Die «Hitnatkuth» - der Rückzug, dieser Euphemismus zur Bezeichnung der im August 2005 durchgeführten Zwangsausweisung von israelischen Staatsbürgern aus den jüdischen Gebieten von Gusch Katif durch die Regierung Sharon, wird in die Geschichte Israels eingehen als ein schwerer politischer Fehler, wie auch der Jom-Kippur-Krieg und die Osloer Verträge. Diese späte Einsicht wird Israel natürlich nicht die legitime Herrschaft über diese Regionen zurückgeben und die evakuierten Einwohner werden nicht wieder in ihre Häuser einziehen, die von den Bulldozern der israelischen Armee zerstört wurden. Um uns bei unseren Überlegungen zu begleiten und dabei zu erläutern, welche Folgen dieses einschneidende Ereignis haben wird, baten wir MOSCHE ARENS, den ehemaligen Verteidigungsminister und ehemaliger israelischen Botschafter in Washington, die neuen Gegebenheiten der politischen Realität in Israel zu analysieren.
Als erstes stellt sich natürlich die Frage, wie eine derartige Kehrtwende in Israel überhaupt möglich war?
Die Rechte hat es nicht geschafft, diesen Prozess aufzuhalten, weil es Ariel Sharon gelungen ist, eine Koalition zu bilden, der die gesamte Linke angehörte, was immerhin ca. 40% der israelischen Wählerschaft ausmacht. Danach war es ihm ausserdem möglich, diese Gruppe um rund 20% des Likud zu ergänzen, so dass er automatisch immer über die Mehrheit verfügte. Diese Koalition ist durch und durch ungewöhnlich, denn in der Regel besteht in der politischen Klasse kein Einvernehmen zwischen links und rechts. Auch wenn dieser Zusammenschluss eigentlich widernatürlich war, muss man zugestehen, dass er perfekt funktioniert hat. Um die Unterstützung dieser Mehrheit zu erhalten, hat sich Sharon wenig demokratischer Methoden bedient und hat die Entscheidungen seiner Partei, des Likud, völlig ignoriert, obwohl er sich verpflichtet hatte, sich an die Ergebnisse des parteiinternen Referendums zu halten. Im Kabinett sicherte er sich die Mehrheit, indem er Minister, die sich ihm widersetzten, kurzerhand entliess, und er gewann die Knesset für sich, indem Likudmitgliedern wichtige Posten (als Minister oder stellvertretende Minister) anbot. Mit dem Rückhalt dieser Mehrheit konnte seine Idee nicht mehr aufgehalten werden. Man muss sich klar machen, dass Ariel Sharon in gewissem Sinne leichtes Spiel hatte. Für die Mitglieder der Linken, die sich ihm anschlossen, ging es darum, den Beginn einer Politik zu konkretisieren, die letztendlich Israel wieder innerhalb der Grenzen zurückbringen soll, die vor dem Sechstagekrieg bestanden. Die Likudabgeordneten hingegen, deren Unterstützung er hatte, wurden durch persönliche Ambitionen angetrieben, vom Wunsch, einen Ministerposten zu behalten. Sie hatten keinen anderen triftigen Grund für ihr Handeln.
Gibt es einen einzigen einleuchtenden Grund, der die Auflösung von Gusch Katif rechtfertigt?
Meiner Ansicht nach gibt es keine einzige Rechtfertigung und ich bin überzeugt, dass er aus israelischer Sicht ein schwerwiegender Fehler ist, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Grundrechte der aus ihren Häusern vertriebenen Menschen auf widerwärtigste Art und Weise mit Füssen getreten wurden. Ein derartiges Vorgehen könnte heutzutage in keinem anderen demokratischen Land der Welt stattfinden. In der jüngeren Geschichte gab es nur ein Land, in dem Menschen mit Gewalt aus ihren Heimen umgesiedelt wurden, nämlich die USA, als japanische US-Bürger nach Pearl Harbour in Lager gesteckt wurden. Vor einigen Jahren hat sich der amerikanische Kongress entschuldigt und sagte, dieser Fehler hätte nie passieren dürfen und es handle sich um eine wesentliche Missachtung der Rechte der Opfer. Bei uns wurde dieser Verstoss noch durch die Tatsache verschlimmert, dass die Regierung die Armee eingesetzt hat, um diese Evakuierung mit Gewalt durchzusetzen. Dies hätte nie passieren dürfen. Die Volksarmee Israels hat die Aufgabe, das Land und seine Bürger gegen Feinde zu verteidigen und nicht in den Arm des Gesetzes verwandelt zu werden, vor allem nicht dann, wenn es sich um die Vertreibung von Bürgern aus ihren Heimen handelt. Einige jüngere Studien haben gezeigt, dass der Widerstand der jungen Soldaten gegen den Rückzug sehr viel stärker war als derjenige der breiten Öffentlichkeit. Was die Rechtfertigung dieses einseitigen Rückzugs angeht, hat Ariel Sharon eine Reihe von Erklärungen abgegeben, die weder hieb- und stichfest noch logisch sind.
Zur Veranschaulichung meiner Worte möchte ich einige dieser Erklärungen unter die Lupe nehmen. Die erste besagt, Sharon sei bereit gewesen Gusch Katif, die Dörfer im Norden des Gazastreifens und vier Dörfer im Norden Samarias zu opfern, um die Kontrolle Israels über die «Siedlungsblocks» zu garantieren. Diese Aussage, völlig sinnentleert, wie wir gleich sehen werden, beginnt in der israelischen Bevölkerung und Politik als politisch korrekt akzeptiert zu werden. Er versicherte, diese «Blocks» seien bis in alle Ewigkeit geschützt und würden durch Israel gründlich kontrolliert. Darüber hinaus sagte Ariel Sharon, er habe von Präsident Bush die Bestätigung betreffend die Integration dieser «Blocks» in Israel bekommen, falls eines Tages ernsthafte Verhandlungen zur Herbeiführung eines dauerhaften Friedens stattfinden sollten. In Wirklichkeit hatte sich Georges Bush in dieser Hinsicht nie zu irgendetwas verpflichtet, und heute muss man sich fragen, wo denn diese berühmten «Siedlungsblocks» überhaupt liegen. Ein kurzer Blick auf die Landkarte von Israel vor dem Rückzug reicht übrigens aus, um festzustellen, dass der grösste «Siedlungsblock» sich in Gusch Katif befand, der heute gar nicht mehr existiert. Wir sehen nichts anderes als eine Reihe von verstreuten Dörfern ein wenig überall in Judäa-Samaria. Ein ähnlicher Block in geringerem Ausmass befand sich im Norden des Gazastreifens und umfasste Nitzanit, Elei Sinai und Dugit, die ebenfalls verschwunden sind. Bleibt noch die Region von Gusch Etzion und Efrat, die in topografischer Hinsicht bei weitem nicht so zusammenhängend sind wie Gusch Katif es war. Wenn man Gusch Etzion und Efrat in die Grenzen von Israel einbeziehen will, bedeutet dies auch die Integration einer grossen Bevölkerung von arabischen Palästinensern. Es existieren folglich gar keine Siedlungsblocks mehr, die innerhalb der endgültigen Grenzen Israels aufgenommen werden könnten. Es gibt grosse Städte wie Ariel (bei Tel Aviv) und Maale Adumim (in der Nähe von Jerusalem, ich würde sie gern durch eine Reihe von zusammenhängenden Wohnhäusern mit der Hauptstadt verbunden sehen). Ausserdem bestehen einige andere grössere Dörfer entlang der grünen Linie, wie z.B. Modiin Eilith, Betar Eilith usw., die viele Menschen in Israel gern unter israelischer Kontrolle hätten. Dies beweist, dass das gesamte Konzept der «Siedlungsblocks» nur eine politische Fata Morgana war und dass der einzige, der wirklich existierte, zerstört wurde. Eine zweite theoretische Rechtfertigung besagt, die Beliebtheit von Israel nach dem Abschluss des Rückzugs werde weltweit sprunghaft ansteigen, sei es bei Chirac oder beim Aussenminister von Pakistan. Dabei handelt es sich jedoch um einen mageren und flüchtigen Lohn. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es sehr leicht ist, sich mit Hilfe von gefährlichen Zugeständnissen beliebt zu machen. Als ich Botschafter in Washington war, hätte ich mir meine Aufgabe erleichtern und Israel sehr populär machen können, indem ich Konzessionen aller Art zugestand, wie beispielsweise die Abtretung von Gebieten oder die Unterstützung bei der Schaffung eines Palästinenserstaates. Wir wären geschätzt und geliebt worden? für ganz kurze Zeit! Im Falle des Rückzugs aus Gusch Katif lautete die erste Reaktion von Condoleezza Rice: «Ein viel versprechender Anfang, aber immer noch zu wenig ». Wenn wir uns also auf Gusch Katif beschränken, wird unsere Beliebtheit sehr schnell auf den Nullpunkt zurückfallen. Die dritte Ausflucht, die wir im Zusammenhang mit dieser Tragödie zu hören bekamen, bestand aus der Behauptung, diese Evakuierung regle das demografische Problem Israels. Hat sich die demografische Situation seit dem Rückzug wirklich verändert? In Wahrheit nicht einmal um ein Tausendstel Prozent. Ich möchte die Aufzählung von Beispielen mit den Worten abschliessen, die dank Sharon in Israel zu einer sehr bekannten Wendung wurden, nämlich «wir müssen aus Gaza raus». Eigentlich haben wir ja Gaza schon vor 13 Jahren im Rahmen der Osloer Verträge verlassen. Es gab eine Zeit, als wir noch in Gaza selbst waren, in der Stadt, in den Flüchtlingslagern. Als Verteidigungsminister sprach ich mich damals dafür aus, dass sich die Armee aus Gaza zurückzieht, weil wir keinen Grund hatten, dort stationiert zu sein. Doch Gusch Katif liegt weit entfernt von Gaza. Man muss schon begreifen, dass die Distanz zwischen dieser Region und Gaza selbst derjenigen entspricht, die zwischen Kfar Saba und Tulkarem liegt. Wenn wir also konsequent sein wollen, müssten wir uns heute aus Kfar Saba «zurückziehen»? doch daran denkt natürlich niemand auch nur im Traum. Darüber hinaus muss man wissen, dass der Begriff «Rückzug» von denjenigen Israelis gern gehört wird, die oft verlauten lassen: «Wir wollen die Palästinenser nicht sehen. Sie dort, wir hier». Folglich ist alles willkommen, was die Israelis von den Palästinensern trennt? bis zu dem Zeitpunkt, da man merkt, wie nah Kfar Saba an Tulkarem liegt, und man sich klar wird, dass 1,2 Millionen Palästinenser in Israel leben und von der Staatsbürgerschaft profitieren. Die Idee, uns von den Palästinensern zu trennen, ist eine Illusion, die in Gusch Katif bestimmt nicht verwirklicht wurde. Gusch Katif befand sich nämlich überhaupt nicht in einer Region mit arabischer Bevölkerung (mit Ausnahme von Kfar Darom und Netzarim, zwei isolierten Ortschaften). Logisch gesehen hat es demnach gar keinen Rückzug gegeben, ausserdem ist keine der abgegebenen Erklärungen überzeugend.
Glauben Sie, dass die Bevölkerung von Israel sich von dieser traumatischen Erfahrung erholen wird?
Es gab, wie Sie wissen, zahlreiche Gründe, sich gegen den Rückzug auszusprechen. Doch ich denke, dass das Schlimmste, was dieses Ereignis mit sich bringt, die tiefe Zerrissenheit ist, die in einem grossen Teil der israelischen Bevölkerung entstanden ist. Die Bewohner der Gebiete, diejenigen, die sie unterstützen und sich mit ihnen identifizieren, sowie ein bedeutender Teil der gläubigen Gesellschaft, die so genannte moderne Orthodoxie, stehen heute dem Teil der Bevölkerung gegenüber, die für den Rückzug war. Die Gegner der Evakuierung von Gusch Katif machen aber einen grossen und sozial hoch stehenden Teil der israelischen Gesellschaft aus. Sie besitzen wichtige Positionen in der Armee, in der akademischen Welt und der Medizin, im Geschäftsleben usw. Ich bin der Meinung, dass diese Spannung, die heute zwischen beiden Lagern besteht, eine tiefe Kluft aufgerissen hat, von der sich Israel nur sehr langsam erholen wird. Daran werden all die salbungsvollen Reden und sinnentleerten Slogans, die wir heute hören und welche die Notwendigkeit beschwören, zusammen zu stehen und zueinander zu finden, nichts ändern.
Inwiefern wirkt sich diese Kluft in Ihren Augen als ehemaliger Verteidigungsminister Israels auf die Armee aus?
Es ist, wie ich bereits sagte, unzulässig, dass die Armee zur Durchführung dessen eingesetzt wurde, was eigentlich eine Polizeiaktion war. Falls man angenommen hat, dass die anwesenden Polizeikräfte nicht ausreichten, hätte man mehr Leute einstellen müssen, vor allem angesichts der Tatsache, dass sich die Regierung ein Jahr lang darauf vorbereiten konnte und über ein quasi unbeschränktes Budget verfügte. Der Riss innerhalb der Bevölkerung wird zweifellos auch in der Armee eine Narbe hinterlassen. Es würde mich nicht erstaunen, dass die Jugend aus dem Lager der Rückzugsgegner, die bisher zahlenmässig und auf hohem Niveau in den besten Kampf- und Eliteeinheiten sehr gut vertreten war, heute der Armee nicht mehr mit derselben Begeisterung beitritt. Dies wäre zwar verständlich, stellt aber für Armee und Land einen Verlust dar.
Der Rückzug liegt noch nicht lange zurück. Wie sehen Sie die politische Entwicklung in Israel?
Innerhalb des Likud existiert heute eine grosse Mehrheit von Parteimitgliedern, die den Rücktritt von Ariel Sharon wünschen. Diese Leute gehen davon aus, dass der Rückzug in jeder Hinsicht eine Katastrophe war, und sie möchten nicht, dass der Likud mit diesem Ereignis identifiziert wird. Dies bedeutet im Klartext, dass wir einen neuen Parteichef wählen werden, den wir als Kandidaten für die nächste Wahl des Premierministers aufstellen.
Auf der Ebene der nationalen Politik ist die Spaltung links-rechts nicht mit der Entstehung der Pseudokoalition verschwunden, die Ariel Sharon ins Leben gerufen hat. Wenn der Verzicht auf Gusch Katif sich auf eine einmalige Episode in Bezug auf die Abtretung von Gebieten und Evakuierung von Siedlungen beschränkt, wird die Linke aus der Regierung austreten. Wie alle Menschen, die Sharon heute bejubeln, ist sie der Ansicht, die Richtung sei nun vorgegeben und man müsse davon profitieren, um weiterzumachen. Ausserdem denkt sie, dass Israel, wenn es diese Entwicklung nicht fortsetzt, sich auf internationaler Ebene jämmerlich isolieren wird. Sollte aber die Führungsspitze des Likud ausgewechselt werden und wieder an die Macht gelangen, liegen die Dinge ganz anders, und es wird keine Evakuierungen mehr geben, weil die Linke diesen Schritt trotz aller Theorien nie auszuführen den Mut hatte. Bleibt aber Sharon an der Macht, wird es wohl leider zu weiteren gewaltsamen Evakuierungen kommen.
Sie sagen, der Likud könnte «wieder an die Macht gelangen», doch Ariel Sharon gehört doch dem Likud an, oder?
Genau da liegt der Zynismus der Erklärung von Sharon, die lautete: «Wenn der Likud die Spitze auswechselt, wird er die Macht verlieren». In Wirklichkeit ist er nicht mehr an der Macht, seit Sharon seine widernatürliche Koalition gegründet hat. Wenn der Likud regiert hätte, wäre es nie zu diesem Rückzug gekommen!
Immerhin war der Likud jahrelang an der Macht und hat nie etwas unternommen, um Gusch Katif ernsthaft zu besiedeln. Glauben Sie nicht, dass die Evakuierung unmöglich gewesen wäre, wenn 50'000 Juden in dieser Region gelebt hätten?
Glücklicher- oder unglücklicherweise wurde diese Region in erster Linie landwirtschaftlich genutzt, der Boden durfte aus diesem Grund zum grössten Teil nicht bebaut werden, weil jeder Bewohner eine bestimmte Parzelle befruchtbares Land zugeteilt bekam. Folglich war Gusch Katif schon so dicht besiedelt wie nur möglich. Ich ergreife die Gelegenheit, um zu betonen, dass der Verzicht auf Gusch Katif einen schweren Schlag für die israelische Landwirtschaft darstellt, da sie ein wichtiges Element darstellte. Vergessen wir nicht, dass hier eine vielfältige und technisch hoch entwickelte Landwirtschaft betrieben wurde.
Welche Vision haben Sie von Israel in fünf Jahren?
Ich war, wie Ihnen bekannt ist, ein erbitterter Gegner des Rückzugs. Unser Präsident, Mosche Katsav, dessen Aufgabe es ist, Einigung herbeizuführen, hat kürzlich erklärt, der Rückzug gefährde die Existenz von Israel nicht. Darin stimme ich mit ihm überein. Wir werden überleben, mit tiefen Narben zwar, die nur langsam heilen werden, doch wir werden auch ohne Gusch Katif weiter existieren. Israel ist auf militärischer und wirtschaftlicher Ebene, sowie in Bezug auf die Qualität seiner Bevölkerung, seine Motivation usw. ein sehr starkes Land. Wir haben die Möglichkeit, diese Prüfung zu überstehen und zu überleben. Sollten wir aber erst am Anfang einer langen Serie von Evakuierungen stehen, könnten wir effektiv die allmähliche Auflösung des Staates Israel miterleben. Wenn es so weitergeht, gelangen wir irgendwann gefährlich nahe an den Punkt, wo die eigentliche Existenz von Israel auf dem Spiel steht.
Denken Sie nicht, dass die Bevölkerung irgendwann STOPP sagen wird?
Wir haben eine sehr unterschiedlich denkende Bevölkerung, viele sind bereit, zu den Grenzen von Juni 1967 zurückzukehren, ein anderer, ebenfalls grosser Teil möchte an die Illusion glauben, dass wir nie einen realistischen und soliden Frieden haben werden, solange wir den Arabern nicht genügend Zugeständnisse machen. Sie gehen davon aus, dass ein winziges, in Frieden lebendes Israel ohne Terror und ohne Kriegsgefahr besser ist als ein grösseres Israel, dessen Bevölkerung dazu verdammt ist, ständig im Angesicht all dieser Gefahren zu leben. Wir haben ja gesehen, dass Ehud Barak, als er in Camp David vorschlug, den Tempelberg, unseren heiligsten Ort, im Tausch gegen eine endgültige Beilegung des Konflikts an die Araber abzutreten, dabei von vielen unterstützt wurde. Viele von uns möchten gern an solche Illusionen glauben, und sie sind sehr leicht zu überzeugen. Glücklicherweise ist es nicht die Mehrheit meiner Mitbürger, doch wir sind vor einer bösen Überraschung nicht gefeit.
Sind Sie der Meinung, dass der Rückzug auf einer allgemeineren Ebene einen Beweis von Schwäche darstellt, der gewisse arabische Länder zu einem neuen Krieg gegen Israel ermutigen könnte?
Natürlich wird dadurch der Terrorismus ermutigt. Es reicht schon, den Palästinensern zuzuhören, die offen aussprechen, dass der Rückzug einen Sieg verkörpere und beweise, dass sich Terrorismus auszahlt. Den Leuten, welche die Gründe Sharons für die Evakuierung nicht verstehen, sagen sie übrigens: «Es gibt eine ganz einfache Erklärung: es ist ein Sieg der Araber angesichts einer Kapitulation Israels».
Können Sie uns in Ihrer Eigenschaft als ehemaliger israelischer Botschafter in Washington und Spezialist des amerikanischen Umfelds erklären, wie Präsident Bush, der sich als Vorreiter im Kampf gegen den Terrorismus sieht, es zugelassen hat, dass Sharon eine Operation durchführt, die in Wirklichkeit den erbittert bekämpften Terror noch fördert?
Zahlreiche Israelis sagen, der Rückzug sei auf den Druck der Amerikaner zurückzuführen. Dem ist aber nicht so. Vor kurzem erklärte Präsident Bush in einem Interview, Sharon sei mit diesem Vorschlag zu ihm gekommen und er habe ihn nach eingehender Prüfung für gut befunden. Der amerikanische Präsident, der einem zu Zugeständnissen bereiten israelischen Premierminister einredet, dies sei eine schlechte Idee, wurde noch nicht geboren. Man darf auch nicht vergessen, dass die gegenwärtige Regierung im Irak ein Wespennest angestochen hat und in der arabischen Welt zahlreiche Probleme hat. Während Bush darüber hinaus angeschuldigt wird, Israel zu unterstützen, die Quelle aller Schwierigkeiten der Araber im Allgemeinen und der Palästinenser im Besonderen. Wenn er also einem israelischen Premier gegenübersteht, der zu bedeutenden Zugeständnissen bereit ist, die überdies einen grossen Schritt auf die arabische Welt zu darzustellen scheinen, gibt es für ihn keinen Grund abzulehnen. In gewisser Weise dienen diese Konzessionen den amerikanischen Interessen. Bush hätte nie die Initiative ergriffen, im Hinblick auf eine derartige Geste Druck auf Israel auszuüben; Israel hat sich freiwillig anerboten?
Für uns, die Juden der Diaspora, ist es kaum begreiflich, dass Juden aus ihren Häusern in Israel vertrieben wurden. Hätte eine derartige Aktion irgendwo anders auf der Welt stattgefunden, hätten wir sofort einen antisemitischen Skandal gewittert. Wie können wir unseren nicht jüdischen Freunden diese Vertreibung erklären?
Sie können sie nicht erklären, weil sie unverständlich ist. Es gibt jedoch in Israel ein völlig irriges Konzept, das allgemein akzeptiert und von vielen Israelis unterschrieben wird, und das besagt, dass jede Abtretung von Gebieten an die Araber vorher automatisch mit einer Auflösung jeder jüdischen Präsenz einhergehen muss, damit diese Gegenden «judenrein» sind. Dies steht in einem völligen Widerspruch mit den Werten, die in den westlichen Demokratien hochgehalten werden, vor allem aber mit den moralischen Grundlagen des Judentums. Es ist eine falsche und gefährliche Vorstellung.
Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass es nicht zu gewaltsamem Widerstand kam?
Für die Bewohner der Gebiete sind Staat und Armee sehr wichtige Werte, denen sie mit viel Achtung begegnen. Sie haben sich mit passivem und symbolischem Widerstand begnügt und legten dabei sehr viel Würde in ihrem Unglück an den Tag.
Es gibt keinerlei Rechtfertigung für den Rückzug, doch darüber hinaus wurde praktisch nichts vorgesehen, um die ausgewiesenen Menschen neu anzusiedeln. Ist dies Ihrer Meinung nach bewusst geschehen?
Ich denke vor allem, dass Ariel Sharon das Ausmass des Problems der Neueingliederung vollkommen unterschätzt hat. Es übersteigt bei weitem die simple Frage der Unterkunft. Es geht darum, Arbeit zu finden, damit Familienväter ihre Kinder ernähren können, den Gemeinschaften, deren in Gusch Katif gemeinsam aufgebautes Leben zerstört wurde, zu ermöglichen, wieder zusammenzufinden und dieses gemeinsame Leben weiterzuführen usw. Man kann doch den Leuten nicht sagen: «Da habt ihr Geld, kauft euch eine Wohnung». Damit wird kein einziges Problem gelöst, doch genau dies geschieht, und das ist ein Skandal. Wir laufen Gefahr, plötzlich «innenpolitische Flüchtlinge» zu haben, was wir verhindern müssen. Es sind übrigens einige private Initiativen entstanden, welche die Entstehung einer solchen Situation zu unterbinden versuchen.
Kommen wir zum Schluss. Bleiben Sie angesichts der jüngsten Ereignisse optimistisch in Bezug auf die Zukunft Israels?
Wir haben keine Wahl, wir müssen optimistisch sein. Was geschehen ist, hätte nie passieren dürfen, doch ich glaube an unsere Kraft sowohl als Individuen wie auch als Staat. Wir halten alles in der Hand und besitzen den Mut, diese schwere Zeit in unserer Geschichte zu überstehen und einer besseren Zukunft entgegenzugehen.
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