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Inhaltsangabe Erziehung Frühling 1995 - Pessach 5755

Editorial - April 1995
    • Editorial

Pessach 5755
    • So einfach wie die Teilung des Roten Meeres

Interview
    • Die Abkommen von Oslo - Nichts als leere Worte
    • Den Hass bekämpfen

Politik
    • Die Kunst des Nullfortschritts

Analyse
    • Schürung des Judenhasses durch die arabische Presse
    • Wem gehört das Land ?

Judäa - Samaria - Gaza
    • Weder Frieden noch Sicherheit !

Kunst und Kultur
    • Prag - Eine lange jüdische Vergangenheit
    • Alice Halicka (1894-1975)
    • Wiederentdeckung des jüdischen Lvov
    • Ribak - Spiritualität und Künstlertum

Reportage
    • Beit Haschoah - Museum of Tolerance

Erziehung
    • Sich selbst sein

Ethik und Judentum
    • Das Schicksal der befruchteten Eizelle ?

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Sich selbst sein

Von Roland S. Süssmann
"Fähig, aber anders". Mit diesen Worten beschreibt CISSIE CHALKOWSKY die Schüler, die ihr im Rahmen von ULPANA NEWE RUCHAMA, der von ihr in Jerusalem gegründeten und geleiteten Institution, anvertraut werden. Jedes Jahr wird Tausenden von Kindern der Zugang zur Sekundarschule verweigert, weil sie beim Zulassungsexamen ungenügend abgeschnitten haben. Newe Ruchama lehnt diese willkürliche Selektion ab und nimmt diese jungen Leute auf, die anschliessend dank ihren sensationellen pädagogischen Methoden auf der Grundlage der "Neuorganisation des Denkens" und der "experimentellen Bereicherung" hervorragende Resultate erzielen. Die Schule wird gegenwärtig von 200 gläubigen jungen Mädchen besucht, nachdem im vergangenen September erstmals auch eine Sektion mit 80 Jungen gegründet wurde.

Der Hauptgedanke Ihrer Unterrichtsmethode besteht darin, den Jugendlichen nach erlittenen Schulproblemen, welche ihre Selbstachtung stark angeschlagen haben, wieder Selbstvertrauen zu geben. Wie begegnen Sie diesen jungen Leuten und ihren Schwierigkeiten ?

Unsere Aufgabe besteht darin, ein durchschnittlich oder überdurchschnittlich intelligentes Kind zu unterrichten, das in der Schule versagt oder das beim Lernen grosse Probleme bekundet. Ein Kind, das sich nicht perfekt in das normale Schulsystem eingliedert, wird nicht mehr berücksichtigt. Wir haben eine Schule geschaffen, welche auf die individuellen Bedürfnisse eines jeden eingeht, da wir letztendlich diesen jungen Leuten helfen möchten, ihrem Land ihren Möglichkeiten entsprechend zu dienen. Verlangt z.B. das nationale Schulsystem die Maturität für den Zugang zur Universität, müssen wir dem Kind, das im öffentlichen Bildungswesen seinen Platz nicht gefunden hat, die Möglichkeit geben, den seinen intellektuellen Fähigkeiten entsprechenden Bildungsweg fortzusetzen. Es ist undenkbar zu behaupten, "weil dieses Kind anders ist, werde ich ihm einen Lehrplan geben, der mit demjenigen seines Landes nichts gemein hat". Unsere Aufgabe ist es, ihm die Instrumente zur Verfügung zu stellen, dank denen es Erfolg haben kann. In Israel werden die Kinder im Alter von 13 Jahren psychometrischen Tests unterzogen, die über ihre weitere schulische Laufbahn und ihre Begabung für ein akademisches Studium entscheiden.


Wie gehen Sie vor ?

Die Jugendlichen, die zu uns kommen, wurden aus dem nationalen Schulsystem eliminiert. Von der Tatsache ausgehend, dass ein Kind nur sehr wenig Wissen besitzt, testen wir in erster Linie seine Fähigkeiten und sein Potential. In den öffentlichen Schulen muss ein Schüler sowohl auf psychometrischer Ebene als auch in den Fächern Hebräisch, Englisch und Mathematik ein bestimmtes Niveau erreichen. Wir beurteilen seine Kenntnisse in diesen Bereichen nicht mit dem Ziel einer Selektion, sondern um es entsprechend seines tatsächlichen Wissensstandes zu unterrichten. Sobald ein Kind aufgenommen wurde, müssen wir aufgrund seines Potentials die zahlreichen und unterschiedlichen Gründe für sein Versagen im sogenannten "normalen" System bestimmen. Es kann sich um ein Kind handeln, das umringt von aussergewöhnlich intelligenten Geschwistern aufwächst und daher von seiner Familie kaum beachtet wird, oder aber um ein Kind, das beim Lernen ernsthafte Schwierigkeiten oder eine Blockierung entwickelt. In anderen Fällen wagt es ein introvertierter Schüler aus Scham nicht zuzugeben, wenn er etwas nicht gleich bei der ersten Erklärung begreift, und um zusätzliche Erläuterungen zu bitten, während ein weiterer seit dem Kindergarten immer als "niedlich" galt, sich unauffällig verhielt und bestimmt einmal einen "idealen Vater oder eine perfekte Mutter" abgeben würde... Gerade diesen Kindern sollte man mehr Aufmerksamkeit schenken, denn in diesem Alter sollten sie lebhaft und neugierig sein. Sobald wir die jeweiligen Schwierigkeiten umrissen haben, stellen wir ein Programm zusammen, um dem Kind bei der Fortsetzung seiner schulischen Laufbahn innerhalb der normalen Schulstunden oder ausserhalb des Lehrplans zu helfen. In allen unseren Klassen geben wir insgesamt 240 rein schulische Unterrichtsstunden pro Woche und bieten daneben 300 Privatstunden mit ganz anderen Lehrern an, um den Schülern beim Lernen und Verstehen im Hinblick auf einen erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung zu helfen. Die einen besuchen Psychotherapien, erhalten eine orthophonische oder eine physiotherapeutische Behandlung. Man muss sich darüber im klaren sein, dass diese Jugendlichen eine Niederlage nach der anderen einstecken mussten, bevor sie zu uns kamen. In einer Klasse befinden sich im Schnitt 26 Schüler, von denen aber regelmässig 6 bis 7 abwesend sind, um Spezialkurse zu besuchen. Vergessen wir nicht, dass auch die übrigen Kinder, welche den grössten Teil der Klasse ausmachen, selbst Schulversager sind, und dass der gesamte Unterricht auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten wurde. Unsere Aufgabe ist alles andere als einfach: diese Jugendlichen müssen alle Versäumnisse aus ihrer Primarschulzeit aufholen und gleichzeitig darauf vorbereitet werden, dass sie mit 16 Jahren in die Phase der Maturvorbereitung eintreten können. Um dieses Ziel zu erreichen braucht es mehr, als nur das Eintrichtern von Lehrstoff; es muss vielmehr der Charakter eines Jugendlichen geformt, manchmal gar seine Persönlichkeit neu aufgebaut werden, weil er sein Selbstvertrauen teilweise oder ganz verloren hat. Wir lehren sie zu denken und den Lehrstoff in einer Weise zu verarbeiten, die ihrer Denkstruktur entspricht. Wenn wir ihnen Hausaufgaben auftragen, vermitteln wir ihnen auch die entsprechende Methode. Als religiöse Schule findet der Unterricht in den jüdischen Fächern auf einem sehr hohen Niveau statt und verkörpert ein sehr positives Element unserer Arbeit.


Wie stellen sich die Familien zu Ihrer Art des Unterrichts und des Umgangs mit den Kindern ?

Wir arbeiten mit dem berühmten Psychologen Dr. Stuart Chesner zusammen, der im Rahmen der Schule ein Programm durchführt, an dem Schüler, Eltern und Lehrer teilnehmen. Dadurch sollen die Jugendlichen wieder Selbstvertrauen und Selbstachtung erhalten. Das kann mit ganz kleinen Dingen anfangen, wie beispielsweise einem neuen Haarschnitt oder einem Kleiderstil, in dem sich das Mädchen oder der Junge attraktiver fühlt. Selbst die ausserschulischen Aktivitäten werden so geplant, dass das Kind, das vorher immer als "Niete oder gar Versager galt und im Hintergrund stand", nun eine Rolle, manchmal auch eine Hauptrolle spielt. So erhalten auch diejenigen zu Hause und in der Schule eine Chance, die früher jeweils zu kurz kamen. Die Eltern wissen, dass sie mit der Schule Hand in Hand arbeiten müssen und statten ihr ungefähr alle drei Wochen einen Besuch ab. Sie nehmen an obligatorischen Ausbildunggruppen für Eltern teil, in denen sie beispielsweise lernen, die starken Seiten ihres Kindes zu betonen, das früher "in der Küche das Geschirr spülte, wenn Gäste kamen, damit es keinen Unsinn erzählen und den Eltern damit womöglich Schande machen konnte". Oft müssen die Eltern umerzogen werden, damit sie begreifen, dass ihr Kind, das auf den ersten Blick so anders wirkt, auch über bestimmte Begabungen verfügt und studieren kann. Dazu sind viel Arbeit und gut ausgebildete Lehrer notwendig, denn nichts ist schwieriger, als gegen tiefsitzende Vorurteile zu kämpfen.


Zu Ihren Schülerinnen und Schülern gehören viele Legastheniker. Wie arbeiten Sie mit ihnen ?

Vor der Erfindung der Brille galt ein Kind, das nicht lesen konnte, als Dummkopf. Dank den entsprechenden Sehhilfen ist dies heute nicht mehr der Fall. In gewissem Sinne stellt die Legasthenie - es handelt sich um eine Leseschwäche, ein Problem beim Erkennen und Wiedergeben der geschriebenen Sprache - ein ähnliches Phänomen dar. Es musste ein System entwickelt werden, damit die an dieser Schwäche leidenden Menschen die geschriebenen Zeichen und Buchstaben richtig sehen und erkennen können. Als Lehrerin erstaunte mich die Tatsache, dass ganz offensichtlich intelligente Kinder nicht in der Lage waren, ein ganz einfaches Examen zu bestehen. Ich habe mich daraufhin informiert und Spezialisten herbeigezogen, mit deren Hilfe wir nach und nach eine Unterrichtsmethode entwickelt haben, welche diesen Jugendlichen die Fortführung ihres Studiums ermöglicht.


In Ihrer Schule treffen die schwächeren Elemente der Gesellschaft zusammen, die Versager, die dem Unterricht im sogenannten normalen Schulwesen nicht folgen können. Ihre Schüler wissen dies. Ist es ihnen nicht peinlich zuzugeben, dass sie Ihr Institut besuchen ?

Unsere Philosophie des Lehrens besteht darin, jedem unserer Schützlinge die Möglichkeit zu geben, sein Potential zu entdecken und zu entfalten. Ein Problem kann nur dann gelöst werden, wenn man seine Existenz nicht leugnet. Wir sagen unseren Schülern: "Früher wart ihr das schwächste Glied in der Kette. Ihr seid zu uns gekommen, um stark zu werden". Wir bringen diesen Kindern bei, die richtigen Fragen zu stellen, nicht mehr zu verallgemeinern und differenziert zu denken. Wir erklären ihnen, dass ein Fehler korrigiert werden und dass man aus ihm lernen kann. Unsere Lehrer drängen sie dazu, sich nicht zu schämen, wenn sie etwas nicht wissen oder nicht verstehen, und vor allem immer wieder in aller Selbstverständlichkeit Fragen zu stellen. Unserer Ansicht nach braucht ein Kind, das nie fragt, keine grossen Belehrungen, sondern sollte lernen Fragen zu stellen.


Woran messen Sie Ihren Erfolg ?

Wir wissen, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden, auch wenn wir unser System beständig verbessern. Wir kennen zahlreiche Fälle von jungen Mädchen, die nach dem Abschluss ihrer Schulzeit an unserem Institut nun ein Leben führen, das sich früher niemand hätte vorstellen können, weder sie selbst, noch ihre Lehrer oder Eltern. Einige dieser Mädchen haben Akademiker geheiratet, was undenkbar schien, als sie bei uns anfingen ! Im allgemeinen gehen wir davon aus, dass von einer Klasse mit ursprünglich 26 Schülerinnen 15 nach vierjähriger Schulzeit die Matura bestehen und 6 oder 7 weitere Mädchen die Sekundarschule nach weiteren zwei Jahren abschliessen. Bei den anderen ist mir von Anfang an klar, dass sie das Ziel der Matura nicht erreichen werden; wir leiten sie im Rahmen der Schule bei der Wahl eines Berufes an, der ihren Fähigkeiten entspricht, wobei wir ihre Eltern gleich zu Beginn schon über unser Urteil in Kenntnis setzen. Betonen wir nochmals, dass die ca. zwanzig Mädchen, die jedes Jahr die Matura bestehen, vor ihrem Eintritt in unser Institut nicht die geringste Aussicht darauf besassen !


Welche Berufe ergreifen Ihre Schützlinge nach der Matur ?

In den meisten Fällen entscheiden sie sich für soziale Berufe, eine Ausbildung zur Krankenschwester oder Sozialhelferin, da sie den Wunsch verspüren, anderen Menschen bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen.


Während den ersten neun Jahren seines Bestehens konnte Newe Ruchama nur von religiösen jungen Mädchen besucht werden. Seit 1994 besitzt das Institut auch eine Abteilung für Knaben. Wie sieht diese Entwicklung im Alltag aus ?

Im April 1994 setzten wir eine einzige Anzeige in die Zeitungen mit der Information, dass wir die Knabensektion eröffnen würden. Innerhalb von 2 Wochen trafen 100 Anmeldungen ein, von denen wir 80, verteilt auf 4 Klassen, berücksichtigt haben. Es handelt sich um Jugendliche zwischen 12 und 15 Jahren, während die Mädchen zwischen 14- und 18jährig sind.


Haben Sie Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen festgestellt im Hinblick auf die Art und Weise, wie sie auf Ihre Unterrichtsmethoden reagieren ?

Weltweit kommen auf 1 Mädchen mit Schulschwierigkeiten 7 Jungen. Dennoch haben wir festgestellt, dass das durchschnittliche intellektuelle Niveau der Jungen bei uns höher liegt als dasjenige der Mädchen. Ein intelligenter Jugendlicher, der aus einem bestimmten Grund in der Schule versagt, entwickelt sehr rasch ein aggressives Verhalten, wird zum Störfaktor in seiner Klasse und in der Folge rasch eliminiert. Bei den Mädchen geschieht das Gegenteil: sie kapseln sich ein und versuchen niemanden zu stören. Oft müssen wir ihnen wieder beibringen, lebhafter zu werden. In der Knabenabteilung hingegen kümmert sich eine Person eigens um die Einhaltung der Disziplin, was bei den Mädchen nie notwendig war. Die Knaben kämpfen viel öfter mit Konzentrationsschwierigkeiten, so dass wir in kleinen Gruppen von 15 Schülern arbeiten, das Thema oft wechseln, ihr Interesse ständig wachhalten und vor allem ihre Energie in geregelte Bahnen lenken müssen, indem wir ihnen sehr viel sportliche Betätigung auferlegen. Da wir aber unsere Arbeit mit den Knaben eben erst begonnen haben, nimmt unsere Erfahrung jeden Tag ein wenig mehr zu.


Wie wird Ihre Schule finanziert ?

Wir erhalten staatliche Subventionen, die Eltern leisten einen Beitrag und wir organisieren Fund Raisings und Spendenaktionen.


Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus ?

Wir werden uns immer weiter entwickeln und uns in erster Linie in den Dienst der Jugendlichen stellen, die ein Unterrichtssystem brauchen, das auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist, sowohl in Israel als auch in der Diaspora. Ausserdem planen wir die Schaffung zusätzlicher Ausbildungszentren für Lehrer und Erzieher.


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