Im Sommer wird Wilna von ganzen Horden japanischer Touristen heimgesucht, die auf ihrem Rundgang durch das Stadtzentrum unweigerlich an der Gaono-Strasse vorbei kommen. Diese Gasse erhielt nicht den Namen des berühmten Gaon von Wilna, Rabbi Eliahu ben Schlomo Zalman (1720-1797), der die gesamte jüdische Literatur und Exegese nachhaltig und auf revolutionäre Art prägte, sondern wurde nur nach seinem jüdischen Titel benannt. Wenige Städte können sich weltweit rühmen diese Art von Strassen aufzuweisen. Doch in Wilna besitzt diese Tatsache Symbolcharakter und ist bezeichnend dafür, wie bedeutend das jüdische Leben im Verlauf der Jahrhunderte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hier war.
Die ersten Hinweise auf eine jüdische Präsenz in Wilna reichen ins 14. Jh. zurück. Zu dieser Zeit war es den Juden nicht gestattet, sich in der Stadt niederzulassen, sie durften hier nur arbeiten. Erst im 16. Jh. verlieh ihnen König Sigismundus III. das Recht, sich in unabhängigen Gemeinschaften mit einer bestimmten Struktur zu organisieren, eine Synagoge auf einem Privatgrundstück zu errichten und ein Stück Land zu erwerben, um einen Friedhof einzurichten. Sein Sohn Vladislovas IV. Vaza wies den Juden Strassen zu, in denen sie wohnen und Häuser kaufen durften. Die Grosse Synagoge wurde in den Jahren 1572-73 erbaut. Das jüdische Viertel wurde zwar als Ghetto bezeichnet, unterschied sich aber in jeder Hinsicht von den anderen Ghettos in Europa. Das erste abgeschlossene jüdische Quartier entstand 1941 auf Initiative der Deutschen, die gleich zwei von ihnen schufen; in dem einen, genannt das Kleine Ghetto, wurden 10'000 Personen eingepfercht, es war den alten Menschen, den Kranken und den Kindern ohne Familie vorbehalten, während das andere, das Grosse Ghetto, für die Gesunden bestimmt war.
An dieser Stelle kann unmöglich die ganze Geschichte Wilnas, auch «das Jerusalem Litauens» genannt, erzählt werden: in dieser Stadt wurden unzählige Rabbiner und Professoren ausgebildet, hier war die intellektuelle, künstlerische und wissenschaftliche Tätigkeit der Juden so rege, dass Wilna lange Zeit als das wichtigste geistige Zentrum des europäischen Judentums galt.
Im Verlauf eines Besuchs in den Überresten der Ghettos von Wilna ahnt man, ja ermisst man noch die Reichweite dieser für immer untergegangenen Welt der Spitzenleistungen. Doch diese «Welt der Spitzenleistungen» war um so beeindruckender, als dass sie auch von Schwierigkeiten und täglichen Prüfungen geprägt war, von Armut und Pogromen. Unter diesen besonders schwierigen Umständen ist das entstanden, was man «den Litvak-Geist» nennt. Mit Litvak bezeichnet man den litauischen Juden, der diese besondere geistige Einstellung besitzt, in der sich Ernst und tiefe Konzentration im Studium mit der Pflege des Details, dem Streben nach Qualität und der Effizienz in der Arbeit miteinander verband. Diese Mischung hat sich durchaus bezahlt gemacht, da sie die litauischen Juden dazu befähigte, widrige Umstände und Diskriminierungen zu überstehen. Während Jahrhunderten haben Generationen von Professoren, Ärzten, Künstlern und Mitgliedern anderer freier Berufe dank ihrer beruflichen Leistungen den Numerus clausus und alle anderen Formen der Erniedrigung bewältigt und überwunden.
Wilna war für die zahlreichen Jeschiwoth, für das Niveau der Talmudlehre, die Qualität der Infrastruktur der Gemeinschaft, ihre Verlage, ihre Druckereien und die heftigen Diskussionen über geistige Themen bekannt, die zwischen den Maskilim (Anhänger der Haskalah-Philosophie), den Mitnagdim (Rationalisten) und den Chassidim (Mystiker) ausgetragen wurden. In den Schulen und Gymnasien der Stadt herrschte eine Strenge, die höchstens vom anspruchsvollen Lehrplan übertroffen wurde, in dem der Unterricht in allen Fächern entweder auf Jiddisch oder auf Hebräisch erfolgte, so dass die Lehrbücher für Literatur, Mathematik, Physik usw. in beiden Sprachen geschrieben und gedruckt werden mussten. Die Stadt zählte aber auch viele Männer von grosser Empfindsamkeit zu ihren Einwohnern, deren unvergleichliche Schaffenskraft ihrer Kreativität entsprach. So stammten in der Gruppe, die allgemein als «École de Paris» bezeichnet wird, Maler wie Chaim Soutine, Mihail Kikoïne, Pincus Krémègne, Arbit Blatas, Mané Katz, Ossip Zadkine alle aus Litauen. Das Beispiel dieser Maler lässt sich auf alle anderen Bereiche der Kunst und der Weltliteratur übertragen: ein gewisser in Wilna geborener Kacew ist niemand anderes als Romain Gary!
Setzt man seinen Spaziergang durch die Strassen des ehemaligen Judenviertels fort, gelangt man zur berühmten Stickle-Gasse, die Strasse der Glaser, denn dieser Beruf war jahrhundertelang den Juden vorbehalten; noch heute heisst diese Strasse auf Jiddisch «Gläisergass». Es war den Juden kraft einer Verordnung verboten, in einem Handwerk tätig zu sein, für das es eine Zunft gab: diese standen nur den Christen offen. Da die Juden daraus ausgeschlossen wurden, hatten sie eigene Vereinigungen gegründet, und diejenige der Glaser war besonders einflussreich. Heute gibt es keine Glaser mehr, so wie es in der Strasse der Metzger, der «Katzevergass», auch keine Schlachter mehr gibt. Mit nur wenig Phantasie kann man sich vorstellen, wie das Leben in diesem Quartier ausgesehen haben mag, in dem in einem einzigen, aus sechs Häusern bestehenden Block zwischen dreissig und sechzig Synagogen und Gebetshäuser standen.
Ein Besuch im Ghetto beschränkt sich natürlich nicht auf vergangenes Leben. Die Bedeutung des jüdischen Viertels und der Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs sind nämlich nicht von der Hand zu weisen und sind es wert, an dieser Stelle kurz, wenn auch leider nur unvollständig, erwähnt zu werden.
So drängt sich ein kleiner und vereinfachter geschichtlicher Abriss auf. Im Oktober 1939 marschiert Sowjetrussland in Wilna ein und überträgt die Stadt an Litauen. Viele jüdische Flüchtlinge aus dem geteilten Polen (von den Deutschen bzw. den Russen besetzt) finden in Wilna Unterschlupf. Im Juni 1940 wird Litauen jedoch an Russland angeschlossen und die Sowjets beeilen sich, alle kulturellen Institutionen der Juden zu schliessen, die zionistischen Organisationen zu verbieten und die gesamte jiddische Presse durch eine einzige Parteizeitung mit dem Titel «Der Emes» (Die Wahrheit) zu ersetzen. Zahlreiche jüdische Aktivisten - Zionisten, Bundisten und Bürgerliche – werden in Lager im Landesinnern von Russland transportiert, einige von ihnen werden umgebracht.
Am 24. Juni 1941 marschieren die Deutschen in Wilna ein, wo man bereits mit der Hinrichtung von Juden begonnen hat, wie auch anderswo in ganz Litauen. Vor der Schaffung des geschlossenen Ghettos werden 35'000 Juden im Wald von Paneriai, ein Dutzend Kilometer von der Stadt entfernt, ermordet.
Am 6. September 1941 wird die restliche jüdische Bevölkerung in die zwei Ghettos, das Grosse und das Kleine, gepfercht. Letzteres wird nach 46 Tagen aufgehoben, nachdem seine Einwohner aus der Stadt gebracht und getötet wurden. Das Grosse Ghetto hingegen, in dem von Anfang an 29'000 Menschen zusammengedrängt leben, wird am 23. September 1943 nach drei Jahren und 17 Tagen aufgelöst; die 8'000 Überlebenden werden danach in die Vernichtungslager in Polen und Deutschland oder in verschiedene Arbeitslager in Lettland und Estland überführt.
Im Januar 1942 wird der Judenrat ins Leben gerufen, ab Juli desselben Jahres ernennen die Deutschen Jacob Gens, den Chef der jüdischen Polizei, zu seinem Oberhaupt. Auf diese Weise wird er zu einer der umstrittensten Figuren im Ghetto: einige sehen in ihm einen Verräter an der jüdischen Sache, andere sind der Ansicht, er führe die Befehle der Deutschen aus und tue dabei sein Möglichstes, um die Juden zu retten. Von der Gestapo angeklagt, den jüdischen Widerstand unterstützt zu haben, wird er am 15. September 1943 erschossen.
Bei der Hauptfrage, um die sich im Ghetto alles drehte, ging es um Leben und Tod: wie kann man überleben, wie kann man der Polizei aus dem Weg gehen und vor allem, wie erhält man einen «Schein», eine Genehmigung, die von den litauischen und deutschen Arbeitgebern für ihre jüdischen Angestellten ausgestellt wurden. Wenn ein Jude ein solches Dokument besass, wurde er in der Regel nicht verhaftet. Man muss sich im Klaren sein, dass dieses heimtückische System darauf abzielte, die Bevölkerung in Glückliche (die sich fälschlicherweise in Sicherheit wiegten) und Verlorene aufzuspalten. Erstere hüteten sich tunlichst zu protestieren oder sich zu wehren, während Letztere unter nagendem Neid und schwärzester Verzweiflung litten. Dank dem Hass und der Feindseligkeiten zwischen beiden Gruppen war es den Deutschen gelungen, ihr Ziel zu erreichen, nämlich Juden gegen Juden aufzuhetzen.
Der jüdische Widerstand, der sich aus sämtlichen politischen Organisationen der Juden im Ghetto bildete, entsteht 1942 unter dem Namen «Fareynigte Partizaner Organizatsye» (F.P.O) und wird von drei Helden geleitet: Itzchak Wittenberg, Joseph Glazman und Abba Kovner.
Für den Besucher, der durch die Strassen des Grossen Ghettos schlendert, ist die Erinnerung an die Leiden und das Heldentum der Juden in jedem Winkel, in jedem Haus fast mit Händen zu greifen. Einige Gebäude berichten auch davon, wie sich das Leben abspielte: hier ein Theater, in dem die besten jüdischen Solisten, Musiker und Künstler zum Spielen und Singen vor einem Nazi-Publikum gezwungen wurden – da die einzige Bibliothek, die in ganz Europa in einem Ghetto noch funktionierte – dort drüben das Haus, in dem sich Itzchak Wittenberg der Gestapo auslieferte in der Hoffnung, die Bewohner des Ghettos zu retten – noch ein Stück weiter das ehemalige jüdische Gefängnis und schliesslich die Gedenktafeln, die an die Daten der Reise in den Tod und an die Anzahl Menschen erinnern, die dieses schreckliche Schicksal erlitten. Es steht nicht fest, wie viele Juden getötet wurden. Man geht im Allgemeinen davon aus, dass 100'000 Einwohner von Wilna und aus der Umgebung auf diese Weise ums Leben kamen. Diejenigen, die nicht in Wilna starben, kamen in den Arbeitslagern um.
In Wilna ist immer noch Sommer, die japanischen Touristen strömen immer noch durch die Strassen des ehemaligen Jerusalem von Litauen und ahnen wahrscheinlich nicht, dass der Boden, über den sie gehen, mit dem Blut der Juden getränkt ist, deren vielfältige kulturelle und religiöse Vergangenheit unsere Geschichte nachhaltig geprägt hat. Sie ahnen auch nicht, dass die Qualen und die Vernichtung der Einwohner in der Geschichte der Schoah seinesgleichen sucht, da der Genozid an den Juden in Litauen vor dem Eintreffen der Deutschen begonnen hat und von den unmittelbaren Nachbarn der jüdischen Familien begangen wurde, die ihnen in vielen Fällen früher geholfen hatten.
|