Es gibt Städte, deren Namen einen besonderen Klang besitzen, wie beispielsweise Venedig, Prag, Florenz, Brügge… oder Thessaloniki. Für diejenigen unter uns, die die historische Entwicklung dieser Stadt und ihre Präsenz in der jüdischen Geschichte verfolgt haben, ist Saloniki von einer ganz besonderen, bittersüssen Aura umgeben : von der Erinnerung an den untergegangenen Glanz einer der strahlendsten und erfolgreichsten Gemeinschaften in der Geschichte der Diaspora … und der Trauer um 50’000 salonikische Juden, darunter 12’000 Kinder, die von den Deutschen umgebracht wurden !
Vor der Schoah kannte man Saloniki unter dem Übernamen „Ir we Eïm BeIsraël“, eine matriarchalische Stadt im Schoss des jüdischen Volkes. Diese Definition wird nur sehr selten verwendet, selbst wenn es sich um Städte mit bedeutenden jüdischen Gemeinden handelte. Das Judentum von Saloniki wurde von den Deutschen und ihren aktiven oder passiven Komplizen vollständig vernichtet. Für den aufmerksamen jüdischen Besucher ist das Ausmass der entsetzlichen Tragödie, die sich in dieser Stadt während des Zweiten Weltkriegs abspielte, fast mit Händen zu greifen.
Es soll hier nicht die gesamte, überaus reiche Geschichte von Saloniki erzählt werden, doch es soll daran erinnert werden, dass diese Stadt ab dem Jahr 1492, als sich 20'000 aus Spanien und Portugal vertriebene Juden hier niederzulassen begannen, nicht mehr als ein kleiner Ort war, der seit der Eroberung durch die Türken 1430 unbewohnt geblieben war. Die Juden, zum grössten Teil Händler, verwandelten Saloniki in ein bedeutendes Finanzzentrum, sie beuteten die Minen von Sidirokapsa und des Flusses Gallikos aus und gründeten 1510 die erste Druckerei. Darüber hinaus wurde die Stadt allmählich zu einem berühmten Zentrum für theologische Studien. Ihr Ruf einer aufstrebenden Stadt zog im Verlauf der Jahre Tausende von jüdischen Flüchtlingen aus der Provence, aus Polen, Italien, Ungarn oder Nordafrika an, die hier eine neue Heimat suchten. Es ist natürlich unmöglich, in wenigen Worten daran zu erinnern, über welchen Reichtum, sowohl intellektueller, geistlicher und auch materieller Art diese aussergewöhnliche Gemeinschaft verfügte. Diese Aufgabe haben bereits die Historiker, wie Alberto Nar, übernommen, der zehn Werke zu diesem Thema veröffentlicht hat. Einige Daten sollen aber die Bedeutung des Ortes veranschaulichen. Vor dem grossen Brand von 1917, der die Stadt vollständig zerstörte, zählten die jüdischen Viertel sechzehn Steuerbezirke. Bis zur Schoah war der Hafen am Schabbat geschlossen, da die meisten Arbeiter gläubige Juden waren. Die Stadt besass 54 Synagogen, von denen 32 historische Bedeutung besassen, die anderen waren weniger wichtige Bethäuser (Minyanim). Heute ist ein einziger kleiner Ort für Gebete übriggeblieben, der für die täglichen Gottesdienste bestimmt ist, und eine letzte echte Synagoge aus dem Jahr 1927 ; sie trägt den Namen Monasteriotes und wurde während des Zweiten Weltkriegs gerettet, weil sie dem Roten Kreuz als Lagerraum diente. Die jüdische Presse zählte 40 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, darunter drei Tageszeitungen, von denen zwei auf Französisch, L’Indépendant und Le Progrès, und eine in Ladino (Spaniolisch), El Messagero, erschienen. Diese Publikationen sind alle verschwunden, die letzte, La Tribune Juive, kam 1947 zum letzten Mal heraus.
DAS GEMEINSCHAFTSLEBEN HEUTE
Heute besteht noch eine kleine jüdische Gemeinde von 1’000 Seelen. Obwohl sie sehr geschrumpft ist, verfügt sie über bemerkenswert gute Strukturen und bietet ihren Mitgliedern eine breitgefächerte Auswahl an Dienstleistungen an. Die Gemeinde wird von einem kollektiven Gremium geleitet, das sich aus 22 Mitgliedern zusammensetzt ; diese werden alle vier Jahre von einer Generalversammlung gewählt, die ebenfalls in geheimer Wahl einen fünfköpfigen Vorstand ernennt, der seinerseits die verschiedenen Kommissionen zusammenstellt, die für die Verwaltung der Synagoge, des Friedhofs, der Schule, der sozialen Dienste usw. zuständig sind. Es muss hervorgehoben werden, dass die Gemeinde als juristische Person der Gerichtsbarkeit des Ministeriums für Erziehung und religiöse Angelegenheiten untersteht. Daher muss sie dem griechischen Staat Rechenschaft ablegen und ist verpflichtet, ihm ihre Jahresrechnung und das Budget zur Zustimmung zu unterbreiten !
Neben den üblichen Dienstleistungen, die jede Gemeinde anbietet, verfügt Saloniki heute auch über eine ganztägige jüdische Primarschule, über ein streng koscheres Altersheim namens Saoul Modiano, das sich in einem sechsstöckigen Gebäude befindet und Pensionäre ab 65 Jahren aufnimmt, über ein Gemeinschaftszentrum für die Jugend, einen Klub für soziale Aktivitäten, einen Sportverein Maccabi usw. Auf kultureller Ebene erweist sich das kleine Fotomuseum „Simon Marks Museum of the Jewish History in Thessaloniki“ als sehr interessant, intelligent gemacht und aufschlussreich. Es berichtet über die Geschichte der Juden von Saloniki seit der Gründung der Stadt im Jahr 315 vor unserer Zeitrechnung bis zur Schoah, wobei für jede Epoche Fotos und Reproduktionen von Dokumenten gezeigt werden. Nach dem gleichen Modell erinnert die Ausstellung an die Strukturen und Institutionen sowie an den Alltag, welche das Leben der Juden von Saloniki ausmachten. Parallel zu dieser Schau kann man im Museum auch eine Ausstellung über die Schoah im allgemeinen, die „Exhibition of the Auschwitz Foundation Bruxelles - Concentration Camps and the Nazi policiy of annihilation within their historical contexts 1914-1945“ besichtigen, die mit Hilfe von Gegenständen und Dokumenten die Greueltaten in Erinnerung ruft, die von den Deutschen begangen wurden.
Ein neues Museum über die jüdische Präsenz in Saloniki, das zum Teil vom Kunstministerium finanziert wurde und in einem ehemaligen Geschäftshaus liegt, das Juden gehörte, soll demnächst eröffnet werden.
DAS RABBINAT
Rabbi ISAAC DAYAN ist ebenso sympathisch wie entschlossen. Dieser Rabbiner, der einen Doktortitel in Chemie (seine erste Berufung) besitzt, waltet seit vier Jahren in Saloniki seines Amtes und erfüllt seine Aufgaben mit viel Energie. Interessant ist die Art und Weise, wie er sich an seine Schutzbefohlenen wendet : „Das hängt vom Publikum ab“, meinte er lächelnd. Mit der Generation der Schoah spricht er nämlich Französisch, da die Schulen der „Alliance Israélite Universelle“ vor dem Krieg in Saloniki sehr verbreitet waren, mit der Jugend bedient er sich der englischen Sprache, und wenn er vor einer gemischten Zuhörerschaft steht, spricht er Hebräisch, wobei ein Dolmetscher seine Worte ins Griechische übersetzt ! In Bezug auf das religiöse Leben der Juden von Saloniki teilte uns Rabbiner Dayan mit, dass die rein praktische Seite bis zu seiner Ankunft sozusagen abgeschafft worden war, so dass nicht einmal eine „Chewra Kadischah“ (jüdische Bestattungsgesellschaft) existierte, sondern nichtjüdische Bestattungsunternehmen sich um die Verstorbenen der Gemeinde kümmerten. Er übt dabei keine Kritik, sondern stellt einfach die Tatsachen fest. Rabbi Dayan befand sich demnach in der extrem günstigen Ausgangslage, alles von Grund auf neu aufzubauen, ohne dabei alte und oft schlechte Gewohnheiten umkrempeln zu müssen. Der Rabbiner begann also seine Pflicht zu tun : er baute eine Mikweh, gründete eine „Chewrah Kadischah“, organisierte die rituelle Schächtung, stellte koscheren Käse her (Feta) usw. Im Zusammenhang mit gemischten Ehen weigert sich Rabbiner Dayan, Konvertierungen durchzuführen. Wenn jemand sich für diesen Weg entscheidet, soll er die Situation unverändert akzeptieren und mit dem Partner seiner Wahl leben. Mit der Unterstützung seiner Frau, die ebenfalls an der jüdischen Schule unterrichtet, hat Rabbiner Dayan eine Reihe von Kursen und Referaten entwickelt, welche der jüdischen Gesellschaft von Saloniki zeigen sollen, dass die Torah auch in unserer Zeit lebt und atmet. Beim Abschied vertraute uns Rabbi Dayan folgendes an : „Ich verfüge heute über eine religiöse Infrastruktur, die mir meine Arbeit ermöglicht, aber es bleibt noch sehr viel zu tun. Ich möchte betonen, dass alle Bemühungen ohne die Hilfe und das Verständnis des Präsidenten der Gemeinde, Andreas Sefiha, nicht möglich gewesen wären.“
DIE PRIMARSCHULE
Seit 1979 werden in der jüdischen Gemeinschaft von Saloniki ein Kindergarten und eine Primarschule geführt, die sich in einem Gebäude befinden, das bis zur Schoah als jüdische Volksküche für mittellose Studenten diente (drei Mahlzeiten täglich) und einer Wohltätigkeitsorganisation namens „Matanoth Laewianim“ gehörte. Heute wird die Schule von 61 Kindern besucht, die auf sechs Klassen aufgeteilt sind. Das Programm folgt dem Lehrplan des griechischen Staates, und das Erziehungsministerium gestattet fünf Wochenstunden für jüdische Fächer : drei Stunden Hebräisch mit israelischen Lehrern und zwei Stunden grundlegenden jüdischen Unterricht (Feste, Geschichte usw.). Die Schule ist zionistisch und feiert Jom Haatsmaut. Die Direktorin, Evangelina Dimely, ist nicht Jüdin, sie wurde vom Erziehungsministerium ernannt. Aus diesem Grund besitzt die Schule einen etwas speziellen Status, es handelt sich um eine „staatliche… Privatschule“. Fast 80% der schulpflichtigen jüdischen Kinder von Saloniki besuchen die jüdische Schule. Dazu muss gesagt werden, dass das Schulgeld nur einen symbolischen Betrag ausmacht und die Kinder dort kein Essen bekommen ; die Eltern werden allerdings gebeten, den Kindern nach Möglichkeit ein koscheres Picknick mitzugeben.
BEGEGNUNG MIT ANDREAS SEFIHA
Wir haben unseren kurzen Aufenthalt in Saloniki benutzt, um den Präsidenten der Gemeinde, Herrn ANDREAS SEFIHA zu interviewen.
An der Spitze der jüdischen Gemeinde von Saloniki zu stehen bedeutet bestimmt gewichtige Verantwortung. Wie sehen Sie in Ihrer Eigenschaft als jüdischer Leader die Zukunft Ihrer Gemeinschaft ?
Leider kann ich nicht nur positive Seiten sehen, vor allem wenn ich in Betracht ziehe, was in den anderen kleinen Gemeinschaften geschieht. Ich kann daher nicht ausschliessen, dass die Zahl unserer Gemeindemitglieder immer weiter sinken wird. Wie sind eine alternde Gemeinde, die sich aus Menschen eines bestimmten Alters zusammensetzt, welche zum Teil die Konzentrationslager überlebt haben und nun nach und nach von uns gehen. Die gemischten oder vollständig jüdischen Eheschliessungen können die Todesfälle nicht ausgleichen, da die jungen Familien im Schnitt nur ein bis zwei Kinder haben. Heute umfasst unsere Gemeinde ca. 1’050 Miglieder, doch diese Zahl wird unserer Ansicht nach zwangsläufig immer mehr sinken. Ich sehe keinerlei Möglichkeit, die jüdische Bevölkerung von Saloniki zu erhöhen, unter anderem auch weil wir keine neuen Mitglieder, auch nicht aus den Balkanstaaten, „importieren“ können, da es fast unmöglich ist, für sie Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen zu erhalten. Selbst ein Zuwachs aus kleinen Gemeinden, die im Verschwinden begriffen sind, ist nicht wirklich zu erwarten, denn diese Migration ist zum grössten Teil bereits erfolgt und betrifft letztendlich nur sehr wenige Menschen.
Dennoch bin ich gemässigt optimistisch eingestellt, ohne die Situation beschönigen zu wollen. Wir unternehmen in der Tat zahlreiche Bemühungen, um die Lebensqualität für die Juden zu verbessern. Dies geschieht dank der Arbeit unseres Rabbiners und seiner Frau. Neben unseren Mitgliedern verlieren wir ein weiteres wichtiges Element unserer jüdischen Kultur, nämlich die Beherrschung und die Verwendung von Ladino (Spaniolisch) ; diese Sprache wurde neben dem Hebräischen in der Synagoge benützt, und wurde bis zum Krieg vom Vater an den Sohn weitergegeben. Die jungen Leute sprechen kein Ladino mehr und wir erleben den Verlust dieser reichen Kultur, welche die unsere war. Gegenwärtig bemühen wir uns ganz besonders, das Ladino wieder aufleben zu lassen. Wir haben 1997, als Saloniki Kulturhauptstadt Europas war, eine grosse Konferenz organisiert. Wir haben bei uns eine Art Klub gegründet, den wir die „Ladino Society“ genannt haben und deren Ziel es ist, in der jungen Generation den Wunsch zu erwecken, die Sprache und die Kultur ihrer Vorfahren kennenzulernen. Im vergangenen Dezember haben wir für die Jungen eine Reise nach Spanien organisiert, damit sie unsere Wurzeln entdecken und ihr Interesse an allem wiedererwacht, was unsere Traditionen betrifft. Trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten ermutigen wir auch unsere Studenten, ihr Studium in Israel zu absolvieren, denn wir gehen davon aus, dass sie dadurch mit einem verstärkten jüdischen und patriotischen Gefühl zurückkommen können, was sie vielleicht daran hindern wird, eine gemischte Ehe einzugehen …, dies hoffen wir zumindest.
Die deportierten Juden von Saloniki besassen vor dem Krieg gewisse Vermögenswerte, vor allem Immobilien. Was ist mit dem Hab und Gut der in den Lagern ermordeten Menschen geschehen, die keine Erben hinterlassen haben ?
Die griechische Regierung hat eine in Europa einzigartige Geste unternommen, die nicht nur Saloniki, sondern ganz Griechenland betraf. Die Regierung, die sich nicht als Erbin der Vermögen von Juden betrachtete, die nicht wiederkamen oder keine Erben hinterliessen, verabschiedete nach dem Krieg ein besonderes Gesetz, kraft dessen sie die Verwaltung dieser Vermögenswerte den jüdischen Gemeinden übertrug. Die Regierung schuf eine Organisation, welche die Gemeinden wieder aufbauen und den Glaubensbrüdern unter die Arme greifen sollte, die nach dem Krieg Hilfe brauchten, indem ihnen beispielsweise Darlehen gewährt wurden, damit sie wieder arbeiten konnten. Diese Anstrengung wurde ebenfalls kräftig vom «American Joint Distribution Committee» unterstützt, das in Griechenland phantastische Arbeit geleistet hat. Im Gegensatz zu den anderen europäischen Ländern haben wir keine einzige Forderung zu stellen, da keinerlei jüdischer Besitz unter staatliche Kontrolle gestellt wurde. Sämtliche Vermögenswerte wurden uns zurückgegeben. Man muss sich im klaren sein, dass diese grosszügige Geste der griechischen Regierung es zahlreichen Juden ermöglicht hat, im Schoss unserer Gemeinden ein neues Leben in Würde zu beginnen.
Die Verwaltung dieser Immobilien liegt demnach in der Hand der Gemeinden, die nun die Mieten und andere Erträge einkassiert. Wie wird dieses Geld verwendet ?
Dank diesem Einkommen kann die Gemeinde alle ihre Programme finanzieren : den Unterhalt der Schule, die soziale und medizinische Unterstützung (vor allem für betagte Menschen), die Beibehaltung des Alterheims „Saoul Modiano“, die Organisation von Sommerlagern für alle jüdischen Kinder in Griechenland, das Startkapital in Form von Darlehen für Jungunternehmer usw. In Bezug auf das Heim Saoul Modiano muss erwähnt werden, dass es sich in Griechenland um die einzige jüdische Institution dieser Art handelt, sie nimmt Juden aus allen Regionen des Landes auf und diese besitzen dieselben Rechte und Dienstleistungen, wie die Mitglieder unserer Gemeinschaft.
Abschliessend möchte ich darauf hinweisen, dass die Situation, wie Sie sich denken können, nicht einfach ist, dass wir aber alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um der Herausforderung ins Auge zu sehen.
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