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Inhaltsangabe Interview Dezember 1994 - Chanukkah 5754

Editorial - Dezember 1994
    • Editorial

Chanukkah 5755
    • Mit seiner Zeit leben

Politik
    • Zusammenschluss der Schwachen

Interview
    • Die Diaspora sollte aufmerken
    • Offenheit und strikte observanz

Jerusalem - Judäa - Samaria - gaza
    •  Wird Jerusalem die jüdische Souveränität entzogen ?

Erinnerung
    • Liberation

Kunst und Kultur
    • Gerettete Schätze
    • Eugene Zak (1884-1926)

Wirtschaft
    • Israel - Welches Wirtschaftswachstum ?

Israel - Japan
    • Was kauft der japanische Konsument ?

Israel - China
    • Israel in Schanghai

Erziehung
    • Deplazierter 'Kulturkampf'

Reportage
    • Israel in Goma
    • Ein streng koscheres Retortenbaby

Analyse
    • Das Verhältnis der Juden Südafrikas zum ANC

Ethik und Judentum
    • Wem gehört das Kind ? Welches ist seine Religion ?

Shalom tsedaka
    • Eine unnÖtige qual

Ein Name; eine Strasse; wer ist es ?
    • Saul Tschernikowsky (1875-1943)

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Offenheit und strikte observanz

Von Roland S. Süssmann
In dieser so schwierigen Zeit, in der das gesamte jüdische Volk mit Fragen konfrontiert wird, in der aktiver Antisemitismus täglich gewaltsamer zutage tritt, in der die Regierung Rabin der arabischen Welt Zugeständnis um Zugeständnis macht und dabei das Überleben des Staates gefährdet, haben wir entschlossen die Ansichten eines Mannes zu veröffentlichen, dessen Wissen in der Judaistik, dessen Weisheit, Mässigung und Findigkeit von allen gleichermassen geschätzt werden: Raw SHEAR YASHUV COHEN, Grossrabbiner von Haifa und Rektor des "Ariel United Israel Institute", zu dem in Jerusalem, aber auch in Tel Aviv und Haifa, eine Reihe von jüdischen Institutionen ersten Ranges gehören, wie beispielsweise das Harry Fischel Institute, in dem Rabbiner, rabbinische Richter und Anwälte an rabbinischen Gerichten ausgebildet werden. Der Grossrabbiner Shear Yashuv Cohen wird angehört, respektiert und seinem Rat folgen sowohl Rabbiner und Politiker als auch das Rechtswesen und die jüdischen Gemeinschaften in aller Welt.


Wie kommt es, dass ein Mann wie Sie Grossrabbiner von Haifa wird, wo diese vollständig weltliche Stadt doch den Ruf geniesst, alles abzulehnen, was irgendwie mit Religion zu tun hat ?

Obwohl man das Gegenteil annehmen könnte, ist mein Platz eben in Haifa in einer Umgebung, die mir auf den ersten Blick feindlich gesinnt zu sein schien. Als ich erfuhr, das Amt eines Grossrabbiners sei in Haifa zu besetzen, habe ich mich sofort darum beworben, da diese Herausforderung eines Mannes aus der Welt der Orthodoxen würdig war. Es schien mir wichtig zu beweisen, dass die Schaffung eines streng praktizierenden Rabbinats mit geistiger Offenheit und Volksnähe möglich ist, so dass diese entschieden antireligiöse Gemeinschaft einen Rabbiner als Autorität anerkennt, mit der man kommunizieren und sich identifizieren kann. Heute wird das Rabbinat in irgendeiner Form in alle Entscheidungen und Aktivitäten der Gemeinde miteinbezogen, was zum Zeitpunkt meiner Ankunft völlig undenkbar gewesen wäre. Ich glaube, eines der zentralen Probleme der Jeschiwoth besteht darin, dass sie dem rein akademischen Aspekt des Judentums viel zu viel Bedeutung beimessen. Man geht im allgemeinen davon aus, ein guter Rabbiner sei derjenige, der in bezug auf sein jüdisches Wissen Spitzenleistungen erbringt; ein introvertierter Mensch, der alle seine Handlungen und Gedanken auf bereits geschriebene Bücher und seine eigenen Publikationen ausrichtet. Ein Rabbiner jedoch, der ein Amt in einer Gemeinde annimmt, gilt als Mensch, der in seinen Studien nicht sehr erfolgreich ist, da ein wirklicher jüdischer Gelehrter bestenfalls Leiter einer Jeschiwa oder mindestens Richter sein muss. Das Amt des Rabbiners in einer Gemeinde ist sozusagen den weniger Begabten vorbehalten. Ich meinerseits bin aber - wie die Gründer des Instituts Harry Fischel - der Ansicht, dass gerade die besten Elemente, die Erfolgreichsten in eine Gemeinde gehören. Sie sollten ihr Wissen und ihre Erfahrung im Bereich der Leitung einer Gemeinde einsetzen. Der Stand des Rabbinats stellt im Judentum der Gegenwart eine grosse Tragödie dar. Entweder wir haben, wie dies in den meisten orthodoxen Gemeinden der Vereinigten Staaten und gewiss in den liberalen Gemeinden der Fall ist, mit Rabbinern zu tun, die als eine Art Gemeindeverwalter, Sozialhelfer oder gar Freizeitbetreuer tätig sind, welche den Alltag des Gemeindelebens handhaben können: Hochzeiten, Scheidungen, Beerdigungen, Talmud Torah usw. Oder aber es sind herausragende Denker, die durch Welten von ihren Schutzbefohlenen getrennt sind. Selten findet man Rabbiner mit sehr ausgedehnten Kenntnissen in der Judaistik, mit grosser spiritueller und mystischer Tiefe und einem ernsthaft vertieften Wissen der Torah- und Rechtswissenschaft, die weltoffen sind und darüber hinaus eine Begabung als echte geistige Führer besitzen, die sie befähigt, ihren Mitmenschen eine dynamische jüdische Haltung zu vermitteln und ihre Begeisterung für die jüdische Frage an ihre Gemeinde übertragen können. Diese Rabbiner sind äusserst selten, doch es gibt sie. Wir haben fast 200 von ihnen ausgebildet, die heute bedeutende Posten in der ganzen Welt besetzen. Ich denke, dass unsere Institution in diesem Bereich sehr innovativ war, indem sie Männer mit weitreichendem judaistischem Wissen geformt hat, die aus sich herausgehen können und fähig sind, das Judentum auf dynamische Weise zu vermitteln. Die aus unserer Ausbildungsstätte hervorgehenden Rabbiner wissen genau, wie sie die Antworten, welche das Judentum auf die grundlegenden, durch die Fakten der modernen Welt aufsteigenden Fragen und auf die Probleme des Lebens und unserer Gesellschaft bietet, glaubhaft machen können. Natürlich schenken wir dabei immer auch unsere Aufmerksamkeit den grossen Themen, welche die theologischen Debatten unserer Zeit beschäftigen und Teil unserer Tätigkeit sind. So organisieren wir beispielsweise zweimal jährlich eine bedeutende, rege besuchte rabbinische Konferenz, die drei Tage dauert und deren Niveau sehr hoch ist. Jedesmal wird ein anderer Bereich behandelt; im vergangenen Juli lautete das Thema "Das Judentum aus der Sicht des Islam". Ich wollte nach Haifa gehen, weil ich der Ansicht bin, die wichtigste Aufgabe eines Rabbiners besteht darin, die grösstmögliche Zahl von Juden von seinem Wissen und seiner Erfahrung profitieren zu lassen, vor allem jene, die sich vom Glauben und von der praktizierten Religion am weitesten entfernt haben.


In Ihrer Eigenschaft als Grossrabbiner der Stadt, die wahrscheinlich die weltlichste Israels ist, muss Sie das Ausmass des Mangels an Allgemeinwissen im Bereich des Judentums erschüttert haben, das bei den Israelis vorherrscht, die nicht den religiösen Kreisen angehören. Wie erklären Sie sich diese Tatsache und was unternimmt oder was kann das Rabbinat dagegen unternehmen ?

In Israel gibt es drei verschiedene Schulsysteme; den öffentlichen, den national-religiösen und den orthodoxen Unterricht. Ein junger Israeli, der heute seine gesamte Schulzeit im öffentlichen Schulsystem absolviert, kann heute zweifellos seinen Abschluss machen, ohne im geringsten über die eigentlichen Grundlagen des Judentums, wie z.B. über den Ablauf der Gottesdienste, die biblische und Religionsgeschichte seit Adams Zeiten, den Königen und Propheten bis zu den Talmudmeistern und den Kommentatoren, Bescheid zu wissen. Dabei spreche ich gar nicht von Fragen der praktizierten Religion, sondern nur vom theoretischen Wissen. Verstehen Sie mich nicht falsch, es steht jedem frei, seine Kinder nach eigenem Gutdünken zu erziehen, doch es ist unmöglich, Jude zu sein ohne zu wissen, was das Judentum eigentlich ist, oder wenigstens seine einfachsten Grundlagen zu kennen. Es ist eine Tatsache, dass zahlreiche Israelis ihr jüdisches Wissen der geschriebenen Presse und dem Fernsehen entnehmen und nur die spektakuläre und skandalträchtige Seite kennenlernen. Wird ein Rabbiner in einen Vorfall verwickelt, sind ihm die Schlagzeilen der Zeitungen natürlich gewiss. In den Augen nicht praktizierender Israelis werden dann selbstverständlich alle Rabbiner automatisch zu schlechten Menschen, mit denen man keinen Umgang pflegen sollte. Die Studienpläne für jüdische Fächer der nichtreligiösen Schulen sind natürlich wenig erfolgreich und zeitigen oft keine Ergebnisse. Dennoch bin ich - ohne falsche Hoffnungen zu hegen - nicht durch und durch pessimistisch, denn ich glaube nicht, dass die Gefahr der Assimilierung in Israel grösser ist als im Ausland. Ich habe durch eigene Erfahrung gelernt, dass dies ein sehr heikles Thema ist. Die Mitglieder der weltlichen Gesellschaft lehnen es unter allen Umständen ab, dass irgendjemand versucht ihnen einen Lebensstil aufzuzwingen, da die damit verbundene Einhaltung der Mitzwoth sie in ihrer Freiheit einschränken würde. In den meisten Fällen sind sie jedoch bereit zuzuhören oder wenigstens nicht ganz unwissend zu bleiben, weil sie allmählich doch begreifen, dass man kaum jüdisch sein kann, ohne die Grundlagen zu kennen. Eine Aktion "jüdischer Missionare" wäre aber fehl am Platz, da sie vielmehr das Gegenteil bewirken würde. Es gehört zu den Eigenarten der jüdischen Mentalität und Einstellung, sich nichts vorschreiben zu lassen und alle Vorschriften abzulehnen. Wenn wir als jüdische Nation überleben wollen, besitzen wir keine andere Wahl als die die jüdischen Wurzeln und Kenntnisse im ganzen Land zu verstärken. Man muss sich bewusst machen, dass diejenigen Juden, die das Land verlassen haben, heute dem Judentum am fremdesten gegenüberstehen. Diese 500'000 Juden besitzen keinerlei Verwurzelung mit dem Judentum. Ein Jude der einer reformierten Gemeinde angehört, erinnert sich wenigstens noch an sein Judentum und besucht regelmässig oder in gewissen Abständen sein Gotteshaus. Diese Situation ist alles andere als ideal und ich befürworte dies natürlich nicht, doch die jüdische Identität ist irgendwo noch vorhanden. Ein nicht praktizierender Israeli, der ausgereist ist, verliert seine Identität vollständig durch die Assimilierung.


Weshalb ?

Als diese Israelis noch hier lebten, befanden sie sich in einem jüdischen Land, in dem das Radio sie jede Woche an den Schabbat oder an diesen oder jenen Feiertag erinnerte. Wenn sie das Land ohne vorheriges Wissen verlassen, bleibt ihnen gar nichts mehr. Diese halbe Million der im Ausland lebenden Israelis zeugen von der Unfähigkeit unseres Erziehungswesens. Die Situation ist sehr ernst, denn dieser Generation fehlen nicht nur sämtliche jüdischen Werte; auch das zionistische Ideal, die Liebe zum Land Israel, der Sozialismus, die Ethik des Menschen und der Gesellschaft gehören nicht mehr zum Weltbild, das ihr Leben bestimmt, obwohl auf dieser Grundlage eine ganze Generation in Israel erzogen wurde.


Aus welchen Bevölkerungsschichten erwächst dem Land Hoffnung ?

Wie erleben hier ein interessantes Phänomen. Ich glaube, es gibt zwei Quellen der Hoffnung: einerseits die national-religiöse Bewegung, und andererseits die Anhänger der Bewegung Haschomer Hatzair, deren zionistisches, nicht religiöses und humanitäres Ideal immer noch vorherrscht und immer stärker wird. Es existiert aber noch ein anderes sehr positives Element. Trotz der Ablehnung des Schabbat, der Ernährungsvorschriften usw. kehren die meisten Israelis für einen kurzen Augenblick zu ihren Wurzeln zurück, wenn sie aufgrund der grundlegenden Stationen des Lebens (Hochzeit, Geburt, Bar Mitzwa, Tod) mit einem spirituellen Element konfrontiert werden. Für einige sind diese Momente bedeutungslos. Ich jedoch gehen davon aus, dass solange ein kleines Flämmchen jüdischen Glaubens flackert, noch Hoffnung vorhanden ist. Wenn man beispielsweise heute in Israel die zivile Trauung einführen würde, was ich selbstverständlich überhaupt nicht befürworte, würden dennoch 80% der jungen Leute eine religiöse Hochzeit vorziehen. Zu den zivilen Eheschliessungen gehörten bestimmt die problematischen Fälle, die gemischten Ehen oder radikal antireligiös eingestellte Paare. Darüber hinaus bin ich überzeugt, dass in Israel in einem bestimmten Teil der Jugend ein enormes Potential schlummert, die nur auf Anleitung wartet und ein Ideal finden möchte, mit dem sie sich nicht nur identifizieren könnte, sondern das ihr auch eine gewisses Mass an Enthusiasmus oder gar Extase anbieten würde. Am Blues-Festival, das im vergangenen Juli in Haifa stattfand, haben sich ungefähr 100'000 Jugendliche von dieser Musik, die der Vergötterung von Idolen näher steht als jüdischen Werten, buchstäblich "hinreissen" lassen. Diese Jugend stellt ein ausgezeichnetes Publikum dar, das sich auf dieselbe Weise auch für das Judentum begeistern würde. Ich bin überzeugt, dass die Jugend und die israelische Öffentlichkeit in ihrer grossen Mehrheit den jüdischen Fragen nicht völlig gleichgültig gegenüberstehen, und gerade diese fehlende Gleichgültigkeit sollten wir ausnützen, um das jüdische Wissen und die jüdischen Wurzeln in Israel erstarken zu lassen.


Wie sehen Sie die Zukunft ?

Meiner Ansicht nach gibt es keine Zukunft für das Judentum, wenn die religiösen Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora nicht enger geknüpft werden. Dies ist ganz besonders wichtig im Hinblick auf die Definition des Juden und des Judentums; diese Frage kann nur anhand der Regeln der strikten Observanz gelöst werden. Dies führt uns ausserdem zur möglichen Definition des jüdischen Staates. Bis heute wurden diese Fragen wegen der schwerwiegenden Probleme in den Bereichen Sicherheit und Wirtschaft vernachlässigt, mit denen das Land seit seiner Gründung konfrontiert wurde. Heute naht die Stunde der Wahrheit, und Israel wird sich zwischen einem Staat mit israelischer, hebräischer oder echter jüdischer Prägung entscheiden müssen. Ein altes Phänomen ist wieder auferstanden: der innige Wunsch der israelischen Bevölkerung, wie alle anderen zu sein, ein Volk wie alle anderen mit einem Staat, der allen anderen gleicht. Dies wird nicht möglich sein, da gerade "die anderen, denen man so gerne ähnlich wäre...", dies nicht zulassen werden. Zu diesem Thema findet gegenwärtig in der israelischen Gesellschaft eine äusserst interessante Debatte statt. Auf der einen Seite steht die national-religiöse Jugend und sagt: "Wir müssen um unser Land, um die Rechte der Juden überall in Israel kämpfen usw.". Diese Jugendlichen gehören zu den besten Mitgliedern der Armee und der Streitkräfte. Auf der anderen Seite befindet sich die Jugend aus dem sogenannten "Friedenslager", die nicht mehr zu den Waffen greifen will: "Lasst uns diese Gebiete abtreten und ein Volk sein, das wie alle andern in Frieden mit seinen Nachbarn lebt". Die Verfechter dieser Forderung sind sich gar nicht bewusst, wie tief jüdisch ihre Haltung ist, denn nur ein Jude kann daran glauben, dass ein Friede mit einem Feind möglich ist, der seinerseits den Frieden ablehnt. Der Ausgang dieser Diskussion und vor allem das Zusammenwirken dieser beiden eigentlich komplementären Kräfte werden die Zukunft unseres Landes bestimmen.


Sie bilden im Rahmen des "Ariel United Israel Institute" die Menschen aus, die morgen die geistliche Welt der Juden leiten werden. Worin wird in Ihren Augen ihre wichtigste Aufgabe liegen ?

Die gesamte geistliche Inspiration des jüdischen Volkes überall in der Welt muss von Israel ausgehen. Unser Institut arbeitet auf dieses Ziel hin. Seine wichtigste Rolle liegt im Kampf gegen die Assimilierung sowohl in Israel als auch in der Diaspora. Unsere Arbeit erfolgt durch die Ausbildung fähiger Menschen und die Publikation zahlreicher Bücher und Schriften. Wir beschränken die Zahl unserer Studenten auf maximal 250 Personen und müssen viele Kandidaten auf eine Warteliste setzen. Jeder von ihnen trägt in sich das Potential zu einem zukünftigen geistlichen Führer in der jüdischen Welt Israels und der Diaspora.



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