News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Reportage Herbst 1999 - Tischri 5760

Editorial - Herbst 1999
    • Editorial

Rosch Haschanah 5760
    • Pflicht und Herausforderung

Politik
    • Die Hundert Tage Baraks

Interview
    • Gefahren und Verantwortung

Analyse
    • Einfach ausradieren ?
    • Jörg Haider - Ein Mann in Wartestellung

Kunst und Kultur
    • Die Schätze der Zeit
    • Dora Holzhandler
    • Versteigerung von Judaika
    • Koschere Kommunikation

Reportage
    • Vernichtung durch Sklavenarbeit
    • Juden in Österreich - Welche Zukunft ?
    • Das Jüdische Museum der Stadt Wien
    • Jerusalem und Wien

Zeugnis
    • Die Nazi-verbrechen

Junge Talente
    • Margalith

Porträt
    • Von Berlin Nach Hebron

Wirtschaft
    • Chefin

Ethik und Judentum
    • Ein Kind - Zu Welchem Preis ?

Artikel per E-mail senden...
Juden in Österreich - Welche Zukunft ?

Von Roland S. Süssmann
Jeden Abend werden in Wien 34’000 Theater- und Konzertkarten verkauft – 65% der Befehlshaber und kleinen SS-Chefs der Todeslager der Nazis waren Österreicher, obwohl die österreichische Bevölkerung nur 8% der Gesamtbevölkerung des Reichs ausmachte!
Diese beiden Tatsachen veranschaulichen wunderbar die Mentalität der Österreicher, die diesen Widerspruch mit vollkommener Gemütlichkeit und Gelassenheit hinnehmen. Auch heute, im Rahmen eines Kulturgeschehens ersten Ranges, in einem Wien, wo die schönsten Geschäfte an sauberen, von Obdachlosen und Bettlern geräumten Strassen liegen, schwelt unter der Oberfläche ein versteckter, jedoch deutlich spürbarer Antisemitismus. Das ganze Geschwätz von einem «neuen Österreich», das angeblich heute «seiner Vergangenheit in die Augen schaut», ist in Wahrheit nichts mehr als eine dünne Lackschicht, die von einem Tag auf den anderen abblättern kann. So werden die Fragen nach der Schuld Österreichs gegenüber dem jüdischen Volk und nach der Rückerstattung und Wiedergutmachung für gestohlene Güter mit sehr viel «Takt» behandelt, d.h. man rührt kaum mit den Fingerspitzen daran.
In dieser im grossen und ganzen recht heuchlerischen Atmosphäre lebt nun eine winzige jüdische Gemeinschaft, die auf ca. 10’000 Menschen geschätzt wird, von denen 7’350 als Mitglieder eingetragen sind. Die Gemeinde ist bemerkenswert gut organisiert, sie verfügt über bedeutende Institutionen, insbesondere über mehr als ein Dutzend Kultstätten (die liberale Bewegung ist selbstverständlich nicht Teil der Kultusgemeinde). Es existiert eigentlich nur eine einzige Dachorganisation, die unter der Bezeichnung «Israelitische Kultusgemeinde Wien» funktioniert; sie ist heterogen und widerspiegelt die Gegensätze, welche die jüdische Welt der Gegenwart spaltet. Die jüdische Bevölkerung Wiens setzt sich aus Menschen zusammen, die aus den ost- und westeuropäischen Ländern stammen, ausserdem kommen viele Juden aus den verschiedenen zentralasiatischen Republiken und es sind auch zahlreiche Israelis darunter. Die meisten Gruppen besitzen «ihre eigenen» rituellen Bäder, Talmudeï Torah, Kulturzentren und Synagogen. Der Vorstand besteht aus vierunzwanzig Mitgliedern, die nicht als Individuen gewählt werden, sondern aufgrund eigentlicher Parteien, da jede religiöse Gesellschaft oder Tendenz über eine Reihe von Sitzen verfügt, die von freiwilligen Mitarbeitern eingenommen werden.
Die Hauptsynagoge, der «Wiener Stadttempel», liegt «versteckt» im Innern eines für das Viertel typischen Häuserblocks und verdankt diesem Umstand die Tatsache, dass sie während der Reichskristallnacht im November 1938, in der über 90 Synagogen und jüdische Kultstätten angezündet wurden, nicht verbrannt ist. Sie wurde regelmässig renoviert, das letzte Mal im Jahr 1988. In Wien gibt es ausserdem vier jüdische Schulen, mehrere Talmudeï Torah, eine Jeschiwah, eine Rabbinerschule, eine Berufsschule sowie verschiedene Jugendbewegungen (vor allem Bne Akiva und Hachomer Hatsaïr). Die sozialen Dienstleistungen verfügen über eine erstaunlich effiziente Struktur und umfassen die herkömmliche Angebotspalette dieser Art von Organismen, darunter insbesondere medizinische Unterstützung, ein Altersheim, einen Klub für tägliche Aktivitäten usw. Wien besitzt wie jede Gemeinschaft mehrere Geschäfte für koschere Nahrungsmittel, hebräische Buchhandlungen, einen Sportklub und rund zwanzig allgemein übliche jüdische Organisationen, von denen zwei besonders ins Auge fallen: «der Philatelie-Club für israelische Wertzeichen» und «Amcha», der Ausschuss für psychosoziale Hilfe zugunsten von Schoah-Überlebenden. Im Moment ist das koschere Restaurant jedoch geschlossen.
Zusammen mit Zürich gilt Wien als die einzige Stadt der deutschsprachigen jüdischen Welt, die über eine derart fest verwurzelte Infrastruktur verfügt und wo alles wie dazu geschaffen scheint, um hier ein angenehmes und befriedigendes Leben als Jude zu führen. Die junge Generation strotzt vor Selbstvertrauen, sie ist kosmopolitisch, gebildet, teils traditionalistisch und dennoch eng mit ihrer österreichischen Umgebung verflochten, wobei einige von ihnen gar gläubiger sind als ihre Eltern. Es ist besonders interessant, die sehr unterschiedliche Einstellung der Juden gegenüber der österreichischen Bevölkerung zu beobachten. Einige sind der Ansicht, sie «wollten nicht beständig als Opfer definiert werden, sondern mit der Vergangenheit abschliessen», andere denken, dass «die Juden und die Österreicher einfach eine andere Geschichte besitzen, die einen als Gesellschaft der Opfer, die anderen als Gesellschaft der Schuldigen». Diese beiden Positionen entfachen eine weitreichende Diskussion, in der gegensätzliche Ansichten aufeinanderprallen. Als beispielsweise im Kino der Film «Schindlers Liste» gezeigt wurde, empörten sich einige angesichts der Tatsache, dass 60% der Zuschauer beim Mord eines Juden Beifall klatschten, während andere denken, der Antisemitismus in seiner radikalsten Form sei schliesslich deutlich im Rückgang begriffen und es bleibe nur eine Art latenter Antisemitismus übrig, mit der man sich abfinden müsse und die nichts Beängstigendes an sich habe. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten gibt es einen Punkt, über den sich ausnahmslos alle in der jüdischen Gemeinschaft einig sind, nämlich über die Frage der Rückerstattung der geraubten jüdischen Vermögenswerte und die Wiedergutmachung. Alle sind damit einverstanden, dass diese Frage mit Entschlossenheit und ohne Zugeständnisse ausgehandelt werden muss. Der erstaunliche Wahlerfolg der radikalen Rechten von Jörg Haider scheint die jüdische Gemeinschaft jedoch nicht übermässig zu beunruhigen, da man allgemein davon ausgeht, dass er im Rahmen der demokratischen Institutionen des Landes bekämpft werden muss. Einige glauben - zu Recht oder zu Unrecht - dass er den Ausländern im allgemeinen mehr schadet als der jüdischen Gemeinschaft im besonderen… (bewusstes Wegschauen oder Realitätssinn ?).
Zum besseren Verständnis des grundlegenden Geistes, der das jüdische Leben heute in Österreich beseelt, sind wir mit zusammengetroffen, seit 21 Jahren Grossrabbiner von Österreich, dessen Vater ab 1948 der erste österreichische Grossrabbiner nach der Schoah gewesen war.

Wie definieren Sie das jüdische Leben in Österreich ?

Ich denke, dass ein kleiner geschichtlicher Exkurs notwendig ist. Bis zum Ersten Weltkrieg war Wien die Hauptstadt einer grossen Monarchie und daher liessen sich zahlreiche Juden aus den osteuropäischen Ländern hier nieder. Das österreichische Judentum unterscheidet sich folglich von der jüdischen Bevölkerung Deutschlands durch die Tatsache, dass es sich zu jeder Zeit aus einem Nationalitätengemisch zusammensetzte. 1938 lebten in Österreich 200’000 Juden, davon 180’000 in Wien. Nach der Schoah blieben in Wien nur 1’000 Juden übrig, was jedoch nicht bedeutet, dass alle anderen in den Konzentrationslagern umgekommen sind. Man geht in der Regel davon aus, dass 65’000 österreichische Juden ermordet wurden, dass die anderen aber vertrieben wurden und aus zwei Gründen nicht zurückkehrten: die einen, weil sie es nicht wollten, die anderen, weil man ihnen deutlich zu verstehen gab, dass ihre Rückkehr nicht erwünscht war. Dazu kommt die Tatsache, dass zu jener Zeit die Frage der Entschädigung und Wiedergutmachung für die Diebstähle ein Tabu darstellte, so dass für die Überlebenden keine Möglichkeit bestand, ihr Hab und Gut wiederzuerlangen. Die jüdische Gemeinschaft von Wien setzte sich in der Nachkriegszeit aus Überlebenden der Lager zusammen, die jedoch vor 1938 nicht dort gelebt hatten. Heute besteht sie zum grössten Teil aus Juden, die aus den osteuropäischen Ländern stammen, was auch die vielzitierte Frage beantwortet: «Wie können Juden in einer derart antisemitischen Stadt leben ?». Die Erklärung ist eigentlich ganz einfach, denn einer grossen Zahl von Menschen, die sich hier niedergelassen haben, erscheint Wien wie die Rettung: sie flohen vor dem Kommunismus oder einer unverhohlen antisemitischen Umgebung. Trotz des Wissens, dass die österreichische Bevölkerung im allgemeinen den Juden gegenüber nicht sehr freundschaftlich eingestellt ist, empfinden sie nicht dasselbe wie ein ehemaliger Bewohner von Wien, der während des Zweiten Weltkriegs aus der Stadt flüchten musste. Die Integration erfolgt nach und nach, vor allem wenn die Kinder hier zur Welt kommen.

Es ist sicher alles andere als einfach, der Grossrabbiner einer so heterogenen Gemeinschaft zu sein, in der alle religiösen Tendenzen des Judentums in einer Art Mikrokosmos aufeinandertreffen. Darüber hinaus werden Sie bestimmt mit heiklen Fragen konfrontiert, wie beispielsweise derjenigen der Konversion (Bekehrung). Mit welcher Einstellung und in welcher Weise erfüllen Sie Ihre Aufgabe ?

Sie schneiden da in der Tat ein sehr prekäres Thema an. Zunächst muss ich betonen, dass ich zwar sehr offen und tolerant bin, jedoch als orthodoxer Rabbiner meine geistliche Würde im Rahmen der strengen Regeln der jüdischen Gesetze ausübe. Was die Bekehrungen anbetrifft, arbeite ich eng mit dem Rabbinat in Israel zusammen, und die Bekehrungen, welche diese Behörde gutheisst, werden anschliessend hier durchgeführt. Ich kann nicht alle akzeptieren, da das Gesetz zu diesen Fragen letztendlich sehr klar ist. Ich habe mich schon immer sehr darum bemüht, ein Gleichgewicht zwischen den Forderungen der jüdischen Gesetzgebung und denjenigen des modernen Lebens zu finden. Ich bin überzeugt, dass man ein orthodoxes Leben führen und gleichzeitig Lösungen für die bedeutenden Probleme suchen und finden kann, die unsere Epoche bewegen. In Wien begegne ich recht vielen Menschen, die sich zwar als Juden empfinden, jedoch nicht wünschen, dass ihre Beziehung zum Judentum über dieses Bewusstsein hinausreicht. Ich versuche, sie in ihren positiven Gefühlen gegenüber dem Judentum zu bestärken, was letztendlich mit der Zeit seine Früchte trägt. Zur Veranschaulichung meiner Worte werde ich Ihnen gestehen, dass ich zu dem Schluss gekommen bin, dass sich eine Gemeinde nicht geistlich führen lässt, wenn man beständig nur von der Religion spricht. Da Wien eine Stadt mit einer reichen Kultur ist, organisiert die jüdische Gemeinde vielfältige Aktivitäten jeder Art, oft in direkter Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum. Ich plane meinerseits pro Jahr drei oder vier Konzerte mit jüdischer Liturgie ein, an die ich in der Regel bekannte Vorsänger einlade und an denen ich auch selbst singe.


Wie sehen Ihre Beziehungen zur Kirche aus und wie steht es um die Position des Rabbinats zum politischen Antisemitismus in Österreich ?

Unsere Beziehungen zur Kirche sind gut, ihre Verantwortlichen versuchen übrigens, wie die meisten österreichischen Politiker, freundschaftliche Kontakte mit uns zu pflegen. Was den politischen Antisemitismus anbelangt, gibt es meiner Ansicht nach viele Antisemiten, aber nur wenig Antisemitismus. Ich denke, dass Jörg Haider, eine unsympathische und antidemokratische Figur, heute Österreich mehr schadet als den Juden. Offiziell hat er nie offen antisemitische Äusserungen von sich gegeben…



BEGEGNUNG MIT Dr. ARIEL MUZICANT
Wie wir gesehen haben, ist die jüdische Gemeinschaft gesamthaft unter einen einzigen «Hut» gebracht worden, wobei eine Konsistiorialbehörde alle jüdischen Bewegungen Österreichs zusammenfasst. Ihr Präsident, Dr. ARIEL MUZICANT, ein erfolgreicher Geschäftsmann, bezeichnet die Beziehungen zur nichtjüdischen Gemeinschaft als ausgezeichnet. Davon zeugt, dass sich anlässlich der 150-Jahr-Feier in Erinnerung an die offizielle Anerkennung der jüdischen Gemeinschaft Wiens durch Kaiser Franz Joseph I. das gesamte institutionelle Österreich, d.h. fast 800 Honoratioren (Kanzler, Minister, Parlamentarier, Richter, Bürgermeister usw.), unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik Österreich, Thomas Klestil, an den grossen Gala-Abend vom 20. Juni 1999 begeben haben. Die Frage der Vergangenheit ist natürlich immer noch nicht gelöst worden, wie die jüdische Gemeinschaft es sich gewünscht hätte, es würden jedoch auf allen Stufen, einschliesslich im Rahmen des Schulwesens, bedeutende und ehrliche Anstrengungen unternommen, damit sich diese Situation verbessert.


Glauben Sie, dass sich die Aufarbeitung der österreichischen Geschichte während der Schoah tatsächlich auf dem richtigen Weg befindet ?

Kein Präsident der jüdischen Gemeinschaft Österreichs, der wirklich ehrlich ist, kann sich mit den gegenwärtig unternommenen Schritten zur Bereinigung der historischen Wahrheit in Österreich und zur Durchführung einer Arbeit der Besinnung und der Aufarbeitung der Vergangenheit zufriedengeben, auch wenn ernsthafte Bemühungen existieren. Meiner Ansicht nach überwogen in der Vergangenheit die negativen Punkte, doch heute stehen wir vor einer einigermassen ausgeglichenen Situation. Es bleibt noch viel zu tun, und ich kann wirklich nicht behaupten, dass die Österreicher gegenwärtig auf die Strasse gehen, um sich reumütig und von Gewissensbissen gequält auf die Brust zu schlagen. Wir werden nämlich mit einer ernstzunehmenden Opposition aus dem rechtsextremen Lager von Jörg Haider konfrontiert, die neben der aktiven Behinderung, die sie verkörpert, auch weiterhin ein Stein des Anstosses ist. In allen Verhandlungen taucht bei unseren Gesprächspartnern früher oder später immer wieder die latente Frage auf: «was wird die extreme Rechte unternehmen ?». Dies hindert uns jedoch nicht daran, unsere Arbeit fortzusetzen.


Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinschaft ?

Im grossen und ganzen haben wir ein bemerkenswertes Gemeinschaftsleben, und ich mache mir um das jüdische Leben in Österreich an sich keine Sorgen. Meine grosse Befürchtung betrifft die demographische Entwicklung, weil unsere Gemeinschaft zu klein ist. Es wäre in meinen Augen notwendig, ungefähr 5’000 jüdische Familien davon zu überzeugen, sich hier niederzulassen.

Sie möchten die Juden auffordern, sich in Österreich niederzulassen ?

Ja, genau, um dadurch unserer Gemeinschaft eine Zukunft zu sichern. Heute wohnen 7’350 Juden in Österreich, und jedes Jahr verlassen ca. 150 von ihnen das Land. Die Bevölkerung der Gemeinschaft schwankt nur wenig, wir verzeichnen etwas mehr Geburten als Todesfälle. Warum sollten die Juden nicht nach Österreich ziehen, es ist ein wohlhabendes Land, das junge, qualifizierte Leute braucht, über eine hervorragende Gemeindeinfrastruktur verfügt und einen ausgezeichneten Lebensstandard bietet. Ich möchte an eine Tradition anknüpfen, die es während 200 Jahren den Juden aus allen osteuropäischen Ländern ermöglicht hat, sich in Wien niederzulassen. Warum sollte unsere Generation diese Gewohnheit nicht weiterführen, indem sie 20’000 Juden (!) hier aufnimmt ? Dieses Projekt liegt mir am Herzen und ich möchte die Verhandlungen mit den Behörden möglichst rasch aufnehmen, damit sie ihre Einwanderungspolitik abändern und wir auf diese Weise das Überleben und die Wohlfahrt der jüdischen Gemeinschaft in den kommenden Jahren gewährleisten können. Wenn mein Plan fehlschlägt, wird in zwanzig Jahren, denke ich, hier keine jüdische Gemeinschaft mehr bestehen. Es ist daher unsere Pflicht, das Weiterbestehen dieser Gemeinde abzusichern, und ich halte es nicht für unvernünftig, in den nächsten Jahren 5’000 jüdische Familien hier ansiedeln zu wollen. Es ist wichtig, eine Vision für die Zukunft zu besitzen. Vor zwanzig Jahren, als wir die jüdische Schule errichteten, machten sich alle über uns lustig. Heute werden die jüdischen Schulen Wiens von fast 600 Kindern besucht. Mein Plan verlangt also nach Weitsicht, Mut und etwas Glück. Als Juden glauben wir doch immer an Wunder !


Denken Sie, dass der österreichische Staat Ihr Projekt finanziell unterstützen sollte ?

Es ist eine Tatsache, dass 65’000 Juden ermordet und 120’000 vertrieben worden sind. Ich werde vorschlagen, dass der Staat sich an der Niederlassung von 20’000 Juden beteiligt. Ich denke nicht, dass mein Vorschlag eine Welle der Begeisterung auslösen wird, doch wir werden darüber verhandeln können. Wir befinden uns gegenwärtig zu Beginn eines gedanklichen Prozesses und haben noch nicht die Stufe erreicht, wo wir über genaue Zahlen verhandeln können. Ich muss jedoch sagen, dass alle österreichischen Politiker, mit denen ich gesprochen habe, Interesse bekundeten, und dass niemand die Idee schlichtweg ablehnte. Es leuchtet ein, dass die jüdische Gemeinde eine derartige finanzielle Belastung nicht übernehmen könnte, denn jede Familie müsste doch während des ersten Jahres finanziell unterstützt werden. Nach den ersten zwölf Monaten sollten sich alle organisiert, eine Arbeit gefunden haben… und Steuern zu zahlen beginnen. Im kommenden Oktober finden in Österreich Wahlen statt, und vom Wahlausgang, d.h. von der neuen Regierung wird das weitere Schicksal meines Projekts abhängen.

Es steht fest, dass die jüdische Bevölkerung Wiens durch ihren Elan und die Vielfalt ihrer Aktivitäten sehr viel zur Entwicklung und zum wirtschaftlichen Erfolg Österreichs beiträgt. Sie ist in sozusagen allen Sektoren der Wirtschaft und Kunst präsent. Ob die Idee, die Juden zur Niederlassung in Österreich zu ermutigen, wirklich gut ist… dies wird uns erst die Zukunft sagen.


DIE JUDEN ZENTRALASIENS
Eine der Besonderheiten der jüdischen Bevölkerung Wiens besteht darin, dass sie sich zu ca. einem Drittel, d.h. 2’000 Personen, aus Juden zusammensetzt, die aus Zentralasien stammen, aus Buchara und den Städten in Usbekistan, Tadschikistan, Kirghisistan und Georgien. Die meisten haben diese ehemaligen sowjetischen Republiken 1974 verlassen und sind nach Israel gezogen. Untereinander verständigen sie sich auf Russisch oder Hebräisch, jedoch auch auf Deutsch und in einem zentralasiatischen, nur von den Juden gesprochenen Dialekt, einem Gemisch aus Farsi und Hebräisch. Sie arbeiten im allgemeinen als Kleinwarenhändler und Handwerker, wenn es auch einige von ihnen es geschafft haben, grosse Unternehmen zu gründen.
Diese unter einer Dachorganisation, dem «Dachverband der Sefardischen Juden», zusammengefasste und von Bochor Alaev geleitete Gemeinschaft ist auch an die Israelitische Kultusgemeinde Wien angeschlossen. Ihre religiösen, kulturellen und auf die Gemeinde bezogenen Aktivitäten finden im sefardischen Zentrum statt, das zwei Synagogen - eine auf Buchara, eine auf Georgie ausgerichtet -, sowie einen Festsaal für diverse Zwecke umfasst. Diese Gemeinschaften stehen unter der Leitung von Rabbiner Jizchak Niazov. Aus wirtschaftlichen Gründen besuchen die meisten Kinder die Lubawitscher Schule, die weniger kostspielig ist als die anderen. Es ist eine recht junge Gemeinschaft, deren Mitglieder untereinander heiraten und dann im Schnitt drei Kinder haben. Im Hinblick auf den Bezug dieser Gemeinde zur Vergangenheit Österreichs, hat Bochor Alaev, der selbst aus Samarkand stammt und im Alter von 21 Jahren in Wien eingetroffen ist, uns gegenüber erklärt: «Wir haben nicht unter dem Nationalsozialismus gelitten und unsere Jugend fühlt sich daher von den Ereignissen in der österreichischen Vergangenheit nicht direkt betroffen. Wir leben hier, wie wir in Zentralasien lebten, wir fühlen uns als Österreicher… und als Juden».
In Europa existieren auch in anderen Städten einige kleine Gemeinschaften von Juden aus Zentralasien, beispielsweise in Hannover, Düsseldorf und Leipzig. Doch auch in den Städten von Buchara, Taschkent und Samarkand bleiben noch einige Juden, die nach und nach auswandern und nach Israel oder in die Vereinigten Staaten ziehen, da Österreich seit 1993 eine restriktive Einwanderungspolitik betreibt.


DIE ZWI PEREZ CHAJES SCHULE
Eine Erfolgsquote von hundert Prozent an den Maturitätsexamen, und dies seit vielen Jahren ! So könnte man die grösste jüdische Schule von Wien definieren (es gibt insgesamt vier Institute), die «Zwi Perez Chajes Schule», die täglich vom Kindergarten bis zur Maturaklasse von 318 Schülern besucht wird.
In Wien sind über 50% der schulpflichtigen jüdischen Kinder an einer jüdischen Schule eingeschrieben. An der Zwi Perez Chajes Schule ist Hebräisch die erste Fremdsprache, noch vor Englisch, und das Judentum und die jüdische Geschichte (mündliche Prüfung) sind obligatorische Maturfächer. (Wann wird dies in der Schweiz eingeführt ?) !
Die Schule trägt den Namen von Zwi Perez Chajes, der von 1918 bis zu seinem Tod 1927 Grossrabbiner von Wien war; er war ein aussergewöhnlicher Mensch, der seine Zeit durch seine Schriften und Taten geprägt hat. Erinnern wir daran, dass die österreichische Hauptstadt damals die zweitgrösste jüdische Gemeinschaft Europas besass.
Die Schule wurde 1979 gegründet und verkörpert das Erbe des Unterrichts des grossen Meisters aus dem 19. Jhd., Rabbiner Samson Rafael Hirsch aus Frankfurt, für den das Studium der Torah und die Errungenschaften der Moderne im Bereich der Wissenschaft und der Kultur sich sehr gut ergänzen. Die Schule bietet ihren Schülern somit eine umfassende und sich vervollständigende Bildung und Erziehung, da Männer und Frauen ausgebildet werden sollen, die morgen den Anforderungen des modernen Lebens gewachsen sind und über ein solides Wissen in bezug auf das Judentum verfügen, nicht nur in rein akademischer Hinsicht, sondern auch in den konkreten Aspekten des Alltags. Der Lehrplan wurde auf diesen Grundlagen aufgebaut, obwohl er auch den pädagogischen Ansprüchen des Staates direkt unterworfen ist. Die Schule steht zwar allen offen, doch die Schüler sind verpflichtet, sich gewissen Mindestregeln der religiösen Observanz zu unterwerfen. Die Knaben müssen in allen Unterrichtsstunden die Kippah tragen und da die Mahlzeiten von der Schule gestellt werden, ist es verboten, Nahrungsmittel von aussen mitzubringen, wobei Obst, Gemüse und nicht alkoholhaltige Getränke eine Ausnahme darstellen, welche die Regel bestätigen. Darüber hinaus müssen die Knaben dem morgendlichen Gottesdienst beiwohnen, der in einer herrlichen modernen Synagoge im 3. Stock des Schulgebäudes abgehalten wird. Die jüdischen Kurse (jüdische Geschichte, jüdische Philosophie usw.), der Torah- und der Hebräischunterricht machen pro Woche 10 Stunden aus. Alle Jugendlichen, deren Eltern Mitglieder der Gemeinschaft sind, werden an der Schule aufgenommen, den weniger Wohlhabenden steht ein Stipendiensystem zur Verfügung.
Eine der Besonderheiten der Schule besteht aus der Tatsache, dass zahlreiche Kinder, die sie besuchen, aus Einwandererfamilien stammen, die kein Wort Deutsch, sondern Russisch, Ungarisch, Polnisch usw. sprechen. Sie integrieren sich problemlos, da sie Hebräisch schon im Kindergarten lernen, später kommt Deutsch dazu. In gewissen Klassen sitzen bis zu 80% Einwandererkinder.
Die Schüler erhalten eine erstklassige Allgemeinbildung, in der auch Sport und Musik eine grosse Rolle spielen, sie werden aber auch in jüdischen Fächern unterrichtet, wobei dieser Unterricht bei weitem das rein theoretische Wissen und allgemeine Kenntnisse übersteigt. Die Jugendlichen bilden und die jüdische Identität nach dem Vorbild und der Lehre von Rabbi Samson Rafael Hirsch weitervermitteln, dies ist das Ziel der Zwi Perez Chajes Schule.

Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004