Als Professor DOVID KATZ im kleinen litauischen Dorf Utyan Frau Feygitchka Yoffe kennen lernte, hätte er sich nicht träumen lassen, dass er eine Geschichte hören würde, die aus der Zeit der Marranen zu stammen schien. Beim Einmarsch der Deutschen bot der Dorfpriester nämlich allen Juden an, auf Wunsch zum Christentum überzutreten, um den Nazis zu entkommen. Dieses Angebot wurde von ungefähr 40 Menschen angenommen, die sich fest vornahmen, ihre Konvertierung am Jom-Kippur-Tag von G'tt selber annullieren zu lassen. Als sich jedoch herausstellte, dass die Deutschen auch die konvertierten Personen verhafteten, fand der Glaubenswechsel gar nicht erst statt. Der Priester schlug Feygitchka jedoch vor, sie trotzdem zu taufen und sie in der Kirche zu verstecken, worin sie einwilligte. Nach kurzer Bedenkzeit bat sie den Pfarrer um die Erlaubnis, auch ihre Eltern zu holen. Unter Lebensgefahr organisierte er im Ghetto eine heimliche Begegnung und Feygitchka berichtete ihren Eltern von ihrem Plan. Feygitchka wiederholte die Antwort ihrer Mutter auf Jiddisch, die Dovid Katz völlig perplex liess: «Efscher is besser dort geyn – efscher is besser do bleïbn. Du gey meïn Kind. Mir veln do bleïbn, un mir veln zich treffen af yenne Welt.» (Vielleicht ist es besser zu gehen – vielleicht ist es besser zu bleiben. Du, mein Kind, geh nur, und wir werden uns im Jenseits wiedersehen).
Diese bewegende Geschichte beschreibt die Arbeit von Professor Dovid Katz und von seinem Team sehr gut. Womit beschäftigen sie sich aber nun genau?
Die Universität von Wilna, eine der ältesten und berühmtesten Lehranstalten auf höchstem Niveau, wurde 1579, einige Jahre nach der Einweihung der Grossen Synagoge der Stadt gegründet. Der Besucher ist von der Schönheit des Universitätsgeländes beeindruckt, das im Zentrum von Wilna liegt und eine Architektur aufweist, in der sich Gotik, Barock, Klassizismus und Renaissance auf angenehmste Weise miteinander verbinden. Weshalb aber sprechen wir in einem jüdischen Magazin von einer mittelalterlichen Universität in Nordeuropa? Ganz einfach, weil die Universität von Wilna seit dem Beginn des akademischen Jahres 1999 über ein besonderes und einzigartiges Institut verfügt, das «Center for Stateless Cultures», das Zentrum für Kulturen ohne Staat und ohne territorialen Ansprüche; die jiddische Sprache gilt als eines ihrer wichtigsten und am höchsten entwickelten Elemente. Dieses Zentrum wurde unter der Leitung der dynamischen und bemerkenswerten Persönlichkeit von Professor Dovid Katz im Rahmen der Fakultät für Geschichte ins Leben gerufen und entwickelt sich mit Riesenschritten weiter. Das Angebot an Kursen und kulturellen Aktivitäten ist sehr vielfältig.
Bevor wir uns aber dem Aspekt des Jiddischen selbst zuwenden, muss betont werden, dass dieses Zentrum das erste universitäre Institut ist, das sich ausschliesslich mit Kulturen beschäftigt, die weder über Armee und Marine, noch über politische Macht verfügen und weltweit keinen unabhängigen Status aufweisen. Ziel des Instituts ist es, akademische Programme in Forschung und Lehre auf hohem Niveau anzubieten, die sich mit fünf staatenlosen Kulturen befassen. Diese weisen eine langjährige und stolze Geschichte und Traditionen auf, decken einen grossen Teil Europas ab und gehen weit über das Konzept der politischen oder militärischen Grenzen hinaus. Es werden folgende fünf Bereiche studiert: die Karäer, die «Alten Gläubigen» (religiöse Splittergruppe welche die Erneuerungen der provoslavischen Kirche verworfen hat. Ihre Mitglieder haben die Traditionen der alten slavischen Kirche behalten. Diese Gemeinschaft wurde in Russland verfolgt und hat vor einigen hundert Jahren in Litauen eine Zufluchtsstätte gefunden), die Tataren, die Roma (Zigeuner) und schliesslich Jiddisch und jüdische Fächer. Sie alle sind historisch gesehen mit der Stadt Wilna, ihrer Region und den angrenzenden Ländern verbunden.
Doch neben der Arbeit, die vom Zentrum geleistet wird, hat eine seiner wichtigsten Mitarbeiter, Professor Dovid Katz, unsere Aufmerksamkeit erregt. Er wurde 1956 in Brooklyn geboren, wobei die jiddische Sprache in seiner Familie sehr präsent war, da sein Vater Menke Katz achtzehn Bücher mit Gedichten veröffentlicht hat – neun auf Jiddisch und neun auf Englisch -, die sich alle mit Litauen befassten, dem Land, in dem er geboren war. Dieser Schriftsteller, der als einziger jiddisch mit seinen Kindern redete, starb im Alter von 85 Jahren und verdient einige Minuten unserer Aufmerksamkeit, denn schliesslich ist sein Sohn Dovid indirekt dank ihm und seinen Gedichten in Wilna gelandet. 1906 in Svinstyan in Litauen geboren, verbrachte er einen Teil seiner Kindheit auf der Insel Michaleshik, wo seine Familie sechshundert Jahre lang gelebt hatte, bevor er im Alter von dreizehneinhalb Jahren nach New York reiste. 1932 gab er sein erstes Buch, «Drei Schwestern», heraus, das durch seinen freimütigen und freizügigen Ton mit den Themen des «realistischen Sozialismus» brach, der damals in jiddischen Literaturkreisen angesagt war. Sein Ruhm als Dichter wuchs weiter mit «Brenedik Shtetl» (Das brennende Dorf), in dem er den Weg von Michaleshik in die Lower Est Side nachvollzieht - eine ähnliche Geschichte haben Tausende Einwanderer erlebt – und das auch ein Gedicht in Bezug auf den Ersten Weltkrieg in Litauen ist. Sein Werk wurde von der «wohlgesinnten» jüdischen Linken heftig kritisiert und lächerlich gemacht, denn es liess die Rote Armee unerwähnt und sprach nur von seiner Grossmutter, die er zudem nie kennen gelernt hatte. Er antwortete seinen Angreifern in Form eines Buchs mit dem Titel «S’hot dos wort meïne bobe Moyne» (Meine Grossmutter Moyne hat das Wort). Als der kleine Dovid die Frage stellte, wie seine Reaktion auf die Schmähungen ausgefallen sei, sagte er: «Ich antworte nicht darauf, denn meine Grossmutter ist mir im Traum erschienen und hat mit das gesamte Buch hier mit den Antworten diktiert.» Doch kommen wir nun auf die Laufbahn von Professor Dovid Katz zurück. Er besuchte eine jüdische Schule in Flatbush, wo er hebräisch, aramäisch und den Talmud lernte und sich bewusst wurde, in welchem Ausmass man die jiddische Sprache in der jüdischen Gesellschaft Amerikas hasste. Im Alter von fünfzehn Jahren veröffentlichte er seine ersten Texte in der Zeitung «Yiddish Forward», wo er sehr vehement gegen das jüdische Schulsystem in den Vereinigten Staaten zu Felde zog, das Jiddisch aus seinem Lehrplan gestrichen hatte und diese Sprache sozusagen boykottierte. Er gründete eine Studentenzeitschrift auf Jiddisch mit dem Titel «Aleïchem Scholem», die zwei Jahre lang herauskam und 1974 den ersten Preis der American Scholastic Press Association gewann. Er studierte Sprachen an der Universität Columbia, wo er sich auf die linguistische Erforschung des Altjiddischen in Deutschland, im Elsass und in der Schweiz sowie auf die Ursprünge der Sprache und ihre hebräischen Elemente spezialisierte. Schliesslich schrieb er seine Doktorarbeit an der Universität von London. Sofort nach seiner Ankunft in England 1978 gründete er das «World Yiddish Institute» in Oxford, gab eine unglaubliche Zahl von Werken, Büchern und Artikeln heraus (die Liste füllt bis heute vier dichtbedruckte A4-Seiten…), die sich allesamt mit der jiddischen Kultur und Sprache befassen; unter ihnen im Jahr 1987 auch eine Grammatik des Jiddischen und einige Erzählbände, die sich meist mit dem Thema der Zerstörung der jüdischen Kultur in den litauischen «Schtetl» im vergangenen Jahrhundert auseinandersetzen. 1997 verliess Professor Katz die Stadt Oxford, um sich ausschliesslich seiner Arbeit in Litauen und in Weissrussland zu widmen.
1990 fand im Leben von Dovid Katz ein radikaler Einschnitt statt. Er reiste zum ersten Mal nach Litauen, ganz ohne sich Illusionen hinzugeben. Vor seiner Abreise hatte nämlich ein Freund zu ihm gesagt: «Du wirst nichts mehr vorfinden, denn was die Deutschen nicht zerstört haben, wurde von den Sowjets zunichte gemacht ». Wie gross war da nicht sein Erstaunen und seine Freude, eine Handvoll alter Juden zu treffen, davon sogar einen in Svinstyan! Er beschloss, öfter hierher zurückzukehren, und 1992 begann er nach dem Grab seiner berühmten Grossmutter «Moyne» zu suchen. Er hatte einen Monat dafür vorgesehen, doch zufällig stiess er auf einem nicht mehr genutzten Friedhof, der fast in einem Sumpf versunken war, in weniger als einer Stunde auf das Grab von «Moyne». Zusammen mit seinem Assistenten beschliesst er daher, die Gegend ein wenig zu besichtigen und nach jüdischen Überlebenden zu suchen. Sie machen in einem kleinen Dorf in Sandygore Halt, wo sie auf dem Marktplatz nachfragen, ob hier noch Juden wohnen. Nach vielen negativen Antworten bestätigt doch jemand: «Ja, es gibt da eine alte Jüdin, sie wohnt am Eingang der Stadt». Sie begeben sich zu der alten Dame, die in einer kleinen Holzhütte lebte und jiddisch sprach.
Für Dovid Katz ist dies eine bahnbrechende Entdeckung: «Wenn es noch eine Person gibt, müssen noch mehr hier leben», denkt er sich. Er beginnt ernsthafte Nachforschungen über denjenigen anzustellen, die er «surviving Shtetl Jews» (die überlebenden Juden der Dörfer) nennt. Er ruft ein Programm kleiner Expeditionen ins Leben, um die letzten noch jiddisch sprechenden Menschen in den Städten und Dörfern von Litauen, Lettland und vor allem Weissrussland zu entdecken, zu befragen und ihre Berichte aufzunehmen, diese wunderbaren Menschen, die Dovid Katz liebevoll als «die letzten Mohikaner» bezeichnet. Schon bei den ersten Forschungs- und Entdeckungsreisen begreift er, dass er unbedingt vor Ort ein Archiv mit Tonaufnahmen schaffen muss, auf denen das Leben und die Geschichte der letzten Überlebenden in jiddischer Sprache, mit leichten Abweichungen von Dorf zu Dorf, festgehalten werden. Im Bewusstsein, dass die letzte Generation von Überlebenden sehr bald nicht mehr existieren wird, gewährt die Stiftung Dora Teitelboim ein Stipendium, mit dem Dovid Katz zwei Expeditionen nach Weissrussland finanziert; dabei begleitet ihn der Filmemacher Saulius Berzhinis, um einen Dokumentarfilm zu drehen und diese Lebensberichte auf Zelluloid zu bannen. Gleichzeitig wird Dovid Katz an der Universität Yale zum Gastprofessor für Jiddisch ernannt.
Eine Begegnung mit Dovid Katz lässt niemanden unberührt. Er widmet sich mit Leidenschaft seiner Arbeit und seinen Nachforschungen und kämpft darum, dass diese Sprache und ihr unvergleichlicher Reichtum nie in Vergessenheit geraten, ohne dass er sich jedoch der Hoffnung hingibt, das Jiddische eines Tages wieder im alten Glanz erstrahlen zu lassen, wie dies vor dem Krieg der Fall war. In einem langen Gespräch haben wir ihn gefragt, welcher Aspekt seiner Arbeit ihn am meisten begeistere, und er antwortete uns: «Es sind natürlich die Forschungsreisen, auf denen ich diese letzten Überlebenden aufspüre und mit ihnen rede. Ich könnte stundenlang von Feygitchka Yoffe aus Utyan oder von Leeba Kresnitshna aus Mir oder auch vom letzten Juden in Radashkovitz erzählen, Awrom-Yankew Berchifand, der dem Milchmann Tevje von Shalom Aleïchem gleicht wie ein Ei dem anderen, oder von Elli Goldfand, dem letzten überlebenden Juden von Admur oder von einem anderen in Minsk oder in Kabik usw. usf. Ich muss aber auch sagen, dass die Leute, die im August jeweils an unserem Jiddisch-Seminar in Wilna teilnehmen und aus verschiedenen Ländern stammen – aus den osteuropäischen Ländern, aus Israel, Westeuropa, Australien oder den USA – mir ebenfalls Gelegenheit zu unglaublichen Begegnungen geben, denn das gemeinsame Interesse für ein jahrhundertealtes Kulturgut verbindet diese verschiedenen Abstammungen und machen den Kurs zu einem einzigartigen Erlebnis.
Abschliessend können wir bestätigen, dass Professor Katz und sein Team neben der Arbeit zu Gunsten der Bewahrung und Wiederbelebung der jiddischen Sprache uns an unsere Verantwortung gegenüber den Überlebenden und den alten Menschen in den osteuropäischen Ländern erinnern, die zum grössten Teil mit einer Rente auskommen müssen, die zwischen 50 und 100 Dollar beträgt. Die monatliche Überweisung derselben Summe würde es jedem dieser Überlebenden gestatten, einen angenehmen Lebensabend zu verbringen.
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