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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Frühling 1994 - Pessach 5754

Editorial - März 1994
    • Editorial

Jüdische Feiertage
    • Pessach 5754

Politik
    • Die Folgen eines Massakers

Interview
    • Gestern - Heute - Morgen
    • Jerusalem - Eins und Unteilbach

Terrorismus
    • Die Fackel wird ewig brennen

Porträt
    • Der Hofnarr

Judäa - Samaria - Gaza
    • Der "Friede" an Ort und Stelle
    • Die letzten Juden von Jericho

Analyse
    • Terrorismus und Illusionen
    • Multilateralen Verhandlungen

Kunst und Kultur
    • Jüdische Frauen als Schreiber und Drucker
    • Arthur Segal (1875-1944)

Israel - Diaspora
    • Israel und das Weltweite Judentum

Israel - Vatikan
    • Eine "Zivilhochzeit"

Biographie
    • Sir John Pitchard, His Life in Music

Ethik und Judentum
    • Statistik und Wahrscheinlichkeit

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Statistik und Wahrscheinlichkeit

Von Rabbiner Shabtai A. Rappoport
Im Alter von nur 35 Jahren begann K. an lästigen Schmerzen zu leiden. Der Facharzt, der die Diagnose ausstellte, bezeichnete seine Krankheit als unheilbar und teilte ihm mit, er habe höchstens noch einige Jahre zu leben. Die einzige Hoffnung bestand in einem sehr komplizierten, unangenehmen und kostspieligen chirurgischen Eingriff, der aber an sich nicht lebensgefährlich war.
Da K. über eine wissenschaftliche Ausbildung verfügte, begann er seinen Fall selbst zu studieren. Er erfuhr, dass das empfohlene Verfahren in der Tat die einzige heute bekannte Möglichkeit zur Verbesserung seiner Überlebenschancen darstellte, ohne ihn jedoch endgültig heilen zu können. Nach Aussage der Statistiken betrug die Aussicht, noch weitere fünf Jahre oder mehr am Leben zu bleiben, ohne diesen chirurgischen Eingriff nicht einmal 10%; selbst nach der Operation überstieg die Wahrscheinlichkeit des Überlebens jedoch nicht 20%. Folglich waren seine Tage angesichts der grösseren Wahrscheinlichkeit in beiden Fällen gezählt: wieso sollte er demnach noch mehr Leiden und grosse Ausgaben auf sich nehmen ? Vielleicht war es besser, sich mit der Bekämpfung der Schmerzen zu begnügen und sein Schicksal zu akzeptieren.
In der Halacha existiert der bekannte Grundsatz, dass im Zweifelsfall die Mehrheit ausschlaggebend ist. Wird beispielsweise in einer Stadt ein Stück Fleisch auf der Strasse gefunden und es kann nicht festgestellt werden, ob es koscher ist, bestimmt die Gemara (Pessachim, 9b), dass es als koscher gilt, wenn die Mehrzahl der Metzgereien dieser Stadt koscheres Fleisch verkaufen. Wird in den meisten Metzgereien jedoch nichtkoscheres Fleisch angeboten, betrachtet man das gefundene Stück Fleisch als nicht koscher. Auf den ersten Blick scheint diese Vorschrift auf einer einfachen Wahrscheinlichkeitsrechnung zu beruhen: im ersten Fall ist es wahrscheinlicher, dass das Fleisch aus einer koscheren Metzgerei stammt und aus diesem Grund koscher ist. Im zweiten Fall kommt das Fleisch mit grösserer Wahrscheinlichkeit aus einer nichtkoscheren Metzgerei und wird daher als nicht koscher angesehen.
Wenn also die Halacha verlangt, dass wir zugunsten der grösseren Wahrscheinlichkeit entscheiden - wie das Beispiel mit dem Stück Fleisch darlegt -, kann die K. empfohlene Operation nicht als einen Eingriff angesehen werden, der ihm das Leben retten kann; er ist daher nicht verpflichtet, sich dieser Operation zu unterziehen.
Betrachtet man den Fall aber genauer, stellt man fest, dass die von der Gemara vermittelte Vorschrift nichts mit dem Wahrscheinlichkeitsgrad zu tun hat. Im Anschluss an den zitierten Abschnitt wird das Gesetz für einen leicht unterschiedlichen Fall festgelegt: wenn jemand in einer Metzgerei einer Stadt, in der verschiedene Geschäfte nicht koscher sind, ein Stück Fleisch kauft und sich hinterher nicht mehr genau daran erinnern kann, wo er seinen Einkauf getätigt hat, kann das Fleisch nicht als koscher angesehen werden, selbst wenn die meisten Metzgereien der Stadt koscheres Fleisch verkaufen. Der Wahrscheinlichkeitsgrad hat sich eigentlich nicht verändert zwischen dem Fall, wo das Fleisch auf der Strasse gefunden wird - und man sich an der Mehrheit der Metzgereien orientieren soll -, und demjenigen, wo das Fleisch ganz bestimmt in irgendeiner der Metzgereien erworben wurde - und Zweifel bestehen bleiben. Die erste Gesetzgebung ist jedoch ganz ausdrücklich nur dann gültig, wenn feststeht, dass das Fleisch unter keinen Umständen von ausserhalb der Stadt eingeführt wurde (Ketubot, 15b).
Die erste juristische Entscheidung, welche sich nach der Mehrheit richtet (Houlin, 11a), stützt sich auf eine biblische Anordnung, die in keinem Zusammenhang mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung steht: "...sollst nicht so antworten vor Gericht, dass du der Menge nachgibst" (Exodus 23,2). Die Mehrheit des Gerichts bestimmt das Urteil, das vom gesamten Gericht ausgesprochen wird. Im jüdischen Recht gibt es in der Regel keine abweichende Meinung, da ein Urteil immer einstimmig gefällt wird. Diese Vorschrift hat zur Rechtsprechung in bezug auf das gefundene Fleisch geführt. Betrachten wir eine Stadt A, in der jede Metzgerei koscher ist, muss natürlich jedes auf der Strasse gefundene Stück Fleisch koscher sein. In einer Stadt B, in der es nur nichtkoschere Metzgereien gibt, gilt selbstverständlich jedes gefundene Stück Fleisch als nicht koscher. Die Rechtsprechung in einer Stadt C hingegen, die sowohl koschere als auch nichtkoschere Metzgereien besitzt, fällt gemäss der Mehrheit aus, genau wie im Gericht: sind die meisten Metzgereien koscher, gilt die Stadt C wie die Stadt A als vollständig koscher; ist jedoch die Mehrheit der Metzgereien nichtkoscher, wird die Stadt C wie die Stadt B angesehen, d.h. überhaupt nicht koscher. Diese Überlegung wird angewendet, wenn die Stadt als ein Ganzes betrachtet werden kann, was beim Fall des auf der Strasse gefundenen Fleisches zutrifft, da es nun darum geht, die Art der betreffenden Stadt festzustellen. Wurde das Fleisch jedoch im Geschäft X gekauft, kümmern wir uns nicht mehr um die gesamte Stadt, sondern nur noch um dieses einzelne Geschäft, von dem uns nicht bekannt ist, ob es koscheres Fleisch verkauft oder nicht. Wenn wir dies nicht mit absoluter Sicherheit ausfindig machen können, bleiben Zweifel bestehen. Daraus folgt, dass die Regel, der Mehrheit zu folgen, nicht im geringsten vom Wahrscheinlichkeitsgrad oder einer statistischen Berechnung abhängig ist; wir müssen demnach eine Quelle für die Grundsätze finden, welche die Wahrscheinlichkeit und den Zufall im jüdischen Recht bestimmen.
Es ist allgemein bekannt, dass beim Tod zweier Kinder derselben Familie infolge der Beschneidung die folgenden Kinder nicht beschnitten werden aus Furcht, sie könnten ebenfalls sterben. Die Gemara (Schabbat, 134a) zitiert jedoch Rabbiner Nathan de Babelonia: "Ich war eines Tages im Ausland unterwegs, als eine Frau mich aufsuchte. Sie hatte ihren ersten Sohn beschnitten und er war gestorben, wie auch der zweite Sohn auf dieselbe Weise starb. Der dritte Sohn wurde zu mit gebracht und ich sah, dass seine Haut gerötet war. Ich wies sie an zu warten, bis das Blut absorbiert worden sei; sie wartete und liess ihn anschliessend beschneiden. Das Kind überlebte und wurde mir zu Ehren Nathan de Babelonia genannt." Wie konnte Rabbiner Nathan so sicher sein, dass der dritte Sohn nicht sterben würde ? Schliesslich hatten seine zwei Brüder nicht überlebt, doch vielleicht gab es ausser der geröteten Haut noch eine weitere Ursache für ihren Tod.
Es leuchtet ein, dass Rabbiner Nathan folgende Überlegungen anstellte: jeder Säugling kann an einer Krankheit leiden, welche die Beschneidung für ihn lebensgefährlich macht, und doch wird dieses Risiko ignoriert und alle Säuglinge werden beschnitten. In einer Familie, in der bereits zwei Babies infolge ihrer Beschneidung gestorben sind, ist die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr viel höher, und die Beschneidung wird verboten. Wird jedoch eine offensichtliche Ursache für ihren Tod entdeckt, kann man davon ausgehen, dass das Risiko für das dritte Kind nach Beseitigung dieser Ursache demjenigen entspricht, das jedem normalen Baby droht. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind stirbt, ist in diesem Fall folglich mit derjenigen vergleichbar, der jeder Säugling ausgesetzt ist, und es wird wie ein gewöhnliches Kind behandelt.
In einer ähnlichen juristischen Entscheidung (Chatam Sofer Yore Dea resp. 158) bestimmt Rabbiner Mosche Sofer aus Bratislava, die berühmteste halachische Autorität des 19. Jahrhunderts, dass ein logischer medizinischer Eingriff die Gefahren einer bestimmten Erkrankung auf ein normales Mass reduzieren kann, selbst wenn diese als eine Krankheit gilt, an der ein Mensch sein Leben lang leiden wird. Sobald der Patient sich der Behandlung unterzogen hat, wird er als normal angesehen, selbst wenn der Erfolg der Behandlung nicht sofort ersichtlich ist. Dies beruht auf folgender Überlegung: sobald der Patient behandelt wurde, geht man davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er an dieser Krankheit leidet, derjenigen bei einer gesunden Person entspricht.
Daraus folgt, dass das jüdische Recht eine höhere Wahrscheinlichkeit nicht als eine Mehrheit betrachtet, der man sich anschliessen muss; es berücksichtigt die Veränderung der Wahrscheinlichkeit aufgrund veränderter Umstände und ist der Ansicht, dass eine solche Veränderung - insbesondere ein medizinischer Eingriff - von grosser Bedeutung ist und eine ausreichende Grundlage für eine juristische Entscheidung darstellt. Selbst wenn die Aussichten auf eine vorübergehende Besserung nach einer Operation weniger als 50% betragen und daher minoritär sind, ist K. trotz allem dazu verpflichtet, sich ihr zu unterziehen (unter der Bedingung, dass die daraus entstehenden Schmerzen nicht unerträglich sind), da die Operation seine Überlebenschancen beträchtlich erhöht und als Behandlung angesehen werden muss, die ihm das Leben retten kann.



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