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Inhaltsangabe Wissenschaft und Forschung Herbst 2001 - Tischri 5762

Editorial - Herbst 2001
    • Editorial

Rosch Haschanah 5762
    • Die Quellen der Hoffnung

Politik
    • Israel ohne politische Strategie

Interview
    • Pragmatismus und Optimismus
    • Terror und Strategie
    • Der Echte «neue Mittlere Osten»
    • Vollblutaraber !

Judäa – Samaria – Gaza
    • Kfar Adumim

Kunst und Kultur
    • Schätze
    • Mischa Alexandrovich
    • Simeon Solomon ( 1840-1905)

Wissenschaft und Forschung
    • Eine Rakete im Bauch !

Junge Leader
    • Der Chefkoch Avi Steinitz

Litauen
    • Unmögliche Palingenese
    • Neue Blüte oder Überlebenskampf?
    • Die Schule Schalom Aleïchem
    • Spitzenleistungen und Vernichtung
    • Paneriai
    • Ein Zeichen aus dem Jenseits
    • Ein lebendiges Zeugnis
    •  Weder Wilna - noch Wilno - sondern Wilne !
    • Mamme Luschen in Wilne!
    • «Dos is geven unser Glick !»
    • Litauen Quo Vadis ?
    • Litauische Zweideutigkeit
    • Erinnerung in Bildern

Ethik und Judentum
    • Zwischen Vorsicht und Panik

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Eine Rakete im Bauch !

Von Roland S. Süssmann
Reisen – entdecken – träumen – handeln, danach strebt der Mensch in seinem innersten Wesen. Diese Wünsche haben im Verlauf der Jahrhunderte einerseits zu den schönsten Werken der Literatur geführt, wie von Ikarus zu Jules Verne, andererseits zu den verrücktesten und schrecklichsten Experimenten. Doch das Streben nach Entdeckungen betrifft nicht nur geografische Abenteuer oder die Reise zum Mond, es befasst sich ebenfalls mit der Miniaturisierung, dank der man sonst nicht zugängliche Stellen erreichen und auskundschaften kann, insbesondere den menschlichen oder tierischen Körper. In dieser Absicht hat Dr. GAVRIEL IDDAN, ein talentierter Ingenieur, die berühmte Pille M2A (Mouth to Anus) erfunden, eine reduzierte Mini-Kamera, mit der man den Dünndarm sehen kann. Nein, wir befinden uns nicht in einem wissenschaftlichen Science-fiction-Roman, sondern sprechen von einer Methode, die heute in der modernen medizinischen Welt bereits eine Realität ist.
Wie aber hat dieses aussergewöhnliche Abenteuer begonnen?
Im Jahr 1981, während einer Auszeit von seiner üblichen Beschäftigung als Chefingenieur in der Abteilung für elektro-optische Forschung der Gruppe Rafael, des Bereichs für Forschung und Entwicklung des Verteidigungsministeriums von Israel, beginnt sich Dr. Gavriel Iddan für die Bildvermittlung in der Medizin zu interessieren. Dies war der Ansatz für eine phantastische Erfindung, die eigentlich im Rahmen der Entwicklung von Projekten für die Bildübertragung durch Raketen entstand. Gleichzeitig arbeitete Dr. Iddan an einem Forschungsprojekt für das israelische Unternehmen Elscint Inc., das auf Ultraschall- und Röntgenapparate spezialisiert ist. Nach einer Begegnung mit Professor Eytan Scapa, der damals an der Harvard Medical School lehrte, wurde Dr. Iddan vom «Virus der medizinischen Bildübertragung» befallen. Er begab sich dann in zahlreiche Krankenhäuser in Israel und entwickelte auf diese Weise nebenbei eine Kamera für die Angiographie.
Doch erst 1992, nach seiner Rückkehr aus einem weiteren Freijahr, in dessen Verlauf er bei Eastman Kodak in Rochester gearbeitet hatte, kam er auf die aussergewöhnliche Idee einer Kamera, die man schlucken könnte. Um die Bedürfnisse der Patienten besser zu verstehen, willigte er ein, sich selbst einer Darmspiegelung zu unterziehen! In diesem Moment kam er auf den Gedanken, eine winzige Rakete zu entwickeln, die sowohl im menschlichen Körper herumreisen als auch Bilder übertragen könnte. Er war von der «verrückten Idee» besessen, eine Kapsel zu schaffen, die man problemlos schluckt, die dann den gesamten Magen- und Darmbereich durchwandern und dabei ständig Bilder übermitteln würde. Revolutionär ist die Idee von Dr. Iddan darin, dass seine Erfindung der Medizin völlig neue Möglichkeiten in einem bisher unbekannten Gebiet gibt, nämlich bei der genauen Abbildung des Dünndarms. Keine andere heute bekannte medizinische Methode hätte es erlaubt, derartige Aufnahmen zu machen.
Das israelische Unternehmen, das die endoskopische Kapsel sowie die Software zur Auswertung entwickelt und kommerzialisiert, trägt den Namen «GIVEN Imaging Ltd»: «GIVEN» als Abkürzung von Gastro-Intestinal Video Endoscopy. Das Ende 1998 gegründete Unternehmen überwindet erfolgreich die Schwierigkeiten in Bezug auf Grösse, Gewicht , Leistungsfähigkeit und Autonomie der Batterien, die Übertragung, die Bildqualität usw. Im Januar 1999 stehen die ersten Prototypen bereits zur Verfügung und ab Mai 2000 werden die Resultate der ersten Versuche bei Tieren vorgestellt.
Interessanterweise arbeitete zur gleichen Zeit ein anderes Team in England, dasjenige von Dr. Paul Swain, an einer Technologie, dank der man schnurlose Endoskopien durchführen konnte; 1996 ist es ihm gelungen, die ersten Bilder zu zeigen, die aus dem Magen eines Schweins stammten.
Dr. Iddan war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass seine Erfindung nur dann eine Zukunft besass, wenn bedeutende kommerzielle Mittel zur Verfügung stünden. Da die Gesellschaft Rafael im Rahmen des israelischen Verteidigungsministeriums tätig ist, verfügt sie über keinerlei Strukturen, um zivile Anwendungen zu entwickeln. Dr. Iddan begann daraufhin kommerzielle Organisationen zu suchen, welche sich dieser neuen Herausforderung stellen und in die Forschung und Entwicklung dieser neuen Technik investieren wollten.
So lernte er Dr. Gavriel Meron kennen. Die beiden Forscher waren sich bereits kurz im Jahr 1995 begegnet, als letzterer die Gesellschaft Applitec Ltd leitete, die auf die Entwicklung und Kommerzialisierung von Videokameras für die Endoskopie spezialisiert war. Dr. Iddan stellte sein Projekt vor, und obwohl Dr. Meron von der Idee begeistert war, schätzte er die technologischen Risiken bei der Entwicklung einer endoskopischen Kapsel für die Lieferung diagnostischer Bilder als zu hoch ein. Während den zwei Jahren nach dieser Begegnung wurden keine Fortschritte erzielt. Dennoch setzte Dr. Iddan seine Arbeit fort. 1997 wurde ein Patent in den Vereinigten Staaten zugelassen, da die Technologien, die für die Entwicklung der zum Schlucken geeigneten endoskopischen Kapsel erforderlich waren, Fortschritte gemacht hatten. Zu diesem Zeitpunkt nahm Dr. Meron wieder Kontakt mit dem Unternehmen Rafael Development Corporation (RDC) auf, das für die Kommerzialisierung der von Rafael ausgearbeiteten Technologien zuständig ist. Er schlug ihnen die gemeinsame Schaffung einer Start-up-Firma vor, deren Zweck die Entwicklung und Kommerzialisierung der berühmten Kapsel sein sollte. Man einigte sich, Dr. Meron verliess seinen Posten bei Applitec, begann nach einer Finanzierung zu suchen, befasste sich eingehend mit der Ausarbeitung eines Geschäftsplans und einer Machbarkeitsstudie und schliesslich wurde die Gesellschaft GIVEN ins Leben gerufen.
Während dieser Zeit setzte das Team von Dr. Swain seine Forschungsarbeiten fort, ohne etwas von der Gründung und den Plänen von GIVEN zu ahnen. Der grosse historische Durchbruch fand jedoch 1997 statt, als Dr. Meron erstmals anlässlich eines Kongresses in Birmingham mit Dr. Swain und Dr. Alexandre Moss vom Krankenhaus Mount Sinaï in New York zusammentraf. Dr. Meron legte ihnen seine Pläne dar und man konnte sich auf eine Zusammenarbeit der Teams einigen. Auf diese Weise konnte der eigentliche und unaufhaltsame Aufstieg von GIVEN Imaging Ltd beginnen.
Abgesehen von der Tatsache, dass die endoskopische Kapsel an sich bereits eine technologische Revolution darstellt, bietet sie zahlreiche andere Vorteile. Zunächst wird das Verfahren unglaublich vereinfacht. Denjenigen, die wissen, was eine Endoskopie des Dünndarms an Schmerzen, Energie und Risiken mit sich bringt, leuchtet es ein, dass die Kapsel einem kleinen Wunder entspricht. Es ist bekannt, dass die pathologischen Zustände des Dünndarms besonders schwer zu identifizieren sind, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die gängigen Methoden (nämlich die «push enteroscopy» invasiver Eingriff von sechs Stunden bei dem man dem Patienten einen Schlauch „von nur zwei Meter“ Länge langsam in den Dünndarm stösst) nur eine Untersuchung des ersten Drittels dieses acht Meter langen Organs ermöglichen.
Wenn man also weiss, dass es nun ausreicht, eine Kapsel zu schlucken, die der Grösse einer grossen Vitamintablette entspricht, um dadurch ein klares und eindeutiges Bild zu erhalten, kann man bestätigen, dass die Kapsel eindeutig ein Instrument ist, das eine Diagnose ohne nachhaltigen Eingriff ermöglicht. In den Körper des Patienten werden nämlich weder Schlauch noch Kabel aus optischen Fasern eingeführt. Er erhält einen Gürtel mit einer Festplatte und eine Reihe von Rezeptoren, die an verschiedenen Körperstellen platziert werden (vor allem rund um den Magen); dank diesem Gürtel behält der Patient seine volle Bewegungsfreiheit und kann ganz normal den meisten seiner täglichen Verrichtungen nachgehen. Die von der Kapsel übertragenen Daten werden während acht Stunden gespeichert. Die Daten werden dann von einem Arzt auf einem simplen Computerbildschirm ausgewertet, der mit einer speziell von GIVEN entwickelten Software ausgerüstet ist. Dieses Programm ermöglicht die einzigartige und rasche Visualisierung der Testresultate; man kann nicht nur die übertragenen Bilder eins nach dem anderen sehen, sondern auch die von der Kapsel tatsächlich ausgeführte Reise verfolgen. Dank der Kapsel ist es heute möglich, auch dann eine Diagnose zu erstellen, wenn alle herkömmlichen Untersuchungsmethoden erfolglos waren. Ein weiterer Vorteil der Kapsel M2A besteht aus der Tatsache, dass diese dem oft schon stark geschwächten oder betagten Patienten anstrengende Untersuchungen erspart.
Es gilt heute als erwiesen, dass die von der Kapsel übertragenen Bilder in 60% der Fälle die Erstellung einer richtigen Diagnose bei unverständlichen Blutungen im Verdauungsapparat erstellen, während die anderen Methoden, nämlich die «push enteroscopy» nur in 30% von den Fällen erfolgreich ist, und die Bestimmung einer entsprechenden Behandlung gestatten. Obwohl der obere und untere Teil des Magen-Darm-Traktes bisher schon auf recht einfache, wenn auch nachhaltige und unangenehme Weise untersucht werden konnten, lag doch die Schwierigkeit bei den Bildern aus dem Dünndarm, der so schwer zugänglich ist. Doch auch die Kapsel ist noch verbesserungsfähig. Sobald beispielsweise die M2A verschluckt wurde, passiert sie die Speiseröhre sehr schnell - diesen Teil des Verdauungsapparates, der vom Rachen bis zum Mageneingang reicht und dessen Wände durch ihre Bewegung den Transport der Nahrung in derart hoher Geschwindigkeit garantieren, dass die Übertragung von zwei Bildern pro Sekunde bei weitem nicht ausreicht. Man erwägt nun an die Entwicklung einer Kapsel, die nützliche und eindeutige klinische Informationen liefern kann und gleichzeitig in der Lage ist, Bilder mit einer deutlich höheren Geschwindigkeit zu übertragen, nämlich 20 Bildern pro Sekunde anstatt von 2. Ein anderes Problem beruht auf der Tatsache, dass die Kapsel im Moment nur dazu bestimmt ist Bilder zu vermitteln und den Dünndarm zu zeigen, was bedeutet, dass sie sich nur in eine Richtung bewegen kann und dazu noch in einer recht engen Röhre, in der sie sich nicht um sich selbst drehen kann. Die Kapsel ist eigentlich nicht dazu geschaffen, in einem grösseren Raum zu arbeiten, wie z.B. im Magen oder im Dickdarm. Beim Durchlaufen dieser Organe überträgt sie bestimmte Bilder, doch sie verschafft noch keinen detaillierten Gesamtüberblick. Das nächste Entwicklungsstadium wird sich mit der Ausarbeitung einer oder mehrere Kapseln auseinandersetzen, die gelenkt werden können, um auch aus diesen Bereichen des Verdauungsapparates klare und präzise Bilder zu liefern.
In einem Gespräch mit Professor SAMUEL N. ADLER, Professor für Gastroenterologie und Mitglied des medizinischen Beratungsgremiums von GIVEN, hat er uns insbesondere Folgendes anvertraut: «Ich denke, dass wir uns dank der Kapsel M2A kurz vor einem revolutionären Durchbruch bei den Erkrankungen des Dünndarms befinden. Wir sehen Bilder, die uns in der Vergangenheit unbekannt waren und deren Existenz wir nun allmählich entdecken. In gewisser Hinsicht gleichen wir ein wenig Christoph Kolumbus, der ein neues, völlig unbekanntes Land entdeckte. Heute ist dank der M2A eine auf der Welt einzigartige Diagnose möglich, um die Ursache undefinierter Blutungen zu bestimmen, und meines Erachtens ist es schlicht unmoralisch einen Patienten einer unangenehmen und schweren Dünndarm-Endoskopie zu unterziehen, wenn man weiss, was mit dieser Kapsel möglich wäre. Ich bin sicher, dass diese Methode in sehr naher Zukunft Routine und gar banal sein wird. Abschliessend möchte ich betonen, dass heute über hundert Menschen für GIVEN, dieses kleine israelische Unternehmen, arbeiten, das einen bedeutenden Aspekt bei der Erstellung einer Diagnose grundlegend verändert hat. In einer für Israel so schwierigen Zeit finde ich es besonders beeindruckend, dass eine Gruppe von so begabten Forschern, sowohl Israelis als auch Einwanderer, sich bewusst für ihren Einsatz zugunsten einer Idee entschieden haben und in Israel an diesem Projekt arbeiten, obwohl ihre Fähigkeiten im Ausland sehr viel höher entlöhnt würden.»
Die Kapsel M2A steht erst am Anfang ihrer Laufbahn und ihre zukünftige Entwicklung ist äusserst vielversprechend. Das Unternehmen GIVEN Imaging wird bald an der NASDAQ kotiert, was auch interessierte Anleger bei der Diversifizierung ihres Portefeuilles reizen könnte.


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