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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Frühling 1999 - Pessach 5759

Editorial - Frühling 1999
    • Editorial

Pessach 5759
    • Vermittlung des Judentums

Politik
    • Alle im Zentrum
    • Die Zersplitterung der Knesset

Interview
    • Grundsätze und Realpolitik

Analyse
    • Treibsand

Judäa – Samaria – Gaza
    • Efrat

Kunst und Kultur
    • Hebräische Manuskripte aus dem Mittelalter in der British Library
    • Arthur Szyk
    • Die musikalische Sprache der Torah

Reportage
    • Athen und Jerusalem
    • Griechisches Judentum - Quo Vadis ?
    • Saloniki

Gesellschaft
    • Eine moralische Verpflichtung

Wirtschaft
    • Die Welt der Formen öffnet sich den Blinden

Tsedaka
    •  Bereitschaft - Kompetenz - Hingabe

Ethik und Judentum
    • Die Risiken der Prävention

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Die Risiken der Prävention

Von Rabbiner Shabtai A. Rappoport *
Die 52jährige M. strotzt vor Gesundheit und geht mit Begeisterung ihrem Beruf als Primarschullehrerin nach. Ihre grosse Leidenschaft ist es, kleine Mädchen in Geschichte und Mathematik zu unterrichten. Sie hat relativ spät geheiratet. Ihr ältester Sohn, der ihre Leidenschaft und ihre Begabung für Mathematik geerbt hat, kam zur Welt, als sie 35 Jahre alt war. Als die älteste Schwester von M. zwanzig Jahre nach dem Tod ihrer Mutter an Brustkrebs entdeckt, dass auch sie an dieser Krankheit leidet, sucht M. ihre Ärztin auf, eine ehemalige Schülerin. Einige Jahre zuvor hatte man einen Knoten in der Brust von M. gefunden, doch die Biopsie hatte ergeben, dass es sich um einen gutartigen Tumor handelte, in der medizinischen Fachsprache atypische Hyperplasie genannt. Auch wenn dieser Vorfall seit langem vergessen war, zeigte sich die Ärztin bei der erneuten Überprüfung der Krankheitsgeschichte von M. und ihrer Familie äusserst besorgt. Sie erklärte M., dass sie statistisch gesehen stark gefährdet war, an Brustkrebs zu erkranken. Es gebe jedoch eine Möglichkeit, fügte sie hinzu, das Risiko beträchtlich einzuschränken.
Eine der Ursachen für Brustkrebs ist das Östrogen, ein Hormon, das die Teilung der (gesunden und der krebskranken) Brustzellen begünstigt: in seiner “negativen” Form erhöht es das Risiko von Brustkrebs. Eine hormonale Substanz namens Tamoxifen gleicht in ausreichendem Masse dem Östrogen, um sich mit den Östrogenrezeptoren in den Brustzellen zu verbinden, unterscheidet sich aber auch genug von ihm, um die Zellteilung nicht zu fördern. Tamoxifen wirkt demnach wie ein Anti-Östrogen, da es die Wirkung von Östrogen in der Brust stoppt, indem es das Wachstum der im Körper bereits vorhandenen Krebszellen verlangsamt oder verhindert. Diese Substanz wurde lange als Therapie gegen Krebs eingesetzt und man hat nachgewiesen, dass sie Rezidive von Krebs in der ursprünglich befallenen Brust, aber auch die Entwicklung neuer Krebstgeschwulste in der anderen Brust verhindern kann.
Eine spätere Untersuchung ergab, das Tamoxifen auch bei der Brustkrebsprävention bei Frauen wirksam ist, die einer Risikogruppe angehören. Die Studie weist einen Rückgang von 50 % bei der Diagnose dieser Krankheit bei Frauen auf, die dieses Medikament eingenommen haben. Doch Tamoxifen weist auch Gefahren auf. Die Substanz gleicht in ausreichendem Masse dem Östrogen, um das Risiko zu erhöhen, dass drei seltene, aber ernsthafte Gesundheitsprobleme auftreten : Gebärmutterkörperkrebs (Endometriumkarzinom), Lungenembolie und venöse Thrombose in den unteren Gliedmassen. M. sollte sich folglich nach Ansicht ihrer Ärztin entweder entschliessen, Tamoxifen zu nehmen, um einen Brustkrebs zu verhindern, oder aber aufgrund der gefährlichen Nebenwirkungen des Medikaments darauf verzichten. Die Ärztin wies jedoch darauf hin, dass die statistische Auswertung des Risiko-Erfolgs-Verhältnisses sich letztendlich zugunsten einer präventiven Behandlung mit Tamoxifen ausspreche.
In einer ersten Reaktion befand M., dass die Entscheidung nicht ihre Sache sei. Die Halacha verbietet es dem Individuum, sein Leben zu gefährden, und folglich schien die einzige erlaubte Lösung darin zu bestehen, nichts zu unternehmen und zu hoffen, dass sie trotz ihrer Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe gesund bleiben würde.
Eine ähnliche Situation wird im Talmud (Avodah Zarah 27a-b) diskutiert. Die Weisen untersagen es uns, uns von einem nichtgläubigen Arzt behandeln zu lassen, da er den Patienten töten könnte. Die Behandlung durch einen solchen Arzt kommt einer Missachtung der biblischen Gebote gleich. Es heisst aber auch : “Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut...” und “So hütet euch nun wohl” (Deuteronomium IV, 9-15). Mit dem Zitat von Rabbi Jonathan bestimmt der Talmud, dass wir in dem Fall, da wir nicht wissen, ob [der Patient] leben oder sterben wird, es dem heidnischen Arzt nicht gestatten dürfen ihn zu behandeln; steht aber fest, dass er ohne Behandlung sterben wird, dann können wir ihr [auch bei einem heidnischen Arzt] zustimmen. Der Talmud diskutiert dieses Urteil: “Muss man nicht das eine Stunde währende Leben [Miteinbeziehen]? (In anderen Worten: Der Nichtgläubige kann das vorzeitige Ende herbeiführen und somit das Leben des Patienten verkürzen, auch wenn es sich nur um wenige Stunden handelt)”. Er kommt aber zu dem Schluss: “Das eine Stunde währende Leben muss hier nicht berücksichtigt werden.” (“Das eine Stunde währende Leben” : restliche Lebensdauer eines todkranken Patienten, der im Endstadium an einer unheilbaren Krankheit leidet, siehe ShalomVol. XXX). Das Einnehmen eines Medikaments, das den Patienten töten könnte, ist jedoch nur dann zulässig, wenn es sich um eine tödliche Krankheit handelt, die nicht anders bekämpft werden kann. In jedem anderen Fall darf der Patient nichts unternehmen und sollte kein Risiko eingehen.
Der Tossafot (französische und deutsche Meister des 12. und 13. Jahrhunderts [viele von ihnen waren Schüler von Raschi], welche die Talmudtexte mit Erklärungen und Erläuterungen versahen), der diesen Absatz kommentiert, stellt die Schlussfolgerung jedoch in Frage, gemäss der das eine Stunde währende Leben nicht berücksichtigt werden darf. Der Talmud (Yoma 85a) legt fest, dass die Schabbat-Gesetze überschritten werden müssen, um das Leben eines Menschen zu retten, auch wenn er nur noch kurze Zeit zu leben hat und seine Existenz nur um weniges verlängert werden kann. Wenn “das eine Stunde währende Leben” nicht berücksichtigt werden soll, warum sollte man für diesen Patienten die Schabbat-Gesetze missachten ? Laut der Antwort der Tossafot hat das Urteil der Weisen in beiden Fällen das Interesse des Patienten im Auge. Wenn man die Schabbat-Gesetze nicht übertritt, stirbt er früher, und in diesem Moment macht es uns das Urteil zur Pflicht, alles zu versuchen, um sein Leben zu verlängern. Im Falle des nichtgläubigen Arztes - den man mit einem gefährlichen Medikament oder einer risikoreichen Behandlung vergleichen kann -, wird der Patient mit Gewissheit sterben, wenn man die Behandlung untersagt, und daher gestatten die Weisen sie in ihrem Urteil.
Diese Antwort der Tossafot ist verwunderlich. Das Dilemma bestand aus der Unterscheidung von “dem eine Stunde währenden Leben” und dem normalen Leben. Es wurde bewiesen, dass das eine Stunde währende Leben nicht als weniger wertvoll angesehen werden konnte als das normale Leben, denn wenn dies der Fall wäre, hätte die Überschreitung der Schabbat-Gesetze im Hinblick auf seine Verlängerung nicht gestattet werden können. Daher bezieht sich das Gebot “das Leben sorgfältig zu bewahren” sowohl auf das “eine Stunde währende Leben” als auch auf das normale Leben. Wieso existiert in diesem Zusammenhang ein Urteil, das festhält, dass “das eine Stunde währende Leben” nicht berücksichtigt wird? Antwort: “das eine Stunde währende Leben” wird als weniger wertvoll angesehen als das normale Leben und ersteres kann zugunsten des letzteren geopfert werden. Aber weshalb, so könnte man fragen, befiehlt man uns, die Schabbat-Gesetze zu überschreiten, um “das eine Stunde währende Leben” zu verlängern, obwohl keine einzige biblische Quelle ein derartiges Urteil ausdrücklich rechtfertigt? Das Dilemma scheint trotz der den Tossafot vorgeschlagenen Antwort weiterhin zu bestehen.
Die Worte von Maïmonides in seinen “Gesetzen über den Mord und die Bewahrung des Lebens” (XI, 6) bieten vielleicht die Lösung an: “Zahlreiche Handlungen, welche das Leben gefährden können, wurden von unseren Weisen untersagt. Wer auch immer diese Verbote missachtet mit der Einstellung: ‘Ich bringe mein eigenes Leben in Gefahr, was geht das die anderen an?’ oder: ‘Ich fürchte die Folgen dieser Handlungen nicht’ verdient ausgepeitscht zu werden.” Warum macht sich Maïmonides die Mühe, die Überlegungen der Gesetzesbrecher zu erwähnen? Es hätte doch gereicht zu schreiben: “Wer auch immer diese Verbote missachtet, verdient ausgepeitscht zu werden.” Es scheint, dass das Gebot “trage Sorge zu deinem Leben” sich nicht auf die Handlung selbst bezieht, sondern vor allem auf die zugrundeliegende Überlegung. Es könnte sehr wohl sein, dass zwei Menschen genau dasselbe tun, dass aber nur einer von ihnen angeklagt wird, das Gebot missachtet zu haben, während man beim anderen davon ausgeht, dass er gemäss dem Gebot gehandelt hat. Der erste hat sich nicht darum geschert, dass er sein Leben gefährdet hat, während der zweite das Risiko fürchtete, alle erdenklichen Vorsichtsmassnahmen traf und aus zwingenden Gründen so handelte. Der erste ist sozusagen unerlaubt in militärisches Gebiet eingedrungen und der zweite gehört einer Eliteeinheit der Armee an. Jede Handlung, die das Leben aufs Spiel setzt, kann als verboten angesehen werden: untersagt ist nur eine Tat, bei der dieses Risiko als verächtlich abgetan wurde.
Dies ist die Bedeutung der Antwort, die weiter oben von den Tossafot gegeben wird. “Das eine Stunde währende Leben” ist ebenso wichtig wie das normale Leben, unabhängig von seiner erwarteten Dauer. Die Behandlung durch einen nichtgläubigen Arzt wird nicht gestattet, weil sich der Kranke im Endstadium befindet. Die Gefährdung des “eine Stunde währenden Lebens” durch Verachtung ist streng untersagt. Befindet sich jedoch ein Patient im Endstadium, kann man vernünftigerweise davon ausgehen, dass ein derartiges Risiko positiv sein könnte. Die Gefährdung seines Lebens mit der Hoffnung auf ein gesundes und normales Leben ist erlaubt, da nicht das Risiko an und für sich verboten ist, sondern die Verachtung des Risikos. Dies ist demnach sowohl für einen gesunden Menschen gültig, wie für einen Kranken im Endstadium.
Wenn M. sich dazu entschliesst, Tamoxifen zu nehmen, tut sie dies nicht in Verachtung ihres Lebens. Im Gegenteil, sie nimmt dieses Medikament ein, weil sie ihr Leben bewahren möchte und zu diesem Zweck ein kalkulierbares Risiko eingeht. Dieses Vorgehen ist nicht Ausdruck von Verachtung, sondern zeigt vielmehr die hohe Wertschätzung des Lebens ; daher ist dieser Schritt auch gestattet.
@no:* Rabbiner Shabtai A. Rappoport leitet die Yeschiwah „Schwut Israel“ in Efrat (Gusch Etzion). Neben anderen Arbeiten hat er die beiden letzten Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-mail-Adresse: shrap@mofet.macam98.ac.il.

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