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Inhaltsangabe Litauen Herbst 2001 - Tischri 5762

Editorial - Herbst 2001
    • Editorial

Rosch Haschanah 5762
    • Die Quellen der Hoffnung

Politik
    • Israel ohne politische Strategie

Interview
    • Pragmatismus und Optimismus
    • Terror und Strategie
    • Der Echte «neue Mittlere Osten»
    • Vollblutaraber !

Judäa – Samaria – Gaza
    • Kfar Adumim

Kunst und Kultur
    • Schätze
    • Mischa Alexandrovich
    • Simeon Solomon ( 1840-1905)

Wissenschaft und Forschung
    • Eine Rakete im Bauch !

Junge Leader
    • Der Chefkoch Avi Steinitz

Litauen
    • Unmögliche Palingenese
    • Neue Blüte oder Überlebenskampf?
    • Die Schule Schalom Aleïchem
    • Spitzenleistungen und Vernichtung
    • Paneriai
    • Ein Zeichen aus dem Jenseits
    • Ein lebendiges Zeugnis
    •  Weder Wilna - noch Wilno - sondern Wilne !
    • Mamme Luschen in Wilne!
    • «Dos is geven unser Glick !»
    • Litauen Quo Vadis ?
    • Litauische Zweideutigkeit
    • Erinnerung in Bildern

Ethik und Judentum
    • Zwischen Vorsicht und Panik

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Ein Zeichen aus dem Jenseits

Von Roland S. Süssmann
Eines der bestgehüteten Geheimnisse von Wilna ist höchstwahrscheinlich der wunderbare Schatz von fast 50'000 jüdischen Büchern, welche die Schoah und die Zerstörungen der Sowjets überlebt haben. Diese herrliche Sammlung gehört heute der Nationalbibliothek von Litauen. In Wilna gibt es unzählige alte jüdische Bücher, doch da diese über Jahre falsch katalogisiert wurden, sind sie nur sehr schwer zugänglich. Unter der sowjetischen Herrschaft wurden die hebräischen Bücher nämlich als russische und die jiddischen Bücher als litauische Werke registriert. Über diese Sammlung herrscht eine aussergewöhnliche Persönlichkeit, Frau ESFIR BRAMSON-ALPERNIENE, Direktorin der Abteilung für jüdische Literatur des Zentrums für Bibliographie und die Wissenschaft des Buches in der Nationalbibliothek von Litauen. Ihr Jiddisch wäre der schönsten Seiten der Literatur würdig und die Stunden, die wir mit ihr verbracht haben, vergingen wie im Flug.
Es ist eine interessante Tatsache, dass die Sowjets einem litauischen Bibliothekar den Auftrag erteilt hatten, alle jüdischen Bücher in die Papierfabriken bringen zu lassen, damit diese dort wiederverwertet würden. Dieser Bibliothekar namens Antanas Ulpiss beschloss, so viele jüdische Bücher, Manuskripte, Magazine und Publikationen wie nur möglich zu verstecken. Er stapelte sie in einer nicht mehr benutzten Kirche auf, die neben dem Zentrum für Bibliographie lag. Seit zehn Jahren beschäftigt sich Frau Bramson mit der Aufgabe, einen Katalog der jiddischen Bücher zu erstellen, während Larisa Lempertiene damit beauftragt wurde, die hebräischen Werke zu erfassen. Bis heute konnten diese Bücher weder der Öffentlichkeit noch den Studenten und Forschern zugänglich gemacht werden, und Sondergenehmigungen werden kaum vergeben.
Wir haben Frau Bramson, die von ihren Freunden liebevoll «Fira» genannt wird, getroffen und sie hat uns von «ihrer» Sammlung und von «ihrer» Arbeit erzählt.

Können Sie uns in wenigen Worten die Bedeutung des Druck- und Verlagwesens in Wilna in Erinnerung rufen?

Unsere Stadt ist schon immer ein Zentrum für Druckereien gewesen, sowohl im Bereich der Weltliteratur als auch in demjenigen der religiösen Bücher, von denen die ersten Exemplare vom Beginn des 19. Jahrhunderts stammen. Damals gehörte Wilna zum zaristischen Russland. Die berühmte Druckerei der Witwe Romm besass eine Sondergenehmigung, um Bücher für ganz Osteuropa zu drucken. Dazu möchte ich als Erklärung kurz hinzufügen, dass die russische Regierung 1836 alle jüdischen Druckereien schliessen liess, so dass der Verlag Romm als letzter jüdischer Verlag in Litauen und Weissrussland tätig sein durfte. Nach dem Tod von Yosef Reuben Romm im Jahr 1862 führte seine Witwe Deborah seine Arbeit weiter und vergrösserte das Unternehmen zusammen mit ihren beiden Schwägern. Zwischen 1867 und 1888 wurde die Druckerei immer erfolgreicher, sie schaffte moderne Maschinen an und erwarb zahlreiche Reproduktionsrechte und Manuskripte. Das Unternehmen gab zwischen 1880 und 1886 die Erstausgabe des berühmten Schass von Wilna mit über hundert Kommentaren und Anmerkungen heraus. Die Firma druckte und verkaufte religiöse Bücher in -zig tausend Exemplaren, gab aber auch volksnahe Bücher auf Jiddisch heraus sowie die Schriften der Jüdischen Bewegung des Lichts (Haskalah). Interessanterweise veröffentlichte der Verlag Romm zu Beginn der 1830er Jahre die ersten Bücher auf Jiddisch, kleine Bände, die für Frauen gedacht waren. Nach dem Tod von Deborah 1903 ging es bergab mit dem Unternehmen, die Erben verloren das Interesse und verkauften es 1910 an den Baron D. Guenzburg, der es später an Noah Gordon und Haïm Cohen veräusserte. Letztere stellten eine Ausgabe des Talmud von Jerusalem her. Die Druckerpressen der Witwe Romm waren bis 1940 in Wilna in Betrieb, doch beim Einmarsch der Sowjetrussen wurden sie konfisziert und in eine russisch-litauische Druckerei verwandelt.
Dieser kurze historische Abriss erklärt, wieso in Wilna bis zum Zweiten Weltkrieg so viele Bücher herausgegeben wurden. Ausserdem gab es in der Stadt eine Reihe von bemerkenswerten Bibliotheken, die sich sowohl durch die Quantität als auch durch die Qualität der vorhandenen Werke hervortaten. Zu ihnen gehörte auch die berühmte Bibliothek von Mathias Straschun, welche die schönsten Werke umfasste, da ihr Besitzer wohlhabend war und zu seinem privaten Studium eine Sammlung von äusserst kostspieligen und seltenen Werken zusammengetragen hatte. Er kaufte die schönsten Bücher, die auf der Welt herausgegeben wurden. Dieser Bücherliebhaber schenkte seine herrliche Sammlung mit 5700 aussergewöhnlichen hebräischen Werken, die er fast alle mit Anmerkungen versehen hatte, der jüdischen Gemeinschaft von Wilna, und die Bibliothek wurde von 1892 bis 1901 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Laufe der Zeit wurde die Sammlung durch immer mehr Bücher in hebräischer oder jiddischer Sprache ergänzt, die vor allem aus den Bibliotheken verstorbener Schriftsteller oder Rabbiner stammten. Ab 1928 liess ihr die Universität Wilna ein Exemplar jedes in Litauen oder Polen auf Hebräisch oder Jiddisch publizierten Buches zukommen. Als die Sammlung 1941 zerstört wurde, umfasste sie 35'000 Bücher, 150 Handschriften und 5 Inkunabeln. Die Deutschen vernichteten einen grossen Teil der Bibliothek und brachten den Rest nach Deutschland. Nach dem Krieg wurden mehrere tausend Bücher in Frankfurt gefunden und zwischen der Bibliothek des YIVO in New York und der Nationalbibliothek von Jerusalem aufgeteilt. Da Mathias Straschun keine Erben hatte, vermachte er in seinem Testament der jüdischen Gemeinschaft von Wilna nicht nur seine sagenhafte Sammlung, sondern auch ein Haus an der berühmten «Gläïsergass» (Glasergasse) und eine Geldsumme, damit die Gemeinde eine grössere Bibliothek bauen und noch mehr Werke erwerben konnte. In Wilna gab es in der Zwischenkriegszeit sechs jiddische Tageszeitungen aller politischen Ausrichtungen, ganz zu schweigen von der grossen Zahl regelmässig erscheinender Zeitschriften, Wochenzeitungen und monatlich herausgegebener Publikationen. Ausserdem existierten bis 1940 in Kovno (Kaunas) ebenfalls sechs Tageszeitungen in jiddischer Sprache. 90% der Zeitungen wurden in Jiddisch herausgegeben, denn die Leute beteten zwar auf Hebräisch, sprachen zu Hause aber jiddisch. Als Litauen 1940 zu einer Republik unter sowjetischer Verwaltung wurde, wurden alle jiddischen Blätter bis auf eins geschlossen. Die letzte Nummer dieser Veröffentlichung erschien im März 1940 mit der Schlagzeile auf der ersten Seite, dies sei nun die letzte Ausgabe.

Sie haben uns von der Bibliothek Straschun erzählt; was ist aus den anderen grossen Sammlungen jüdischer Bücher geworden, die vor dem Krieg in Wilna existierten?

Die Bibliothek Straschun galt zwar im Hinblick auf die Qualität der Werke als die grösste Sammlung, doch diejenige der Organisation «Meficeï Haskalah» übertraf sie in Bezug auf die Quantität. Bei dieser Kollektion handelte es sich letztendlich um eine recht zusammengewürfelte Anhäufung von geschenkten Büchern, Erbschaften von Bibliotheken, der Sammlung der Gemeinschaft und dem Ergebnis verschiedener Erwerbungen. Eine Regel besagte, dass jedes in Litauen oder Polen auf Hebräisch oder Jiddisch erscheinende Werk automatisch von der Bibliothek gekauft wurde. Die dritte umfangreiche Bibliothek war diejenige des YIVO, die 1925 gegründet wurde, bei der vierten handelte es sich um diejenige für Kinder, die eine eindrückliche Zahl von Werken umfasste, die speziell für die Jugend herausgegeben worden waren. Auch in diesem Fall waren fast alle Bücher auf Jiddisch verfasst worden. Interessanterweise schwankte der Anteil an hebräischen oder jiddischen Büchern in der Kinderbibliothek je nach der Anzahl Schulen und folglich der Anzahl Leser in der jeweiligen Sprache. Die Bibliotheken wurden aufgrund der Bedürfnisse der jungen Kundschaft beliefert, und zu einem bestimmten Zeitpunkt gab es mehr hebräische Schulen und «Chadarim», in denen der Unterricht auf Hebräisch erteilt wurde, als jiddische Institute. Mit der Zeit gab es immer mehr jiddische Schulen, die Kinder und Jugendlichen traten den verschiedenen Jugendbewegungen bei, die oft politisch ausgerichtet waren oder dem Bund nahe standen. Die Bücher, die wir heute noch haben, sind in Wirklichkeit ein kleiner Rest aus allen vier Bibliotheken, der überlebt hat.
Als die Juden von Wilna 1941 ins Ghetto gepfercht wurden, nahm fast jede Familie die Bücher mit, die ihr am meisten bedeuteten. Die Strasse, in der sich die Bibliothek der Organisation «Meficeï Haskalah» befand, die schon vor dem Krieg existiert hatte, lag innerhalb des Ghettogebiets. Auch Hermann Krugh, der ein Tagebuch über den Alltag im Ghetto führte, arbeitete in dieser Bibliothek. Er machte bekannt, dass die Bibliothek vergrössert werden könnte, wenn die Leute ihre Bücher brächten. Dieser Bücherzuwachs verlieh der Bibliothek neuen Aufschwung und im Verlauf der ersten sechs Monate verzeichnete sie zehntausend Leihbewegungen. Man muss sich klar machen, dass die Bücher von den Bewohnern des Ghettos als Lichtblick empfunden wurden, da sie dank der Lektüre dem schrecklichen Alltag, dem Druck und dem Blick in eine unsichere Zukunft entfliehen konnten. Als man das Ghetto auflöste, wurden die meisten Bücher zerstört und nach Angaben der Zeitung von Krugh haben nur 5% der Werke diese Vernichtungsaktion überlebt.

Es ist bekannt, dass das Ghetto von Wilna als einziges über eine funktionierende Bibliothek verfügte. Wie erklären Sie sich dies?

Dieses Phänomen ist in jeder Hinsicht recht unverständlich. Dazu muss gesagt werden, dass sie mit der offiziellen Zustimmung der Ghettopolizei betrieben wurde, die jedes Buch mit einem Stempel in zwei Sprachen, nämlich auf Deutsch und Litauisch, versah, der die Genehmigung des betreffenden Buches bestätigte. Die Gestapo kontrollierte alle Bücher, doch mehrere Bücher, die in anderen Ländern von den Nazis verbrannt wurden, kamen in den Ruinen der Bibliothek, versehen mit dem Genehmigungsstempel wieder zum Vorschein. Auf den ersten Blick scheint dies ziemlich unlogisch, doch in den Augen der Deutschen waren die jüdischen Bücher, wie die Juden selbst, bereits dem Tod geweiht. Daher war es unnötig, die Kontrolle, d.h. die Zensur, auf strenge Weise durchzuführen. Die Deutschen hatten überdies beschlossen, in Frankfurt ein Institut «der verschwundenen Rasse» zu gründen, das untersuchen sollte, wer die Juden gewesen waren. Um eine möglichst grosse Dokumentation zusammenzutragen, fanden überall in den besetzten Zonen Beschlagnahmungen von jüdischen Büchern statt. Die erste Bibliothek, die davon betroffen war, befand sich in Wilna. Die Auswahl in Bezug auf Inhalt und Sprache und natürlich auch auf den Wert der Bücher erfolgte durch Experten, oft durch zwangsverpflichtete jüdische Intellektuelle. Eine Brigade von jüdischen Intellektuellen war gegründet worden, um die Sammlung des YIVO zu sortieren, wo sich die Bücher und Publikationen häuften. Die Auswahl entsprach derjenigen, die auch bei den Menschen getroffen wurde: diese mussten sterben – jene durften leben. Dieses Buch wurde erlaubt – jenes Buch kam in die Papierfabrik, um rezykliert zu werden. Unter den Experten, die von den Nazis eingestellt wurden, befand sich auch der berühmte Schriftsteller und Dichter Abraham Sutzkever. Die Männer waren sich des Umfangs der kulturellen Katastrophe bewusst, an der sie gegen ihren Willen beteiligt waren. Sie beschlossen daher, Widerstand zu leisten und diejenigen Bücher verschwinden zu lassen, indem sie sie in die Ghettobibliothek brachten, wo sie versteckt wurden. A. Sutzkever hatte die Erlaubnis erhalten, Papier mitzunehmen, um im Ghetto Feuer anzuzünden, denn der Winter war eisig kalt. Natürlich kam es überhaupt nicht in Frage, Manuskripte zu verbrennen, die oft vor Hunderten von Jahren von Rabbinern geschrieben worden waren. Den zwangsverpflichteten Intellektuellen gelang es auch, den Kontakt mit den gelehrten und akademischen Kreisen von Litauen aufzunehmen, die sich bereit erklärten ihnen beim Verstecken und Verschwindenlassen einiger Werke zu helfen. Ein Teil der jüdischen Kultur von Wilna, die vor der Schoah in vollem Glanz erstrahlte, konnte so gerettet werden. Trotz der herrschenden Unterdrückung und der harten Zeiten kam es auch zu anderen diskreten Heldentaten. Eine ehemalige Sekretärin der Universität, Ona Schymaite, hatte die Erlaubnis erhalten Papiere und Bücher aus dem Gebäude des YIVO, das ausserhalb des Ghettos lag, in die Ghettobibliothek zu bringen. Da sie mehrere Koffer dabei hatte, füllte sie diese mit Büchern und auch mit Nahrungsmitteln und schmuggelte alles ins Ghetto. Jedes Mal, wenn sie das Ghetto verliess, versteckte sie ein Kind in einem Koffer und rettete ihm so das Leben. Niemand weiss, wie viele Kinder auf diese Weise gerettet wurden. Schliesslich wurde sie von den Deutschen verhaftet, welche die Nahrungsmittel fanden, und wurde in ein Lager nach Deutschland geschafft. Nach dem Krieg liess sie sich in Paris nieder, wo sie bis an ihr Lebensende wohnte. Im Rahmen ihrer Arbeit im YIVO hatte sie es geschafft, Bücher und Dokumente zu verstecken. Nach dem Krieg schrieb sie einen langen Brief an das YIVO von New York und gab genau an, wo sich diese Verstecke befanden. Doch wegen des Kalten Krieges war es sehr schwer die Bücher wiederzufinden.

Nach dem Krieg herrschten die Sowjets über Litauen. Welches Schicksal erwartete die jüdischen Bücher nun?

Es kam zu zahlreichen Vorfällen, insbesondere zur Schliessung des jüdischen Museums und zur Auflösung seiner Sammlung. Was uns betrifft, gab es hier eine Institution namens «Buchpalast», die später zum bibliographischen Zentrum wurde, das heute zur Nationalbibliothek gehört. Zahlreiche jüdische Werke, Veröffentlichungen und Papiere wurden hierher gebracht, um zuletzt doch in den Papierfabriken zu enden. Ein Bibliothekar namens Atanas Ulpiss, der eigentlich der Kurator dieses Instituts war, setzte sich dafür ein alles zu retten, was in jüdischer Sprache und in hebräischen Buchstaben geschrieben war, ohne jedoch zu wissen, ob es sich um Jiddisch oder Hebräisch handelte. Er fand und rettete so einen kleinen Teil des Archivs des YIVO. Im Laufe der Jahre haben fünfzig jüdische Bibliothekare im Buchpalast gearbeitet. Ulpiss zeigte ihnen diskret den Ort, wo sich die riesigen Stapel mit dem von ihm geretteten jüdischen Material befand, und bat sie inständig diese unübersichtliche Menge von Büchern und Dokumenten zu sortieren und zu registrieren. Da er seinen «Schatz» offiziell anerkannt wissen wollte, stellte er eine Auswahl von 21 mit Papieren gefüllten Kartons zusammen, die er jüdischen Journalisten zeigte, die mit ihm in der russischen Roten Armee gekämpft hatten; auf diese Weise kam ein Teil dieser vielseitigen Kollektion wieder ans Licht und konnte offiziell registriert werden. Doch als Breschnjew an der Macht war, waren die Freiheiten immer noch sehr stark eingeschränkt, und die Öffentlichkeit wurde nur über die 21 Pakete informiert. Nach Anbruch der Perestroïka wandte sich das Blatt und es war sehr bald möglich, die Existenz der vom Bibliothekar Ulpiss geretteten Stapel offiziell bekannt zu geben. Ich habe meinerseits am 1. März 1990 mit der Arbeit begonnen und habe allmählich die Stücke registriert, die sich leider in einem sehr schlechten Zustand befanden und zum Teil verschimmelt waren.

Wie hat sich die Situation seit der Unabhängigkeit entwickelt?

1993 hat die litauische Regierung beschlossen die Räume, in denen wir arbeiten, ein ehemaliges Kloster, ihren eigentlichen Besitzern zurückzugeben, d.h. der Kirche. Während wir den Umzug vorbereiteten, wies jemand darauf hin, dass sich in der unbenutzten Kirche ein riesiger Stapel von Zeitungen befinde, der fast bis zur Decke reiche. Da wir als staatliche Organisation nie etwas wegwerfen, wurde ein Team zum Sortieren des Stapels abgeordnet. Wie gross war nicht die Überraschung, als man hinter dem Stapel viele Dutzende von Schachteln vorfand, die Werke in hebräischer Schrift, Bücher und Publikationen enthielten! Als ich persönlich die Kisten sah, war es für mich, als ob die Opfer der Massengräber von Paneriai wieder auferstanden wären. Es war wie ein Zeichen aus dem Jenseits! Damit Sie sich eine Vorstellung machen können: es waren 800 Kilo Dokumente! Zwischen dem YIVO in New York und unseren lokalen Behörden spielte sich später ein Streit voller Missverständnisse ab. Schliesslich einigte man sich und beschloss, dass die Dokumente aus dem Archiv nach New York geschickt werden könnten, dass aber die Bücher geistiges Eigentum des Staates Litauen blieben. Die Dokument wurden dem YIVO von New York jedoch nicht für immer überlassen, sondern wurden ihm für zwei Jahre anvertraut, um in dieser Zeit sortiert, katalogisiert und fotografiert zu werden. Danach müssen die Originale mitsamt einer Kopie an uns zurückgeschickt werden. Diese Operation wird vom YIVO in New York finanziert.
Wie ich bereits gesagt habe, befinden sich bei uns zahlreiche Bücher, die trotz der verschiedenen Zerstörungsversuche gerettet werden konnten. Wir besitzen aber auch die Werke, welche die Deutschen nach Frankfurt geschickt hatten, um das Institut «der verschwundenen Rasse» zu gründen. Letztendlich sind wir immer noch da, und ausserdem hat auch ein grosser Teil unseres heiligsten Kulturguts zusammen mit uns überlebt.


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