OHNE POLITISCHE STRATEGIE
Ich habe einen Fehler gemacht. Ein Politiker wird diese Worte sozusagen nie aussprechen: ich habe einen Fehler gemacht. Ariel Sharon hat sich jedoch letzthin in einem ganz speziellen Kontext dazu durchgerungen: als er die jüdischen Siedlungen in Judäa, Samaria und Gaza aufsuchte, hat er nach der Erwähnung seiner Pionierrolle bei der Gründung dieser Städte und Dörfer tatsächlich im Wesentlichen Folgendes festgehalten: «Damals betonte ich vor allem die existentielle und defensive Bedeutung der jüdischen Präsenz in diesen Gebieten. Doch ich hätte ihre wesentliche Dimension, die Bekräftigung des Rechts aller Juden hier zu leben, noch viel stärker hervor streichen müssen. Ja, in diesem Punkt habe ich einen Fehler gemacht».
Die wesentliche Dimension, die Betonung des «natürlichen und historischen Rechts» des jüdischen Volkes, um es mit den Worten der Unabhängigkeitserklärung auszudrücken, wird aus zwei Gründen wieder aktuell: da ist einerseits das auf Tatsachen beruhende Gefühl, dass Israel in gewisser Hinsicht wieder auf dem Stand von 1948 angelangt ist; und andererseits die systematische Verleugnung dieses Rechts durch die palästinensischen Feinde. Nach einigen Monaten des Schweigens erklärte Barak Mitte August, «dass Arafat die Existenz des jüdischen Volkes und daher die Rechtmässigkeit des jüdischen Staates nicht anerkannt habe». Der gesamte Osloer Prozess, der auf der Hoffnung einer gegenseitigen Anerkennung, der angeblichen Abschaffung der palästinensischen Charta, der scheinbar rationellen Idee des notwendigen Kompromisses beruhte, war mit anderen Worten nur Illusion, Chimäre und Vorspiegelung falscher Tatsachen. Barak ist jedoch nicht so weit gegangen einen Fehler zuzugeben.
In einem Artikel in «Le Monde» (am 20. August) sprach Robert Badinter von der «angsterfüllten Vorahnung der Israelis, dass für ihre Feinde letztendlich jedes Abkommen nur ein Schritt in Richtung ihres obersten Zieles ist: die Zerstörung Israels». Doch der ehemalige Justizminister bezeichnete dieses Gefühl als einen «psychologischen Faktor» des Konflikts. Leider geht es hier aber nicht um Psychologie, obwohl diese Dimension einen gewissen Stellenwert besitzt. Man muss den Dingen ins Auge sehen, den Worten, vor allem auf Arabisch, aufmerksam zuhören, und endlich begreifen, dass keine Wortklauberei betrieben wird. Die Hoffnung, welche die Palästinenser hegen, die Hoffnung, die man ihnen in der Ferne immer als Verheissung hinstellt, besteht in einem ersten Schritt aus der Schaffung eines eigenen Staates neben Israel, und später, in nicht allzu ferner Zukunft, aus der Auflösung des «zionistischen Gebildes», das durch das Eingeständnis seiner angeblichen «Verbrechen gegen die Menschheit» moralisch geschwächt ist, von der öffentlichen Meinung in den westlichen Staaten abgelehnt wird, anfällig geworden, von inneren Zweifeln zerfressen ist und schliesslich vom triumphierenden arabischen Bevölkerungsanstieg erstickt wird.
Diese Tatsachen zu akzeptieren ist schwer, fast unmenschlich. Das vergangene Jahr war für die Israelis aller politischen Ausrichtungen eine Prüfung und eine Lehre. Doch das Bedürfnis eines jeden Einzelnen auf Hoffnung hat dazu geführt, dass die geringste Information über eine mögliche Entspannung, über eine beginnende Beruhigung oder gar eine Lösung der Utopie von Oslo wieder Flügel verleiht – einige Tage oder einige Stunden lang. Die desorientierte israelische Linke bedient sich jeder zweideutigen Annäherung an die Verhandlungen von Camp David, jeder «positiven» Absichtserklärung eines zweitrangigen palästinensischen Politikers, um zu versichern, es sei nichts verloren, ein wenig guter Wille von Israel sei ausreichend, und wenn man die Gespräche «über die grundlegenden», in Taba beschlossenen Konzessionen kurz vor den Wahlen von 2001 (97% der Gebiete, ganz zu schweigen von Jerusalem) wieder aufnähme, könnte man bestimmt ein realistisches Abkommen abschliessen.
Doch die grosse Mehrheit der Israelis glaubt nicht mehr daran. Die Tatsache, dass die Regierung Sharon im Hochsommer etwas ihrer Popularität zu verlieren schien, mochte hauptsächlich darauf zurückzuführen zu sein, dass zahlreiche Bürger ihr vorwarfen zu nachgiebig, zu passiv zu sein, zu viel Wert auf die Verurteilungen der Europäer und Amerikaner zu legen, und dies angesichts der alltäglichen Gewalt, mit der das Land überall konfrontiert wird. Und die meisten Israelis sind heute der Ansicht, dass ein Angriff gegen eine abgelegene Siedlung in Samaria in ihren Augen einem Angriff gegen Tel Aviv entspricht.
Der wichtigste Vorwurf, den man begründeterweise dieser Regierung der nationalen Einheit machen könnte, ist das Fehlen einer klaren Politik, einer politischen Strategie mit eindeutigen Zielen. Die erzwungene Koexistenz von Peres und Sharon ist zweifellos zum Teil für diese Art des Versagens verantwortlich, doch man kann durchaus davon ausgehen, dass Sharon auch ohne diese Einschränkung nur mit viel Mühe sagen könnte, wohin er geht und mit welchem Ziel. Einige Minister des engeren Kabinetts geben es zu: die Regierung befasst sich mit dem Alltag, reagiert jeweils auf ein Ereignis, hofft oder gibt vor zu hoffen, dass der Feind eines Tages nicht mehr kann, seine Fehler eingesteht, vielleicht eine Änderung an der Führungsspitze vornimmt, eine Art Waffenstillstand oder ein Abkommen der Nichtkriegsführung akzeptiert. Dies alles aber ohne eigentliche Überzeugung. Dass es keinen «grossen Plan» gibt, wenn Bomben explodieren, das ist verständlich. Doch es ist weniger verzeihlich, nicht einmal ein politisches Ziel zu haben, sich auf ein taktisches Vorgehen zu beschränken, wenn man den Israelis eigentlich eine umfassende Vision, eine Zukunft bieten sollte.
Dieses Vakuum lädt – wie könnte es anders sein – zu einer Flut von guten Ratschlägen ein. Fast täglich geben Politiker, Akademiker, Medienleute, Schriftsteller ihren Senf dazu, schlagen ein Programm vor, man sollte dies oder jenes tun, jeder hat eine Wunderlösung.
Ordnet man die wichtigsten dieser Vorschläge ein wenig, kann man vier Hauptstrategien herauskristallisieren, welche den Appetit – oder die Angst – der Israelis nähren.
a. Oslo wird nicht beerdigt. Arafat versucht, weil er höchstwahrscheinlich keine andere Wahl hat, seine Positionen zu verbessern, durch Gewalt einige zusätzliche Zugeständnisse zu ergattern. Seine ideologischen Tiraden und seine giftige Propaganda dürfen nicht wörtlich verstanden werden. Man muss ihn und sein Umfeld folglich schonen, vor Ort durchhalten, wozu Israel durchaus in der Lage zu sein scheint, und schliesslich die Verhandlungen wieder an dem Punkt aufnehmen, an dem sie stehen geblieben waren, d.h. den Plan Clinton zur Anwendung bringen, nachdem er zu Gunsten der Palästinenser abgeändert wurde.
b. Der Plan Clinton ist, mit einigen Anpassungen, in der Tat unumgänglich, doch die Parteien können zu keinem Abschluss gelangen, da ihnen auf Grund des innenpolitischen Drucks, der sich widerspricht und sich dadurch aufhebt, die Hände gebunden sind. Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Vereinigten Staaten und Europa, muss eingreifen, Druck ausüben, vor allem auf Arafat, und eine Lösung aufzwingen. Israel muss sie dazu ermuntern. Die Rettung wird demnach von aussen kommen.
c. Es gibt keine Lösung auf der Grundlage der Osloer Abkommen. Es war alles nur eine Täuschung, eine Falle, aus der Israel sich heute zu befreien versucht. Es ist zwar schon spät, doch besser jetzt als nie. Das erklärte Ziel muss der Zusammenbruch der palästinensischen Autonomiebehörde sein, die Rückkehr zum Statu quo ante Oslo, ernsthafte Verhandlungen mit den Vertretern der lokalen Bevölkerung über eine sehr weitreichende administrative Autonomie. Israel kann nicht mehr anbieten, wenn es seine lebenswichtigen Interessen wahren möchte.
d. Die einseitige Trennung. Diese Idee besitzt gegenwärtig die Gunst sowohl der Linken als auch der Rechten. Sie beruft sich auf die Formel von Barak «wir hier, sie dort», die mit einer Prise Arroganz das Ergebnis einer verhandelten politischen Trennung umschreiben sollte. Doch da die Verhandlungen scheiterten, da jede Aussicht auf einen Dialog zunichte gemacht wurde, muss Israel die Initiative ergreifen und unilateral eine Linie festlegen, hinter die sich seine Armee und die Zivilbevölkerung in den Gebieten zurückziehen. Dabei muss bestimmt auf eine Reihe von jüdischen Siedlungen verzichtet werden, vor allem im Gazastreifen, doch es entsteht eine zusammenhängende, wenn auch provisorische Grenze, in deren Verlauf eine Mauer, eine Barrikade, ein Zaun, kurz irgendein Hindernis errichtet würde – um die Trennung deutlich zu markieren. Eine derartige Initiative würde drei Vorteile aufweisen: die Sicherheit wäre besser gewährleistet, die Gefahr der rasanten palästinensischen Bevölkerungsexplosion wäre gebannt, und schliesslich würde Israel sich selbst und der Welt beweisen, dass es eine Lösung zu suchen gewillt ist, die den Palästinensern - selbst gegen ihren Willen - ein Verwaltungsgebiet und einen Staat zur Verfügung stellt.
Natürlich stösst jede dieser «Lösungen», jede Strategie auf begeisterte Verfechter, aber auch auf erbitterte Gegner. Vor allem die letzte, weil sie von denen geschätzt wird, die den Palästinensern feindlich gegenüber stehen und daher jedem zustimmen, der behauptet zu wissen, «wie man sie los wird», und weil sie von den politischen Freunden Sharons wie auch Peres heftig kritisiert wird, die sich beide aus unterschiedlichen Gründen gegen diese Idee der erzwungenen Trennung aussprechen. Keine Mauer, so sagen sie, hat je einen Terroristen aufgehalten. Andererseits würde sich das so entstandene arabische Staatsgebilde automatisch in einem verdeckten und beständigen Konflikt mit Israel befinden; und schliesslich würde es bedeuten, dass Gewalt belohnt wird, da Israel unter dem Druck des Terrors Gebiete abträte und auf Rechte verzichtete, ohne durch eine politische Absprache dazu gezwungen zu sein. Dies würde eigentlich für eine zusätzliche Runde sprechen.
Die Suche nach einer neuen Idee, die zwar vage ist, jedoch realisierbar erscheint, zeigt deutlich, wie stark das Gefühl der Israelis ist, sich in einer Sackgasse zu befinden. Der Grund dafür, dass sich die Regierung Sharon nicht bemüht hat, eine kohärente Strategie festzulegen, liegt folglich nicht bei Nachlässigkeit oder mangelnder Phantasie. Es liegt ganz einfach daran, dass sie keine Möglichkeit sieht.
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