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Inhaltsangabe Kunst und Kultur Herbst 1996 - Tischri 5757

Editorial - September 1996
    • Editorial

Rosch Haschanah 5757
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Politik
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Shalom Tsedaka
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Naftali Herstik

Von Roland S. Süssmann
Einem Gottesdienst in der Grossen Synagoge von Jerusalem beiwohnen zu dürfen ist ein Privileg, über das die Kenner der jüdischen Liturgie und des Bel Canto mit Entzückung sprechen. Diese wunderbare, 1992 eingeweihte Synagoge wurde im Andenken an die Opfer der deutschen Greueltaten und ihrer aktiven und passiven Komplizen gebaut, sowie für die auf den Kriegsfeldern während der arabischen Angriffe gefallenen israelischen Soldaten (siehe SHALOM Vol. XVI).

Neben dem grossartigen Rahmen dieses einzigartigen Gebetsstätte mit über 2000 Sitzplätzen tragen auch der dort den Gottesdienst zelebrierende, weltweit berühmte Chasan NAFTALI HERSTIK, sowie der grossartige, von Elli Jaffe (siehe SHALOM Vol. XIX) geleitete Männerchor dazu bei, dass ein Gottesdienst für den Schabbat, für einen Festtag, aber insbesondere für Jom Kippur, eine geistige Erfahrung ist, die jeden Teilnehmer zutiefst beeindruckt.

Naftali Herstik hat nicht nur eine Tenorstimme, die sich mühelos auf jeder Opernbühne der Welt durchsetzen würde, er hat auch jenes "bestimmte Etwas", jenes Können, das bei jedem Gottesdienst eine Atmosphäre schafft, in der die Feierlichkeit und die Intensität der Gebete in einer Art Inbrunst vereinigt sind, welche das Heilige beinahe spürbar macht.

Als Sprössling einer Chazanim-Dynastie des 16. Jahrhunderts wurde Naftali Herstik 1947 in Ungarn geboren. Mit vier Jahren kommt er mit seinen Eltern nach Israel, um sich hier niederzulassen. Als Fünfjähriger singt er bereits mit dem Chor der Grossen Synagoge in Tel-Aviv. Als Jugendlicher dirigiert er denselben Chor, mit dem er Tourneen in den USA und in Kanada unternimmt. Mit 19 Jahren wird er zum Kantor in der Bilu-Synagoge in Tel-Aviv ernannt. Einige Monate später nimmt er den Posten des Chazans in den Grossen Synagogen von Akko (Hl. Johannes von Akkra) und dann von Haifa an.

Herstik studiert Musik an der Universität in Haifa, er lernt jedoch die echte "Chazanuth" bei seinem Vater und bei Heilman, Schlomo Ravitz und Blick in Israel, später auch mit Mosche Kussevitzky in New York und Benvenuto Finelli und Mark Raphael in London, wo er am "Royal College of Music" sein Lizentiat in Musik erhält. 1972 wird er zum Kantor an der Finchley Synagoge in London ernannt, wo er sieben Jahre lang bleibt, bevor in die Hechal Shlomo Synagoge in Jerusalem eintritt, in Erwartung der Eröffnung der Grossen Synagoge in Jerusalem. In einigen Zeilen haben wir hier ein dem Dienst an G'tt und der Musik gewidmetes Leben zusammengefasst.


Bevor Sie uns erklären, wie Sie Ihre Aufgabe verstehen, könnten Sie uns in einigen Worten von Ihrer Erfahrung in Akko berichten, welche trotz allem eine der letzten Ortschaften zu sein scheint, wo man einen Chazan Ihrer Bedeutung erwarten kann ?

Nach dem Sechs Tage Krieg reiste ich neben meiner Arbeit in Tel-Aviv und meinen Studien an der Jeschiwa regelmässig und auf Anfrage überall in Israel herum, um die Schabbat-Gottesdienste zu zelebrieren. Somit wurde ich bekannt und konnte mein Gehalt etwas aufbessern. Eines Tages wandte sich ein Bewohner aus Akko an mich, der an einem Schabbat ein Familienfest feiern wollte. Gleichzeitig suchte die Grosse Synagoge in Akko nach den ständigen Diensten eines Kantors. Damals waren 32 000 der 40 000 Einwohner von Akko Juden. Ich kam daher in diese grossartige Synagoge mit 1300 Plätzen und eroberte die Gläubigen, die mich sofort als einen der Ihren akzeptierten. Ich habe diese Gemeinde ebenfalls sofort gemocht. Einer der Verantwortlichen der Gemeinschaft, der daneben stellvertretender Bürgermeister von Akko war, wollte mich aber nicht engagieren, und zwar aus drei Gründen: erstens war ich gut und er fürchtete, dass nach meiner Zeit kein weiterer Chazan zufriedenstellend sein würde; zweitens war ich zu teuer, er hatte Angst, ich würde die Kasse der Gemeinschaft zu sehr belasten; und drittens wollte er mich nicht, weil ich nicht verheiratet war. Der Ausschuss wandte sich dann an den Rabbiner der Gemeinschaft, einen Chassiden aus Klausenburg, der mit folgenden Worten entschied: "Er ist erst neunzehneinhalb Jahre alt. Er wird sicher heiraten... In der Zwischenzeit kann er unser Kantor sein." So wurde dieser hohe Verantwortliche zum ersten Mal von seinem Rabbiner überhört... Ein Jahr später heiratete ich seine Tochter, dieser Herr ist also mein Schwiegervater geworden ! Ich bin drei Jahre lang in Akko geblieben, bevor ich nach Haifa gekommen bin.


Könnte man sagen, dass der grosse Durchbruch in Ihrer Karriere eigentlich während Ihrer Zeit in London erfolgt ist ?

Nicht ganz. Der Name Herstik wird seit vielen Jahren mit der Chazanuth in Verbindung gebracht. In Haifa erhielt ich Angebote aus der ganzen Welt. In London habe ich eigentlich einen gewichtigen Aspekt meiner Arbeit eher verbessert als erlernt, nämlich die Art, einen Gottesdienst mit Würde und Feierlichkeit zu führen. Hier muss ich unterstreichen, dass der Gründer der Grossen Synagoge in Jerusalem, Dr. Maurice Jaffe szl., dieser Frage ebenfalls eine grosse Bedeutung beimass. Meiner Ansicht nach hat dies auch mit der Tatsache zu tun, dass der aschkenasische Grossrabbiner Israels unsere Synagoge besucht.


Heute geben Sie Konzerte in der ganzen Welt. Werden Sie automatisch vom Chor der Grossen Synagoge in Jerusalem begleitet ?

In der Tat nehme ich an zwei Arten von Konzerten teil: jene, wo ich alleine, d.h. als "Star" mit einem lokalen Chor oder einem Klavierspieler singe, und jene, in welchen der Chor der Grossen Synagoge auf Tournee ist. Meine Konzerte bestehen vor allem aus liturgischer Musik, ich singe jedoch auch Volkslieder, Lieder in Jiddisch und Ladino, israelische Volksmusik sowie gelegentlich eine klassische Arie.


Haben Sie je an eine Opernkarriere gedacht?

Als ich in London war, sollte ich mit Placido Domingo arbeiten, ich habe dennoch beschlossen, aufgrund meiner Familienherkunft und der Berufung, die ich in mir verspürte, dem Vorhaben keine Folge zu geben. Bei den Herstik liegt die Chazanuth seit Generationen im Blut. Ausserdem habe ich das Glück, eine Frau zu haben, die sehr gut singt und die die Musik durch meine Karriere erlebt.


Die Gottesdienste der Grossen Synagoge in Jerusalem sind seit Jahren wegen der Gebete bekannt, die von Naftali Herstik... und seinen Söhnen vorgetragen werden. Werden Ihre Kinder Ihrer Ansicht nach Ihrem Weg folgen ?

Sie sind noch zu jung und es ist etwas früh, um darüber sprechen zu können, aber sie lieben die liturgische Musik und ich glaube nicht, dass sie sie ganz aufgeben werden. Ich habe weder ihre Stimme noch ihr Talent "vermarkten" wollen. Sie haben bereits mit mir in der Grossen Synagoge gesungen, aber ich habe Plattenaufnahmen mit mir immer abgelehnt.


Ein Gottesdienst in Ihrer Synagoge lässt keinen unberührt. Es kommt manchmal vor, dass der Gläubige etwas "unkonzentriert" ist, weil er die Töne, die "Nigunim" nicht immer erkennt, an die er gewöhnt ist oder die er aus seiner Kindheit kennt. Ist Ihnen dies schon vorgehalten worden ?

Eli Jaffe, unserer Orchesterdirigent, der den Chor leitet, Raymond Goldstein, Arrangeur, Komponist und stellvertretender Chorleiter, und ich arbeiten eng zusammen, um die traditionnell oder gewöhnlich gesungene Liturgie zu bewahren, aber auch um Neukreationen vorzustellen. Manchmal erlaube ich mir, klassische oder ausgewählte Stücke aus der jüdische Liturgie des 19. Jahrhunderts zu modernisieren, die etwas in Vergessenheit geraten sind. Am Anfang fiel es den Mitgliedern unserer Synagoge etwas schwer, sich an diese neue Art von Gesang zu gewöhnen und sie haben es mir sogar vorgehalten, aber sie haben sich sehr schnell daran gewöhnt und wollten die auf dieser Weise "angenommenen" Lieder nicht mehr aufgeben. Darüber hinaus bin ich absolut gegen die Einführung von Volksliedern oder von Musik aus dem "Music Hall" in die Liturgie oder in die Gottesdienste. König Salomon sagte, dass es eine Zeit und einen Ort für alles gibt, und diese Art Musik hat keinen Platz in der Synagoge, geschweige denn die Tatsache, dass diese nicht in einen Konzertsaal für den Chazan umgewandelt werden darf.

Vergessen wir nicht, dass es eine tiefe Verbindung zwischen der liturgischen Musik und dem wesentlichen Sinn des Gebetes geben muss, und dass die Musik im Dienste der Verschönerung der Interpretation der heiligen Texte stehen soll !


Denken Sie nicht, dass der Gottesdienst manchmal zu lange ist und dass manche liturgische Leistungen verkürzt werden sollten ?

Ich glaube nicht, dass man in Form eines an G'tt adressierten Telegramms beten kann. Zugleich darf der Gottesdienst nicht zu einem Gratiskonzert werden. Es gibt einen Mittelweg, der alle Anforderungen erfüllen kann, damit ein Gottesdienst schön wird: der "Nussach" (besonderer, mit dem Gebet verbundener Musikstil), die Liebe, ein genaues Verständnis des Textes und der Sprache, dessen völlig richtige und präzise Lektüre, die Aufrichtigkeit des Gebetes, ein Verhalten und eine Haltung, durch welche die Feierlichkeit des Ortes und des Zeitpunktes verstärkt werden, sowie eine grosse Würde, ohne dass die Gläubigen im Verlaufe des Gottesdienstes aber auf ihre Uhr schauen.


Sie empfangen in Ihrer Synagoge Juden aus der ganzen Welt, die alle an verschiedenartige liturgische Musikarten gewöhnt sind. Wie können Sie sie alle zufriedenstellen?

Wir haben einen Nussach, der unserer Synagoge angehört und an dem uns etwas liegt. Darüber hinaus versuche ich eine Basis von klassischer aschkenasischer Chazanuth zu erhalten und darin nach Möglichkeit und ohne Entartung des Gottesdienstes eines oder mehrere Stücke aus Zentraleuropa, Russland oder der Ukraine einzuschliessen. Übrigens merkt man bei genauem Anhören und der Analyse dieser Stücke, dass sie eine gemeinsame Basis haben, auch wenn sich die Ausführungsart gewaltig unterscheidet. Daher ist es die Vermischung der verschiedenen Stilrichtungen, die einen Gottesdienst schliesslich und endlich warmherzig und elegant macht, insbesondere aber die geistigen Bedürfnisse jeder Seele erfüllt. Ich kann Ihnen sagen, dass das keine leichte Aufgabe ist. Die Frage der Interpretation bleibt trotz allem vorrangig. Dieselbe, z.B. von Lewandowski geschriebene Melodie, kann entweder den Klang eines schrecklichen Militärmarsches oder den einer sanften und süssen, ja sogar engelhaften Musik haben. Letztendlich ist es eine Frage des Herzens und des Geistes. Ich weiss, dass ich Erfolg gehabt habe, wenn mir das Publikum folgt und mit dem Chor und mir mitzusingen beginnt. Elli Jaffe, Raymond Goldstein und mich selbst in einer gemeinsamen Tätigkeit und im selben Rahmen in Verbindung gebracht zu haben ist ein berufliches Privileg, dessen wahren Wert ich schätze und das seine Früchte trägt. Wir bilden ein wunderbares Team und verstehen einander bestens, seit nunmehr achtzehn Jahren !


Wie bereiten Sie den Nachwuchs vor ?

Ich leite eine Chazanuth-Schule mit ungefähr fünfzig Schülern und einige unserer Absolventen haben bereits einen Posten in verschiedenen Ländern erhalten.


Können Sie abschliessend sagen, dass Sie sich für eine wegweisende Synagoge in der Welt halten?

Ganz und gar. Wenn in einigen Synagogen eine Meinungsverschiedenheit bezüglich eines Nussachs auftaucht oder wie ein Gottesdienst zu leiten ist, weiss ich, dass die unmittelbar gestellte Frage lautet: "Wie wird das in der Grossen Synagoge zu Jerusalem gehandhabt ?" Als "Schaliach Tsibur" (Bote der Öffentlichkeit vor dem Ewigen) der Grossen Synagoge in Jerusalem, ich betone, in Jerusalem, habe ich eine Rolle zu spielen, die besonders schwer zu erfüllen ist... und glauben Sie mir, an Jom Kippur, verspüre ich sie ganz stark, wenn wir für die Heimat und den Frieden beten, und der Premierminister Israels und der Bürgermeister Jerusalems ihre Gebete mit den unsrigen beim von mir zelebrierten Gottesdienst vereinen.

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