Editorial - September 1996
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Rosch Haschanah 5757
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Während über zweitausend Jahren haben die Juden das Purimfest gefeiert. Gemäss der biblischen Anordnung "sie sollten als Feiertage den vierzehnten und fünfzehnten Tag des Monats Adar annehmen und jährlich halten, [...] bei allen Geschlechtern, in allen Ländern und Städten" (Esther 9,21; 28) strömte Generation um Generation überall in der Welt in die Synagogen, um die Purim-Geschichte aus der Megillah zu hören. Die Megillah (wörtlich: "die Rolle") ist ganz einfach das Buch Esther, das in Form einer Schriftrolle aufgeschrieben wurde.
Dieses Buch spricht von der fast vollständigen Vernichtung der persischen Juden des 5. Jahrhunderts v.Chr. durch die Hand Hamans, Wesir des Königs Achaschverosch. Dank Esther, der jüdischen Königin an der Seite Achaschveroschs, und ihrem Onkel Mordechai werden Hamans Pläne vereitelt, er und seine Söhne kommen an den Galgen und die jüdische Gemeinschaft ist gerettet. Diese dramatischen Ereignisse werden von Mordechai und Esther auf einer Schriftrolle festgehalten.
Die grösste Sammlung von Esther-Rollen der westlichen Hemisphäre - und wahrscheinlich der ganzen Welt - gehört dem Jewish Theological Seminary of America (JTS - Jüdisches Theologisches Seminar) in New York. Sie umfasst fast dreihundert Rollen und beeindruckt nicht nur durch ihren Umfang, sondern auch durch ihre chronologische und geografische Vielfalt und die grosse Zahl an verzierten Megillot. Die Rollen des JTS stammen aus dem 17. bis 20. Jahrhundert und aus über fünfzehn Ursprungsländern, darunter Kurdistan, Jemen, Iran, Israel, Polen, Italien, Nordafrika, Holland und Amerika; sie widerspiegeln sozusagen jede Epoche im Hinblick auf die Verzierung der Esther Rollen.
Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft weisen die Rollen einen bemerkenswerten Grad an Ähnlichkeit auf. Denn unabhängig davon, ob sie in Italien oder Iran, in Afrika oder Amerika hergestellt wurden, hatten die für den rituellen Gebrauch vorgesehenen Megillot besonderen, vom jüdischen Gesetz festgelegten Anforderungen zu entsprechen: sie mussten in brauner oder schwarzer Tinte auf der Haut eines koscheren Tieres (in der Regel mehrere mit Sehnen zusammengenähte Teile) geschrieben worden sein, in hebräischer Sprache, wobei einige Buchstaben verbreitert und andere kleiner ausgeführt wurden. Der Abschnitt, in dem erzählt wird, wie Hamans Söhne gehängt werden, muss eine eigene Spalte bilden, die Namen haben alle am rechten Rand übereinander zu stehen.
Ein weiteres, jedoch nicht obligatorisches Merkmal tritt in ähnlicher Form in vielen Megillot verschiedener Herkunft auf, das Bestreben nämlich, die Präsenz G'ttes im Text hervorzuheben. Da der Name G'ttes im gesamten Text nicht genannt wird, kommen zwei raffinierte Methoden zur Anwendung, um seine implizite Unterstützung bei der Rettung der Juden zu betonen. Eine der Traditionen besteht darin, jede Textspalte mit dem Wort "Ha-Melech", der König, zu beginnen, eine Anspielung selbstverständlich auf den wahren König, d.h. G'tt. Die andere Tradition verbreitert oder verziert die vier Buchstaben, aus denen der g'ttliche Namen besteht, und die viermal in den ersten oder letzten Buchstaben eines anderen Wortes vorkommen. Obwohl auf kreative Weise versucht wurde, G'tt in der Erzählung nachzuweisen, spielt die Tatsache, dass Sein Name nie eigens erwähnt wird, eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Megillah, da sein Fehlen sehr wahrscheinlich die Rabbiner in ihrer Entscheidung beeinflussten, die Verzierung der Rollen zu erlauben.
Die Dekoration von Esther-Rollen begann eigentlich sehr spät in der Geschichte der Illuminierung von Manuskripten. Die frühesten Beispiele stammen aus Italien, aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Eine der ältesten Megillot in der Sammlung des JTS entstand um ca. 1675 in Norditalien. Die Rolle beginnt mit einer wunderschönen, halbnackten weiblichen Figur und zeigt die höchste Kunst bei der Verzierung von Esther-Rollen. Die Textteile werden in einem fortlaufenden Rahmen mit architektonischen Elementen dargestellt, einem überall auf der Welt beliebten Randmotiv bei Esther-Rollen. Üppige Putten auf den Balustraden geben den Rollen einen verspielten Anstrich, während die narrativen Szenen darunter - ebenfalls ein gemeinsames Element der europäischen Megillot - die im Text ausgeführte Geschichte visuell nacherzählen. Die gesamte Schriftrolle zeugt von der aussergewöhnlichen Handwerkskunst des Künstlers und belegt die Vorliebe der italienischen Zeichner im allgemeinen und der europäischen Künstler im besonderen für die menschliche Gestalt.
Ein separates Blatt mit Segnungen, das mit den Segenssprüchen und besonderen Gebeten (Piyutim) für die Lesung der Megillah beschrieben ist, liegt dieser hinreissenden Rolle bei. Diese Segensblätter waren in Italien speziell beliebt, stammen aber auch aus Jemen und einigen sephardischen Gemeinschaften; sie widerspiegeln die Diskussion der Rabbiner über die Frage, ob diese Segnungen in die Schriftrolle selbst aufgenommen werden könnten.
Auf den meisten Esther-Rollen und Segensblättern fehlen Angaben zur Identifizierung des Künstlers. Auf dieser Megillah existiert nur ein allgemeiner Hinweis auf die Person des Kunden: die mehrmals wiederkehrenden segnenden Hände oben auf der Rolle. Dieses verbreitete Motiv zeigt, dass der ursprüngliche Besitzer der Priesterschaft, den Kohanim, angehörte. Neben diesem allgemeinen Symbol tauchen auch persönliche Wappen auf, insbesondere auf italienischen Megillot, mit deren Hilfe man manchmal den Familiennamen des Kunden auch ohne zusätzliche Inschrift identifizieren kann.
Sind jedoch spezielle Hinweise vorhanden, ermöglichen diese oft einen faszinierenden Einblick in die Geschichte der Megillah. Eine der interessantesten Rollen der Sammlung ist so ein ungewöhnlicher Fall. Auf den ersten Blick erregt die Rolle nur wenig Aufmerksamkeit, da die folkloristische Verzierung äusserst naiv, wenn nicht gar kindlich wirkt. Eine winzige Inschrift am Anfang besagt jedoch, dass diese Megillah in einem Gefängnis entstanden ist ! Die Qual der beiden Künstler kommt in der Klage "da waren Tränen derer, die Unrecht litten" (Prediger 4,1) zum Ausdruck, die sie als Chronogramm verwendeten, um das Entstehungsdatum der Schriftrolle, 1784, festzuhalten. Obwohl wir wahrscheinlich nie erfahren werden, weshalb diese beiden Männer im Gefängnis sassen, beweist ihr Wunsch eine Esther-Rolle herzustellen ihre Frömmigkeit und ihre Hoffnung auf Rettung; die Möglichkeit, ihren Wunsch zu verwirklichen, was viel Zeit und kostspieliges Material in Anspruch nahm, vermittelt uns viel über die Lebensbedingungen und die kreative Beschäftigung in mindestens einem italienischen Gefängnis des 18. Jahrhunderts.
Eine weitere Rolle aus dem Italien des 18. Jahrhunderts verfügt über einen raffinierteren folkloristischen Rand. Das beiliegende Blatt mit Segenssprüchen verweist auf die Jahreszahl 1745 und den Namen des polnischen Künstlers, Arie Leib b. Daniel von Goray. Während zahlreiche Versionen dieser Art von populären Randverzierungen überlebten, da sie vom 18. bis ins 20. Jahrhundert von unzähligen Künstlern kopiert wurden, können nur wenige Arie Leib, dem ältesten uns bekannten Hersteller dieser Motive, zugeschrieben werden. Der ausführlich und geschickt gezeichnete Rand zeigt oben Porträtköpfe von weniger wichtigen Purimfiguren und unten narrative Szenen. In der Mitte erscheinen die Hauptpersonen, wie beispielsweise Achaschverosch, Vaschti, Mordechai und Esther. Die Darstellung der Figuren in zeitgenössischen Kostümen entspricht dem allgemein üblichen Vorgehen, die im 5. Jahrhundert v.Chr. in Persien lebenden Menschen zu "modernisieren".
Auf einer von 1715 datierten reizenden Esther-Rolle aus Prossnitz, Morawien, tauchen erneut diese Figuren in der Mitte auf, diesmal jedoch in böhmisch-morawischen Kleidern des 18. Jahrhunderts. Interessanterweise unterscheidet der Künstler ganz deutlich zwischen den Physiognomien von Juden und Nichtjuden. Während Mordechai mit dunklen Haaren, einem gespaltenen Bart und Hut dargestellt wird, sind Achaschverosch und Haman blond und glattrasiert. Eine deutsche Rolle des 18. Jahrhunderts stellt Haman ebenfalls blond und bartlos dar und belegt somit, dass dieser kulturelle und künstlerische Trend über eine einzelne Schriftrolle aus Moravien hinausgeht.
Es wäre bestimmt faszinierend zu sehen, wie ein "moderner" persischer Künstler seine Vorfahren zeichnen würde, doch die Esther-Rollen aus Iran und anderen islamischen Ländern verzichten durchgehend auf die Abbildung eines Menschen. Sie sind stattdessen mit Blumen und Blättern oder mit dekorativen Inschriften verziert. Eine herrliche, aus dem 19. Jahrhundert stammende iranische Schriftrolle dieser Sammlung weist einen farbenfrohen Beginn auf, der von textilen Mustern inspiriert wurde; die zentrale Rosette, umgeben von Blumen und einem rechteckigen Rand, imitiert eindeutig einen persischen Teppich oder Wandbehang.
Während einige Künstler Megillot individuell von Hand dekorierten, entwarfen andere Druckstöcke für die "Massenproduktion" von Randverzierungen für Esther-Rollen. Eines der führenden Zentren für diese Produktion war Amsterdam, von wo eine Serie von beliebten Randverzierungen aus dem 18. Jahrhundert stammt. Das erste Bild einer dieser Rollen zeigt Höhepunkte aus der Geschichte Esthers; die Segenssprüche (hier Teil der Rolle selbst) und der Text wurden von Hand eingetragen. Der üppig verzierte Rand der Megillah weist auch hier wieder Porträts und Vignetten mit Szenen der Erzählung auf. Die Tatsache, dass diese gedruckten Dekorationen von Amsterdam nach Osteuropa exportiert wurden, lässt sich durch eine Inschrift bestätigen, welche die Hinzufügung des Textes in Krakau belegt.
Darüber hinaus besitzt die JTS Sammlung Esther-Rollen, welche an "besondere" Purimfeste erinnern, anlässlich der Erlösung einer Gemeinschaft oder eines einzelnen Menschen von der drohenden Vernichtung. Eine faszinierende Rolle aus Mantua von 1742 berichtet von einem italienischen Geschäftsinhaber, der eines Abends noch spät in seinem Laden arbeitete und von einem Dieb brutal niedergestochen wurde. Der Mann war für seine "wunderbare" Heilung so dankbar, dass er diese Megillah als Ausdruck seiner Dankbarkeit an G'tt schrieb und seine persönliche Rettung implizit mit derjenigen seiner persischen Vorfahren verglich.
Neben den Purim-Rollen umfasst die Sammlung auch andere Megillot, die ähnlich wie die Esther-Rollen an besonderen Feiertagen gelesen werden. Obwohl die meisten von ihnen nicht verziert sind, weist eine exquisite Rolle mit dem Hohelied in Jerusalem hergestellte Illuminierungen von ca. 1920 auf. Interessanterweise nimmt die Dekoration wiederholt einige Elemente der Verzierung von Arie Leib auf; ihre Medaillon-Umrahmungen, architektonischen Strukturen und die helle, fröhliche Farbpalette schaffen jedoch einen ganz neuen Stil für eine fast zweihundertjährige Umrahmung einer Esther-Rolle.
Einige moderne Schriftrollen tragen noch zur reichen Vielfalt der Sammlung bei. Diese Megillot decken das gesamte 20. Jahrhundert ab und repräsentieren die letzte Stufe in der fast 450-jährigen Geschichte der Verzierung von Esther-Rollen. Der grösste Teil dieser Geschichte wird in Form der fast 300 Megillot des Jewish Theological Seminars aufbewahrt und zeugt dadurch von der aussergewöhnlichen Bedeutung dieser vom chronologischen sowie vom geografischen Standpunkt aus erstaunlichen Sammlung.
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