nicht stellen. Entschliesst er sich dennoch, sich auf die Suche nach dem Dieb zu machen, weil er sich dazu moralisch verpflichtet fühlt, wird er von diesem Zeitpunkt an als der rechtmässige Vertreter des Besitzers angesehen - als ob er vertraglich zur Erfüllung dieser Aufgabe verpflichtet wäre (Baba Kama 108b).
Kehren wir zum komplexen Fall von H. und K. zurück. Als K. seine Einwilligung gab, H.. bei ihrem berechtigten Wunsch nach einem Kind zu unterstützen, obwohl dieser Wunsch nur über eine Leihmutter verwirklicht werden konnte, war diese Verpflichtung keineswegs bindend. Er konnte als Argument vorbringen, das medizinische Problem sei allein H.'s Sache, er sei nicht verpflichtet, ihr beim Zeugen eines Kindes zu helfen. Der Aufruf um Mitgefühl von H. ist jedoch echt und legitim - wie weiter oben anhand Grundsatz eins und zwei dargelegt wurde -, so dass eine Scheidung als Antwort auf diesen Aufruf durchaus hätte aufgezwungen werden können. K. hatte übrigens persönlich an diesem Aufruf teilgenommen, als er die öffentliche Kampagne zur Druckausübung auf die staatliche Krankenkasse mitmachte.
Als sich K. folglich zu Beginn einverstanden erklärte, H. zu helfen, und damit einer eindeutigen moralischen Verpflichtung nachkam, wurde diese moralische Verpflichtung so bindend wir eine vertragliche Abmachung, wie unser dritter Grundsatz beweist. Gemäss der Halacha darf K. demnach unter keinen Umständen die mit Hilfe einer Leihmutter geplante Schwangerschaft unterbrechen.

* Rabbiner Shabtaï A. Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Neben anderen Arbeiten hat er die beiden letzten Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst.

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