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Inhaltsangabe Rosch Haschanah 5766 Herbst 2005 - Tischri 5766

Editorial
    • Editorial - Oktober 2005 [pdf]

Rosch Haschanah 5766
    • Die Kraft des Gebets [pdf]
    • Solidarität und Erlösung [pdf]

Politique
    • Ein riskantes Vorhaben [pdf]

Interview
    • Quo Vadis Israel? [pdf]
    • Sensibilität und Entschlossenheit [pdf]
    • Neue Herausforderungen [pdf]

Kunst und Kultur
    • Das Palmach-Museum [pdf]

Analyse
    • Antisemitismus und Alternative Geschichte [pdf]
    • Alter Wein in neuen Schläuchen [pdf]

Reportage
    • Das Vidal Sassoon Center [pdf]
    • Menschenhandel und Schwarzarbeit [pdf]

Profil
    • Präzision und Flexibilität [pdf]

Porträt
    • Der Wein der Liebe [pdf]

Slowakei
    • Jerusalem und Bratislava [pdf]
    • Weitsicht und Sinn für Pragmatik [pdf]
    • Zidovska Nabozenska [pdf]
    • Vermitteln Zum Überleben [pdf]
    • Der «Plan Europa» [pdf]
    • Tradition und Kulturerbe [pdf]
    • Der Jüdische Widerstand [pdf]

Forschung und Wissenschaft
    • Schöne Silhouette! [pdf]
    • Kürbis und Kürbisarten! [pdf]

Ethik und Judentum
    • Gebet und Eingriff [pdf]

Das gute Gedächtnis
    • Die Ereignisse des Monats Oktober [pdf]

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Solidarität und Erlösung

Von Roland S. Süssmann
Viele von uns stellen sich in diesen schweren Zeiten und nach der gewaltsamen Vertreibung von Tausenden von Juden innerhalb von Israel grundlegende Fragen vor dem Anbruch des neuen Jahres. Natürlich ist für die israelische Bevölkerung das Trauma der Evakuierung viel schmerzhafter als für die Juden der Diaspora, von denen die meisten Gusch Katif nie gesehen haben. Und dennoch hat dieses historische Ereignis gewisse Auswirkungen auf die jüdische Gesellschaft in aller Welt. Aus dieser Überlegung heraus haben wir Rabbi BENNY LAU, einen jungen Rabbiner, Shootingstar in der rabbinischen Welt Israels, gebeten, uns bei der Suche nach Antworten zu helfen angesichts dieser neuen Sachlage, der wir alle gegenüberstehen. Rabbi B. Lau steht an der Spitze der Gemeinde Ramban in Jerusalem und leitet das Beth Morascha Institute, ein Studienzentrum für junge Leute, welche den Militärdienst abgeschlossen haben und jüdische Fächer studieren, während sie gleichzeitig ein Lizenziat an der Universität Bar Ilan vorbereiten.

In den Monaten vor der Vertreibung und während der eigentlichen Evakuierung haben Tausende von Menschen aus tiefstem Herzen gebetet, dass diese Verordnung letztlich doch nicht in Kraft gesetzt wird. Ihre Gebete wurden aber nicht erhört. Wir stehen kurz vor Rosch Haschanah und Jom Kippur, diesen hohen Feiertagen, die in erster Linie von unseren Gebeten an den Herrn mit der Bitte um ein gutes Jahr geprägt sind. Angesichts der jüngsten Ereignisse kann man sich nun wirklich fragen, ob es sich dieses Jahr überhaupt lohnt, all diese Gebete zu sagen?

An den hohen Feiertagen begeben wir uns mit der Hoffnung in die Synagoge, dass unser Flehen erhört wird. Im Rahmen des Gebets von Rosch Haschanah ist das Konzept des Sohnes und des Sklaven sehr präsent. Als Juden leben wir diese beiden Rollen parallel zueinander. Und so wiederholen wir während allen Gottesdiensten immer wieder einen ganz besonders ergreifenden Text:«Heute beurteilst du uns; wie Söhne oder wie Sklaven. Wie Söhne: erbarme dich unser, wie ein Vater Erbarmen mit seinem Sohn hat. Wie Sklaven: sind unsere Augen zu Dir erhoben, bis Du uns begnadigst und gleich dem Licht unser Recht erstrahlen lässt». Die Position eines Sohnes unterscheidet sich von derjenigen eines Sklaven, er erleidet nicht, und die Autorität, der er untersteht, ist letztendlich symbolisch. Aber wir müssen auch den Status des Herrn als König anerkennen, und in diesem Moment werden wir wieder zu Sklaven, die einer strengen Macht unterstellt sind: zu ihr haben wir nicht automatisch Zugang und von ihr bekommen wir nicht immer Recht, doch sie gewährt uns Audienz und lehnt nach Gutdünken unsere Bitte ab oder gewährt sie uns. Was in Bezug auf die Gebete im Sommer 2005 geschehen ist, war ein Irrtum. Einige Rabbiner haben diese beiden Positionen vergessen und liessen einen grossen Teil der frommen Bevölkerung, insbesondere die Jugend, im Glauben, wir seien nur «Söhne». Die Wirklichkeit hat uns aber zurückgeholt und uns zu verstehen gegeben, dass wir beide Rollen spielen. Seit dem Tod der letzten Propheten hat in unserem Volk niemand mehr die Macht zu sagen: «Es reicht aus zu beten, um das zu erhalten, was man möchte». Dürfen wir aber deswegen behaupten, unsere Gebete seien sinnlos? Keinesfalls. Wir haben die Torah, die Moral, das Gebet und den Lebenskodex, die jüdisch sind. Mit diesen Elementen sollten wir mehr denn je verbunden sein. Überhaupt nirgends wird uns in der Torah versprochen, dank unseren Gebeten würde automatisch jeder Wunsch erfüllt. Wir können nicht behaupten, die Quelle von allem zu sein, das wäre vermessen, und deshalb ist es nicht ausgeschlossen, dass die schweren Momente, die wir durchgemacht haben und immer noch erleben, sich irgendwann als etwas Gutes für uns herausstellen.

Das wird die Zukunft weisen. Zur Zeit erleben wir neben den Tausenden von Juden, die zu «innenpolitischen Flüchtlingen» geworden sind, einen grossen Teil der frommen Bevölkerung, insbesondere der Jugend, die gegenüber der religiösen Botschaft, der Armee und gar dem Vaterland völlig ratlos sind. Dieser Zustand ist sowohl in Israel als auch in der Diaspora zu beobachten. Was kann man dagegen tun?

Es stimmt, wir leben in einer Zeit, in der ernsthafte Fragen an der Tagesordnung sind. Wir haben aber kein Recht zu verzweifeln und müssen in erster Linie unserer Jugend wieder Hoffnung geben. Dies ist die Aufgabe der Rabbiner, aber auch all jener, die in irgendeiner Form mit Erziehung zu tun haben, an erster Stelle die Eltern. Wenn wir an Rosch Haschanah das Schofar blasen, können wir dabei zwischen zwei Klängen unterscheiden: der erste gleicht einer Klage und erinnert uns an die Reue für alle Fehler, die wir im Laufe des Jahres begangen haben. Der zweite ist ein Klang der Freude und des Stolzes, wie derjenige einer Trompete, die feierlich das Eintreffen eines Königs ankündigt. In der gegenwärtigen Situation kann man die Dinge auf zwei verschiedene Arten sehen. Man kann sich einerseits sagen, dass alles vorbei ist, dass der Staat und das Land ihrem Untergang entgegengehen usw. Andererseits kann man nachdenken und alle positiven Sachen aufzählen, die der Herr uns täglich in Israel gibt. Ganz oben auf dieser Liste steht die Armee. Armee. Welche Streitkraft der Welt hätte es geschafft, die Evakuierung erfolgreich durchzuführen, obwohl sie ohne Waffen erschien, keine Opfer forderte und im Grossen und Ganzen eine vorbildliche Zurückhaltung an den Tag legte? Dies ist eine Quelle des Stolzes für das gesamte jüdische Volk und dafür können wir das Schofar des nationalen Stolzes erklingen lassen. Doch heute darf der Klang des Schofar für Freude und Ausgelassenheit noch nicht ertönen, erst der Ton der Hoffnung. Der einzige Weg, die israelische Gesellschaft, das Land und indirekt die jüdische Welt insgesamt weiterhin positiv zu entwickeln, besteht darin, die uns auferlegte Verantwortung wahrzunehmen. Dies ist umso wichtiger, als wir eine Generation darstellen, der ein jüdischer Staat anvertraut wurde.

Auf welche Hoffnung spielen Sie denn an?

Nach allem, was in diesem Sommer geschehen ist, nach den Gebeten, den Hoffnungen und den Enttäuschungen, ist es für einen frommen und praktizierenden Juden sehr schwer, im Gebet wieder Hoffnung zu schöpfen. Doch genau in dieser schwierigen Situation, in der wir stecken, müssen wir fähig sein, von allen positiven Aspekten um uns herum - die uns noch bleiben - zu profitieren. Ich glaube, dass diese Verantwortung ganz besonders auf den Schultern des frommen Teils der jüdischen Bevölkerung liegt. Es liegt nun aber in der Natur des leidgeprüften Menschen, sich zurückzuziehen und sich von der Aussenwelt abzuschotten. Und darin besteht heute unsere grösste Herausforderung. Es muss uns gelingen, uns der Welt zu öffnen und auf unsere Nachbarn zuzugehen, um im Land wieder die Einheit herbeizuführen, denn morgen werden wir alle mit neuem Schmerz konfrontiert. Diese Lehre ist der Torah zu entnehmen, die uns in ihren letzten Sätzen sagt (Deut.33, 1-5): «Dies ist der Segen, mit dem Moses, der Mann G'ttes, die Israeliten vor seinem Tode segnete. Und der Herr ward König über Israel, als sich versammelten die Häupter des Volks samt den Stämmen Israels». Der Segen liegt in der Einheit, denn nur durch sie werden wir das Vertrauen zurückerlangen, um zu handeln. Wir wussten theoretisch, dass es eine Kluft zwischen der frommen und der nicht gläubigen Gesellschaft in Israel gab. Doch erst die Ereignisse dieses Sommers haben uns das Problem deutlich vor Augen geführt, und die Konfrontation mit dieser Tatsache hat uns zutiefst erschüttert. Trotz unserer Meinungsverschiedenheiten sind wir doch ein einziges Volk, ein einziger Leib, der zeitweise zwei oder noch mehr Köpfe haben kann, dessen Glieder aber im Grunde untrennbar miteinander verbunden sind. Heute weist alles darauf hin, dass sich zwischen uns eine tiefe Kluft aufgetan hat, aber ich bin überzeugt, dass Rosch Haschanah uns in diesem Jahr mehr denn je zu verstehen gibt, dass wir alles unternehmen sollen, um diese Kluft zu schliessen, denn es darf nicht sein, dass wir nicht in Harmonie leben.

Trotz Ihrer Worte ist es eine Tatsache, dass sich in bestimmten jüdischen Kreisen der Diaspora nach dem Rückzug Zweifel anmelden in Bezug auf die Zuverlässigkeit Israels. Wie kann diese Entwicklung, die im Moment natürlich noch unscheinbar ist, aufgehalten werden?

Die Hauptfunktion Israels in der Welt besteht darin, der Ort zu sein, an dem sich jeder Jude wirklich in Sicherheit fühlt. Heute weiss jeder Jude, dass er, ganz egal wo er sich aufhält und sobald ihm etwas zustösst, immer diese wunderbare Alternative hat, auf die er zählen kann: den Staat Israel. Aufgrund der jüngsten Ereignisse kann es sein, dass sich einige Juden nun sagen: «Ich habe keinen Zufluchtsort mehr, in meiner Lebensversicherung gibt es nun eine Lücke». Die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass eine derartige Entwicklung stattfindet oder, noch schlimmer, um sich greift, ist die Verstärkung der innenpolitischen Solidarität. Es gibt zahlreiche Probleme, die aber nicht unüberwindbar sind, und das Wissen darum, wie das Judentum und die Demokratie, die jüdische Rechtsprechung (Halacha) und der Staat, die Frommen und die Nichtgläubigen usw. koexistieren können, verkörpert für die Juden der Diaspora nicht nur ein Element, dank dem sie sich in Sicherheit fühlen können, sondern auch eine unerschöpfliche Quelle der Ermutigung.

In der Diaspora stehen wir vor zwei grundlegenden Schwierigkeiten, nämlich dem Antisemitismus, der mit dem Thema dieses Gesprächs nichts zu tun hat, und der rasend schnellen Assimilierung. Zur Bekämpfung der letzteren stellten der Zionismus und Israel bisher die beiden Argumente dar, die auch Menschen ansprachen, die der Religion gleichgültig gegenüberstehen. Heute scheint aber auch dieser Diskurs in Frage gestellt zu werden. Was kann man dagegen unternehmen?

Leider müssen wir uns mit wenig begnügen und dürfen nicht vergessen, dass viele kleine Bäche einen grossen Strom bilden. In diesem Sinne ist es sehr wichtig, vor allem bei der Jugend die Reisen nach Israel zu fördern. Ein Jugendlicher, der das Land besucht, wird nämlich, auch wenn er nur in religionsfernen Kreisen verkehrt, Hebräisch hören, nach dem Rhythmus des jüdischen Kalenders leben mit seinen Feiertagen, dem Wochenende an Schabbat und nicht am Sonntag usw. Ihm wird auf diese Weise ein Hauch Judentum eingeimpft und niemand weiss, welche Wirkung dies mittel- oder langfristig haben wird. In unseren Gebeten von Rosch Haschanah sagen wir: «Lassen wir das grosse Schofar für unsere Befreiung erklingen». Ich persönlich denke, dass damit eine Hoffnung zum Ausdruck kommt, die eine fast perfekte Welt anstrebt. Heute stehen wir jedoch erst ganz zu Beginn unserer Erlösung, wir müssen uns also damit begnügen, Tausende von kleinen Schofaroth erklingen zu lassen, die an Rosch Haschanah in den Synagogen in aller Welt ertönen: das Schofar der Erziehung, das Schofar der jüdischen Solidarität usw. Der Weg zu unserer individuellen und nationalen Befreiung hat begonnen, es ist an uns, den ersten Schritt zu unternehmen; man kommt zwar langsam, aber stetig voran, und nichts kann uns aufhalten.

Woher nehmen Sie den Optimismus, den Sie versprühen?

Mein Vater hat die Schoah überlebt, und jedes Mal, wenn mich eine Spur von Pessimismus befällt, schaue ich meinen Vater an und sage mir: «Welche Alternative haben wir?». Ich lebe in Jerusalem, der Hauptstadt des jüdischen Staates; meine Kinder lernen alle ihre Schulfächer auf Hebräisch, der Sprache der Torah, die im ganzen Land auch von den absolut nicht frommen Mitbürgern gesprochen wird, und dann halte ich einen Augenblick inne und denke nach: Wo waren wir vor 60 Jahren - und wo stehen wir heute? Ich versichere Ihnen, dass ich in diesen Momenten sehr schnell wieder meinen Optimismus erlange. Ich möchte abschliessend das Gebet vom Nachmittag des Schabbat zitieren, das lautet: «Du bist einzig - und Dein Name ist einzig - und wer ist wie Dein Volk Israel? Ein einziges Volk auf Erden». Ich zweifle nicht daran, dass unsere Gebete besser erhört werden, wenn wir Solidarität beweisen, dies ist die wesentliche Botschaft von Rosch Haschanah 5766.


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